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Um Leben und Tod

Ein Hirnchirurg erzählt vom Heilen, Hoffen und Scheitern - Ein SPIEGEL-Buch

AutorHenry Marsh
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783641153700
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Bekenntnisse eines Hirnchirurgen
Wie arbeitet ein Hirnchirurg? Wie fühlt es sich an, in das Organ zu schneiden, mit dem Menschen denken und träumen? Wie geht man damit um, wenn das Leben eines Patienten von der eigenen Heilkunst abhängt? Und wie, wenn man scheitert? Mehr noch als in anderen Bereichen der Medizin ist es in der Hirnchirurgie so gut wie unmöglich, nie einem Patienten zu schaden, denn Operationen am Innersten des Menschen sind immer mit unkalkulierbaren Risiken verbunden. Henry Marsh, einer der besten Neurochirurgen Großbritanniens, erzählt beeindruckend offen, selbstkritisch und humorvoll von den Ausnahmesituationen, die seinen Arbeitsalltag ausmachen. Seine Geschichten handeln vom Heilen und Helfen, vom Hoffen und Scheitern, von fatalen Fehlern und von der Schwierigkeit, die richtige Entscheidung zu treffen.

Henry Marsh ist einer der renommiertesten Hirnchirurgen Englands und arbeitet als Consultant Neurosurgeon am Atkinson Morley's / St. George's Hospital in London. Vor seinem Medizinstudium am Royal Free Hospital in London hat er Wirtschaft, Politik und Philosophie in Oxford studiert. Mit einer von ihm gegründeten Stiftung operiert Marsh häufig in der Ukraine, wo er sich Patienten widmet, die sonst ohne ärztliche Hilfe blieben. Über ihn und seine Arbeit sind zwei preisgekrönte TV-Dokumentationen gedreht worden. 2010 wurde ihm der britische Verdienstorden verliehen.

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Leseprobe

1

PINEOZYTOM

das, -s: ein seltener, langsam wachsender
Tumor der Zirbeldrüse

Häufig muss ich in das Gehirn hineinschneiden – etwas, was ich überhaupt nicht gern tue. Dazu veröde ich zunächst mithilfe einer elektrischen Koagulationspinzette die wunderschönen, fein verästelten roten Blutgefäße, die die glänzende Oberfläche des Gehirns überziehen. In diese Oberfläche schneide ich dann mit einem kleinen Skalpell ein Loch, durch das ich einen feinen Sauger hindurchschiebe: Da das Gehirn die Konsistenz von Wackelpudding hat, stellt der Sauger das wichtigste Werkzeug eines Hirnchirurgen dar. Ich blicke durch mein Operationsmikroskop, taste mich langsam durch die weiche weiße Substanz des Gehirns nach unten vor und halte dabei Ausschau nach dem Tumor. Die Vorstellung, dass mein Sauger sich in diesem Moment durch das Denken selbst, durch Gefühl und Vernunft, bewegt, die Vorstellung, dass Erinnerungen, Träume und Gedanken aus Wackelpudding sein sollen, ist schlicht zu merkwürdig, um nachvollziehbar zu sein. Alles, was ich vor mir sehe, ist Materie. Und dennoch weiß ich: Falls ich mich in die falschen Regionen verirre, die sogenannten eloquenten Hirnareale, wie Neurochirurgen sie nennen, werde ich, wenn ich nach der Operation den Aufwachraum betrete, um zu sehen, was ich vollbracht habe, einem schwer geschädigten und behinderten Patienten gegenüberstehen.

Gehirnchirurgie ist hochriskant, auch wenn die moderne Technik das Risiko bis zu einem gewissen Grad verringert hat. So kann ich inzwischen, wenn ich am Gehirn operiere, eine Art von Navigationssystem nutzen, die sogenannte Neuronavigation, bei der Infrarotkameras auf den Kopf des Patienten gerichtet sind wie Satelliten, die die Erde umkreisen. Mithilfe der kleinen reflektierenden Kugeln, die an ihnen befestigt sind, sind die Kameras imstande, die Instrumente, die ich in der Hand halte, zu »sehen«. Dank eines Computers, der an die Kameras angeschlossen ist, wird mir auf einem kurz vor der Operation angefertigten Hirnscan die Position meiner Instrumente im Gehirn des Patienten angezeigt. Zudem habe ich die Möglichkeit, den Patienten im wachen Zustand unter örtlicher Betäubung zu operieren und dabei das Gehirn mit einer Elektrode zu stimulieren, um auf diese Weise die eloquenten Hirnareale zu erkennen. Meine Anästhesistin stellt dem Patienten währenddessen leichte Aufgaben, sodass wir gleich merken, ob ich im Verlauf der Operation irgendwelche Schädigungen verursache. Wenn ich am Rückenmark operiere – das noch empfindlicher ist als das Gehirn –, kann ich eine Untersuchungsmethode namens »evozierte Potenziale« einsetzen, die ebenfalls auf elektrischer Simulation basiert und mich warnt, bevor ich eine Lähmung verursache.

Doch trotz dieser ganzen Technik ist die Gehirnchirurgie nach wie vor ein gefährliches Unterfangen, und Geschicklichkeit und Erfahrung sind noch immer unerlässlich, wenn ich meine Instrumente in das Gehirn oder das Rückenmark gleiten lasse. Vor allem muss ich wissen, wann ich aufhören muss. Oft ist es ohnehin besser, der Krankheit ihren natürlichen Lauf zu lassen und überhaupt nicht zu operieren. Und natürlich spielt auch der Zufall eine große Rolle. Man kann Glück oder Pech haben, und mit zunehmender Erfahrung scheint mir das Glück immer wichtiger zu werden.

An diesem Tag musste ich einen Eingriff an einem Patienten vornehmen, der an einem Tumor der Zirbeldrüse litt. Im siebzehnten Jahrhundert verortete der dualistische Philosoph Descartes, der die Auffassung vertrat, Verstand und Gehirn seien voneinander getrennte Entitäten, die menschliche Seele in der Zirbeldrüse. Ihm zufolge war dies der Ort, an dem das materielle Gehirn auf magische und mysteriöse Weise mit dem Verstand und der unsterblichen Seele kommuniziert. Ich weiß nicht, was er gesagt hätte, wenn er hätte sehen können, wie meine Patienten auf einem Videomonitor ihr eigenes Gehirn betrachten, was manche von ihnen tun, wenn sie unter Lokalanästhesie operiert werden.

Tumoren der Zirbeldrüse, sogenannte Pinealome, sind sehr selten. Sie können sowohl gutartig als auch bösartig sein: Die gutartigen müssen nicht unbedingt behandelt werden, die bösartigen können zwar mittels Strahlen- und Chemotherapie behandelt werden, sind aber dennoch potenziell tödlich. In der Vergangenheit wurden sie als inoperabel eingestuft, was inzwischen dank der modernen mikroskopischen Neurochirurgie nicht mehr der Fall ist. Inzwischen gilt eine Operation als angezeigt, zumindest um eine Biopsie durchzuführen und die Art des Tumors festzustellen, sodass man im Anschluss festlegen kann, wie der Patient am besten therapiert werden soll. Die Zirbeldrüse sitzt tief im Zentrum des Gehirns, weshalb der Eingriff, wie Chirurgen es ausdrücken würden, eine Herausforderung ist. Wenn Neurochirurgen Schnittbilder von Zirbeldrüsentumoren betrachten, tun sie dies mit einer Mischung aus Furcht und Erregung, ähnlich wie Bergsteiger, wenn sie den Blick auf einen hohen Berggipfel richten, den sie erklimmen wollen.

Dieser spezielle Patient konnte sich nur schwer damit abfinden, dass er an einer lebensbedrohlichen Krankheit litt und sein Leben nun außerhalb seiner Kontrolle lag. Er arbeitete als hochrangige Führungskraft in einem Unternehmen. Die Kopfschmerzen, von denen er nachts aufgewacht war, hatte er zunächst auf den Stress geschoben, denn es hatte ihn stark belastet, dass er infolge der Finanzkrise von 2008 gezwungen war, zahlreiche Angestellte zu entlassen. Wie sich herausstellte, litt er jedoch an einem Zirbeldrüsentumor sowie an akutem Hydrozephalus. Da die Geschwulst die normale Zirkulation der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit um das Gehirn behinderte, hatte die Flüssigkeitsansammlung zu einem Druckanstieg in seinem Kopf geführt. Ohne Behandlung würde er innerhalb von wenigen Wochen erblinden und sterben.

In den Tagen vor der Operation hatte ich zahlreiche Gespräche mit ihm geführt, bei denen er sich sehr besorgt gezeigt hatte. Ich erklärte ihm, dass die Operation zwar Risiken berge, unter anderem, einen schweren Schlaganfall zu erleiden oder zu sterben, dass diese jedoch letztlich geringer seien als die Risiken, falls man nicht operieren würde. Alles, was ich sagte, tippte er mühsam in sein Smartphone, als könnte er durch das Eintippen der langen Wörter – obstruktiver Hydrozephalus, endoskopische Ventrikulostomie, Pineozytom, Pineoblastom – auf irgendeine Weise die Kontrolle über sein Leben zurückerlangen und womöglich gerettet werden. Doch nicht nur er war nervös, auch ich sah dem Eingriff an ihm mit einem unguten Gefühl entgegen. Der Grund dafür war eine Operation, die ich in der Woche zuvor durchgeführt hatte und die vollkommen missglückt war.

Am Abend vor der Operation war ich noch einmal bei ihm gewesen. Wenn ich am Abend vor einem chirurgischen Eingriff mit meinen Patienten spreche, versuche ich immer, mich nicht allzu lange bei den Risiken der bevorstehenden Operation aufzuhalten, über die ich sie bereits zu einem früheren Zeitpunkt aufgeklärt habe. Stattdessen versuche ich, ihnen Mut zu machen und ihnen die Angst zu nehmen, auch wenn dies bedeutet, dass ich mich selbst stärker unter Druck setze. Es ist leichter, anspruchsvolle Operationen durchzuführen, wenn man dem Patienten zuvor erklärt hat, dass der Eingriff furchtbar gefährlich ist und mit hoher Wahrscheinlichkeit schiefgehen wird – denn dann ist das quälende Schuldgefühl, das man empfindet, wenn er tatsächlich misslingt, womöglich nicht ganz so stark.

Seine Frau saß neben ihm und wirkte äußerst verängstigt.

»Die Operation an sich ist unkompliziert«, erklärte ich mit vorgetäuschtem Optimismus, um die beiden zu beruhigen.

»Aber es könnte sein, dass der Tumor sich als bösartig herausstellt, oder?«, wollte sie wissen.

Etwas widerstrebend gab ich zu, dass das der Fall sein könne. Ich erläuterte, dass während der Operation ein Gefrierschnitt angefertigt werde – also eine Gewebeprobe, die sofort im Anschluss von einem Pathologen untersucht werde. Würde dieser feststellen, dass es sich nicht um eine Krebsgeschwulst handelt, würde ich nicht versuchen müssen, auch noch den letzten Rest des Tumors zu entfernen. Und wenn es ein sogenanntes Germinom wäre, müsste ich die Geschwulst überhaupt nicht entfernen und ihr Mann könnte stattdessen mit einer Strahlentherapie behandelt – und höchstwahrscheinlich geheilt – werden.

»Also ist die Operation sicher, wenn es kein Krebs ist oder wenn es sich um ein Germinom handelt«, sagte sie mit unsicherer, am Ende leiser werdender Stimme.

Ich antwortete nicht gleich, da ich sie nicht ängstigen wollte. Meine Worte mit Bedacht wählend, erwiderte ich: »Ja – wenn ich nicht versuchen muss, alles herauszubekommen, ist die Operation deutlich weniger riskant.«

Wir unterhielten uns noch kurz weiter, bevor ich ihnen Gute Nacht wünschte und nach Hause fuhr.

Früh am nächsten Morgen lag ich im Bett und dachte an die junge Frau, die ich in der Woche zuvor operiert hatte. Sie hatte einen Tumor im Rückenmark, zwischen dem sechsten und dem siebten Halswirbel, und war – auch wenn ich nicht weiß warum, da der Eingriff scheinbar komplikationslos verlaufen war – mit einer rechtsseitigen Lähmung aufgewacht. Wahrscheinlich hatte ich versucht, zu viel von der Tumormasse zu entfernen. Ich war wohl zu selbstsicher und zu sorglos gewesen. Diese nächste Operation, die Operation an dem Zirbeldrüsentumor, musste daher unbedingt gut verlaufen – ich sehnte mich nach einem Happy End, danach, dass alle glücklich weiterleben würden bis ans Ende ihrer Tage, damit ich selbst wieder mit mir ins Reine kommen...

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