5 Anamnese und Befund
5.1 Aufbau des Anamnese- und Befundbogens
Im logopädischen Alltag gibt es mittlerweile eine Vielzahl von unterschiedlichen Diagnostik- und Screeninginstrumenten, mit denen die sprachlichen Kompetenzen des Kindes untersucht werden. Für das Störungsbild der Myofunktionellen Störungen stehen bisher nur Screeningbögen zur Verfügung, um zumeist die Mundfunktionen und Schluckfähigkeiten des Kindes zu untersuchen (Kahl-Nieke / Drescher 2008).
Um die Zusammenhänge zwischen den Symptomkomplexen 1 und 2 in der anschließenden Therapie wirkungsvoll verknüpfen zu können, bedarf es einer umfassenden Diagnostik, die sowohl die Symptome von Symptomkomplex 1 als auch von Symptomkomplex 2 erfasst. Der Anamnese- und Befundbogen (Abb. 9) besteht aus mehreren Teilen und ergibt, wie bei einem Puzzle, am Ende einen Überblick über die sensomotorischen Fähigkeiten des Kindes. Neben der klassischen Überprüfung der Mundfunktion (z. B. Lippen- und Zungenbewegungen) finden sich auch Beobachtungsitems aus der Sensorischen Integrationstherapie, die die Symptome aus dem Symptomkomplex 2 erfassen.
| Der Anamnese- und Befundbogen steht als Online-Zusatzmaterial zur Verfügung. |
Abb. 9: Anamnese- und Befundbogen bei Myofunktionellen Störungen
In dem Bogen sind die Anamnese sowie die Befunderhebung auf drei Blättern zusammengefasst. Die Symptomkomplexe 1 und 2 werden durch anamnestische Fragen und verschiedene Übungen / Beobachtungen erfragt und überprüft. Die Fragen an die Bezugspersonen sind dabei grau, die Beobachtungen des Therapeuten sowie die Übungen zur Überprüfung mit keiner Farbe unterlegt. Die anamnestischen Fragen beinhalten alle Themenbereiche, die einen Einblick in die sensorische, motorische und orofaziale Entwicklung des Kindes geben. Der Fragebogen umfasst zusätzlich auch Fragen, die in einem normalen logopädischen Anamnesegespräch gestellt werden, und kann daher auch für andere Störungsbilder (z. B. Sprachentwicklungsstörungen, Dyslalien) eingesetzt werden. Ein ausführliches Anamnesegespräch stellt ein wichtiges Fundament für die spätere Therapieplanung und -schwerpunktsetzung dar. Die Eltern können am besten einschätzen, welche Stärken und Schwächen ihr Kind im Alltag zeigt und wie es auf verschiedene sensorische Reize reagiert und diese verarbeiten kann. Zum Beispiel: Schaukelt es gerne auf dem Spielplatz (vestibuläre Informationen), wie reagiert es beim Eincremen (taktile und propriozeptive Informationen), hört es, wenn man es ruft (auditive Verarbeitung)? Hier können Informationen darüber erhoben werden, ob das Kind Reize sucht oder eher im Alltag vermeidet. Eine alleinige Testsituation und die unbekannte Umgebung im Therapieraum können das Kind in seinen Fähigkeiten hemmen und das Bild verzerren. Daher sollten die Beobachtungen / Ergebnisse mit den Eltern besprochen und ggf. einige Testitems zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt werden.
Die Fragen sind nicht ausformuliert und sollen offen gestellt werden (z. B. „Wie wurde Ihr Kind nach der Geburt ernährt?“). Es gibt verschiedene Antwortmöglichkeiten zum Ankreuzen, die aber auch entsprechend ergänzt werden können. Wichtig ist, die Antworten der Eltern nicht zu bewerten und offen / zugewandt das Gespräch zu führen. Zwischendurch und vor allem am Ende sollten die Eltern die Möglichkeit erhalten, Fragen zu stellen und ihre Wünsche und Ziele zu formulieren.
5.2 Befunderhebung der Symptomkomplexe
Bei der Befunderhebung des Symptomkomplexes 1 handelt es sich um die „klassischen“ Überprüfungen der mundmotorischen Fähigkeiten, sie werden in diesem Buch daher nicht genauer beschrieben. Damit der Therapeut die Auffälligkeiten in dem Symptomkomplex 2 richtig erfassen kann, werden im Folgenden die Durchführung einzelner Unterpunkte des Befundes beschrieben und mögliche Restreaktionen und Unsicherheiten aufgelistet. Die Durchführung erfolgt in Anlehnung an die gezielten Beobachtungen der Sensorischen Integrationstherapie nach Jean Ayres und INPP (Institut für Neuro-Physiologische Psychologie – Methode der neuromotorischen Entwicklungsförderung). Es hat sich gezeigt, dass die Dokumentation mit der Kamera sinnvoll ist, um im Anschluss genauer mögliche Unsicherheiten oder Restreaktionen beobachten bzw. den Eltern anhand von Videobeispielen Zusammenhänge erklären zu können. Achtung: Die Eltern müssen der Videoaufnahme vorher schriftlich zustimmen!
Der Untersucher gibt zunächst die verbale Anweisung zur Durchführung der einzelnen Items. Sollte das Kind nicht reagieren bzw. eine falsche Ausgangsstellung einnehmen, macht der Untersucher die Ausgangsstellung vor und bittet das Kind, ihm diese nachzumachen. Sollte auch dies nicht funktionieren, kann der Untersucher das Kind in die Ausgangsstellung bringen. Dies kann bereits Hinweise auf die Körperwahrnehmung des Kindes geben und sollte auf dem Befundbogen vermerkt werden.
Material: Zur Überprüfung des Symptomkomplexes 2 werden folgende Materialien benötigt:
feste Matte, darf nicht allzu sehr nachgeben
Seil, evtl. Kreppklebestreifen
evtl. Stoppuhr
Stift und Papier bzw. Befundbogen
Videokamera für eine genauere Dokumentation
5.2.1 Überprüfung der Reflexe
Moro-Reflex: allgemeine Beobachtungen im Therapieverlauf:
Das Kind zeigt eine erhöhte Sensibilität und Überreaktionen auf unerwartete plötzliche Reize (z. B. bei Gleichgewichtsverlust oder plötzlichem akustischen Signal).
Das Kind ist impulsiv oder zeigt unangemessenes Verhalten („Flight or Fight“).
Saug-Reflex: Der Untersucher streicht mit leichtem Druck am Philtrum (vertikale Rinne von der Nase bis zur Mitte der Oberlippe) von oben nach unten entlang.
Beobachtbare Restreaktionen:
Die Oberlippe schürzt sich.
Der Mund öffnet sich.
Abb. 10: Überprüfung Saugreflex
Such-Reflex: Der Untersucher streicht mit leichtem Druck rechts und links vom Nasenflügel zum Mundwinkel hinab. Anschließend streicht er mit leichtem Druck vom Kiefergelenk zum Mundwinkel entlang.
Beobachtbare Restreaktionen:
Das Kind bewegt leicht den Kopf zum Stimulus.
Der Mundwinkel zuckt, das Kind zeigt Missfallen.
Abb. 11: Überprüfung Suchreflex
Palmar-Reflex: Das Kind steht locker aufrecht. Es streckt eine Hand mit der Handfläche nach oben und angewinkeltem Arm. Die Füße stehen nebeneinander. Der Untersucher streicht vom Handballen entlang zu den Fingern hoch und vom kleinen Finger zum Daumen. Das Kind soll den Arm erst wieder locker nach unten hängen lassen, wenn der Untersucher dazu das Kommando gibt.
Beobachtbare Restreaktionen:
Die Finger zucken oder rollen sich ein, schon beim Bestreichen der Handinnenfläche.
Das Kind reibt die Hand (z. B. am Hosenbein) ab, es zeigt Missfallen, manchmal auch Minuten später.
Abb. 12: Überprüfung Palmar-Reflex
Plantar-Reflex: Das Kind liegt in Rückenlage auf einer Matte. Der Untersucher drückt mit Daumen oder gestrecktem Zeigefinger mit kräftigem Druck unterhalb des Fußballens.
Beobachtbare Restreaktionen:
Greiftendenz der Zehen, deutliches Krümmen der Zehen
Abb. 13: Überprüfung Plantar-Reflex
Tonischer Labyrinthreflex rückwärts/vorwärts (TLR r/v): Das Kind steht barfuß, die Augen sind geschlossen. Es soll den Kopf langsam nach hinten bewegen, dann nach vorn und jeweils 8 Sekunden halten. Dabei sollte es still stehen bleiben und sich möglichst nicht bewegen. Wiederholung: vier Mal im Wechsel zurück und vor.
Beobachtbare Restreaktionen:
Das Kind zeigt Ausgleichsbewegungen, einen sichtbaren Gleichgewichtsverlust.
Die Körperhaltung ändert sich durch Kopfbewegung.
Rückwärts: Der Körper geht in die Streckung. Es gibt eine Strecktendenz in den Händen und Beinen.
Vorwärts: Der Körper sackt zusammen bei der Kopfbewegung nach vorn. Ein Tonusverlust am Körper und an den Gliedmaßen ist erkennbar.
Asymmetrisch tonischer Nackenreflex (ATNR): Das Kind steht im Vierfüßlerstand. Die Arme sind dabei leicht gebeugt, die Hände liegen flach auf dem Boden, die Füße liegen flach auf, die Zehen sind nicht aufgestellt. Der Untersucher fordert das Kind auf, den Kopf nach links und nach rechts zu drehen (ggf. kann der Untersucher beim Kopfdrehen helfen oder mit dem Finger in die entsprechende Richtung schnipsen, oder er lässt das Kind in die gewünschte Richtung schauen).
Beobachtbare Restreaktionen:
Zittern / Einknicken des entgegengesetzten Ellenbogens
Rotation des Rumpfes
Unruhe des Kindes
Gleichgewichtsverlust
Abb. 14: Überprüfung Asymmetrisch tonischer Nackenreflex
Spinaler Galant-Reflex (SGR): Das Kind steht im Vierfüßlerstand. Der Untersucher streicht mit einem Finger oder Pinsel schnell auf der Haut vom mittleren Rücken hinab zur Kreuzbeinregion (ca. einen Daumen breit rechts und links entlang der Wirbelsäule).
...