Selbst eine Anhäufung von Risikobelastungen führt also nicht zwingend dazu, dass das Kind Entwicklungsauffälligkeiten zeigen wird. Daher liegt die Vermutung nahe, dass Schutzfaktoren in den Kinder selber bzw. der Umwelt bestehen, die das Auftreten von Entwicklungsauffälligkeiten minimieren können.
Diese Annahme speist sich insbesondere aus Forschungsergebnissen der sogenannten Kauai-Längsschnittstudie von Werner und Smith, die auf der Hawaii-Insel Kauai Kinder über 40 Jahre begleiteten und untersuchten, die 1955 geboren wurden. Obwohl bei ca. 30% der Kinder ein erhebliches Risikopotenzial bestand, entwickelte sich ein Drittel der Kinder zu leistungsfähigen und zuversichtlichen Erwachsenen[8]. Daraus wird gefolgert, dass bestimmte Eigenschaften der Kinder bzw. soziale Einflüsse im Umfeld protektive Kräfte bilden können, das Ergebnis dieser Faktoren nennt man „resiliency“ bzw. im Deutschen „Resilienz“.[9]
Resilienz wird demnach als Fähigkeit verstanden, erfolgreich mit Risikosituationen und negativen Folgen von Stress umzugehen. Der Begriff bezeichnet „eine psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken“[10]. Trotz widriger Lebensumstände zeichnen sich resiliente Kinder also durch psychische Gesundheit aus.
Für den Aufbau der Resilienz sind zwei Aspekte zu beachten. Zunächst einmal muss eine Risikosituation für die kindliche Entwicklung vorhanden sein, da ein positive Entwicklung nicht allein ein Zeichen für Resilienz sein kann. Um von dieser besonderen Widerstandsfähigkeit sprechen zu können, muss das Kind eine vorliegende Risikosituation erfolgreich bewältigt haben. Wichtig ist dabei der Vergleich zu anderen Kindern, die unter ähnlichen Belastungen leiden und im Unterschied zu resilienten Kindern in ihrer Entwicklung Beeinträchtigungen aufweisen. Erst wenn sich ein Kind im Vergleich dazu erstaunlich positiv entfaltet, spricht man von Resilienz[11].
Die Widerstandsfähigkeit ist dabei bestimmten Kindern nicht angeboren und „fehlt“ bei anderen Kindern, die Entwicklungsstörungen zeigen, sondern wird im Verlauf des Lebens durch einen Prozess zwischen Kind und Umwelt erworben. Weiterhin ist die Fähigkeit zu Resilienz nicht stabil und kann variieren, Resilienz ist weder eine lebenslange Fähigkeit bzw. „Immunität“, noch allgemein gültig – Kinder können in bestimmten Lebensbereichen bzw. situationsspezifisch resilient reagieren und in anderen nicht[12]. Beispielsweise können Kinder, die eine ständige Disharmonie in der Familie erleben, hinsichtlich der schulischen Leistungsfähigkeit resilient sein, in sozialen Kontakten oder Bindungen hingegen nicht.
Hervorzuheben ist ebenso, dass sich Resilienz nicht nur auf das Nicht-Vorhandensein psychischer Störungen bezieht, sondern auch auf den Erwerb bzw. Erhalt altersangemessener Fähigkeiten und Kompetenzen gerichtet ist. Von großer Bedeutung ist, dass altersspezifische Entwicklungsaufgaben, wie z. B. der Spracherwerb, gemeistert werden müssen, die die Basis für die Bewältigung späterer Risikosituationen darstellen[13].
Die Resilienzforschung konzentriert sich insgesamt auf die spezifischen Ressourcen und Stärken jedes Kindes, die individuelle Bewältigung von Risikoeinflüssen rückt in den Mittelpunkt – eine Sichtweise, bei der das Kind als aktiver Gestalter seines Lebens angesehen wird und die Eigenaktivität des Kindes von enormer Bedeutung ist[14]. Dabei werden die jeweiligen Risikolagen jedoch nicht verharmlost, auch weiterhin wird die Notwendigkeit anerkannt, den Kindern Hilfestellungen anzubieten, da viele Situationen auch von resilienten Kindern nicht allein gemeistert werden können[15].
Was aber kann die Kinder nun „stark“ machen? Welchen Faktoren erweisen sich als protektiv und was bezeichnet man überhaupt als Schutzfaktoren? Unter diesem Begriff werden „psychologische Merkmale oder Eigenschaften der sozialen Umwelt verstanden, welche die Auftretenswahrscheinlichkeit psychischer Störungen senken bzw. die Auftretenswahrscheinlichkeit eines positiven/gesunden Ergebnisses (z. B. soziale Kompetenz) erhöhen“[16]. Ihnen kommt eine besondere Bedeutung bei der Bewältigung von Risikobelastungen zu, da sie die negativen Einflüsse mildern bzw. ausgleichen können. Schützende Faktoren lassen sich basierend auf den Ergebnissen der Kauai-Studie auf drei unterschiedlichen Ebenen ausmachen, der Ebene des Kindes, der Familie sowie des sozialen Umfeldes. Alle drei Bereiche stehen in einem engen Zusammenhang und sind daher wechselseitig aufeinander zu beziehen.
Lebensbegünstigende Eigenschaften des Kindes
Resiliente Kinder zeichnen sich bereits durch positive Temperamentseigenschaften aus und werden oft als „aktiv“, „liebevoll“ und „gutmütig“ bezeichnet[17]. Die genannten Eigenschaften führen dazu, dass bei den Bezugspersonen deutlich positivere Reaktionen ausgelöst werden können, als bei nicht resilienten Kindern. Durch positive Rückmeldungen, wie Aufmerksamkeit und Wärme, können leichter Bindungen zwischen Bezugsperson und Kind hergestellt werden. Dies ist sehr bedeutsam für die Entwicklung des Kindes, da sicher gebundene Kinder häufig über gute Problemlösestrategien verfügen, sich besser konzentrieren können und insgesamt ausdauernder und aufgeschlossener sind. Bereits im Alter von sechs Jahren können Kinder mit einer sicheren Bindung ein realistisches Selbstbild sowie im weiteren Entwicklungsprozess ein generell positives Selbstkonzept und eine klare Identität aufweisen. Entscheidend ist außerdem, dass resiliente Kinder zwar über gut entwickelte Selbsthilfefähigkeiten verfügen, sich andererseits aber auch dadurch auszeichnen, dass sie um Hilfe bitten, wenn es ihnen notwendig erscheint[18].
Mit zunehmendem Alter zeigen widerstandsfähige Kinder insbesondere eine effektive Nutzung ihrer eigenen Ressourcen und Fähigkeiten und sind somit auch in der Schule erfolgreich. Weiterhin sind sie von ihrer Selbstwirksamkeit überzeugt, d.h. sie gehen davon aus, dass ihre Handlungen tatsächlich etwas bewirken und verändern können. Dadurch entwickeln die Kinder Zuversicht und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, was zu einer Steigerung der Selbstsicherheit sowie einer positiven Selbsteinschätzung bzw. einer optimistischen Lebenseinstellung führt[19]. Die schrittweise Übernahme von Verantwortung bzw. die Einbeziehung in Entscheidungsprozesse erweisen sich hierbei als sehr förderlich, da hierdurch Verantwortungsgefühl, Selbständigkeit und Ausdauervermögen vorangetrieben werden können. Ebenso erfahren die Kinder hierdurch Sinn und Struktur in ihrem Leben.
Ausgeprägte internale Kontrollüberzeugungen sind ebenso von großer Bedeutung. Die Kinder müssen an eigene Kontrollmöglichkeiten glauben und davon überzeugt sein, Dinge des eigenen Lebens beeinflussen zu können. Gleichzeitig müssen sie erkennen, wenn etwas von ihnen nicht zu steuern ist. So muss der Unterschied erkannt werden zwischen Problemen in der Schule, die man eventuell mit mehr Fleiß selbst beseitigen kann, und den Problemen und Streitigkeiten der Eltern, die das Kind selbst nicht regulieren kann[20].
Als weitere personale Ressourcen werden in der Forschung die Faktoren erstgeborenes Kind sowie weibliches Geschlecht (in der Kindheit)[21] und körperliche Gesundheitsressourcen, wie ein stabiles Immunsystem, gesunde Hygiene und körperliche Fitness, hervorgehoben[22].
Protektive Faktoren in der Familie
Als wichtigster Schutzfaktor innerhalb der Familie erweist sich für resiliente Kinder eine enge Bindung mit mindestens einer kompetenten Person. Die Beziehung zu dieser Bindungsperson sollte kontinuierlich, zuverlässig und warmherzig gestaltet sein, sodass das Kind Vertrauen aufbauen und das Bindungsmuster sichern kann. Das Interaktionsverhalten zwischen Kind und Bezugsperson sollte dabei von einem sensiblen Reagieren auf das Kind, echter Anteilnahme und Zuneigung, Anregung und Unterstützung sowie einer Wechselseitigkeit in der Interaktion gekennzeichnet sein. Generell hat sich ein eher autoritativer Erziehungsstil bewährt, d.h. dass das Erziehungsklima gegenüber dem Kind von Wertschätzung, Respekt und Akzeptanz geprägt sein sollte. Durch die Unterstützung und Anregung durch die Bezugsperson sowie eine emotional engagierte Haltung in der Erziehung wird das Kind befähigt, Grenzen zu akzeptieren, Verantwortung zu übernehmen, mit Erfolg und Misserfolg umgehen zu können sowie eigene Stärken und Schwächen wahrnehmen zu können. Das Kind kann somit Sicherheit, Entspannung und Zuversicht erfahren – gewissermaßen die wichtigsten Voraussetzungen dafür, um Resilienz gegenüber Risikobelastungen aufbauen zu können[23].
Neben diesen Faktoren können sich weiterhin ein guter...