Ameera oder die vertrockneten Tränen
Dies ist die traurige Geschichte einer gut fünfzigjährigen Frau, auf die das Nanny-Syndrom in absurder Eindeutigkeit zutrifft. Ameera stammt aus einem bereits in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts wohlhabenden Haus der Mittelschicht. Vieles, was sich in meinen Schilderungen wie die Zugehörigkeit zur Oberschicht anhören mag, ist für arabische Verhältnisse typische Mittelschicht. Im Vergleich zu Deutschland verfügt diese zwar nicht über mehr Bildung, aber über größere finanzielle Mittel. Der Maßstab beim Betrachten muss also entsprechend verschoben werden. Ein Beispiel für die Bizarrerien der Probleme bei der Behandlung einer Patientin der Oberschicht findet sich im achten Kapitel.
Wie ein roter Faden durchzieht die emotionale Abwesenheit der Eltern die Kindheit und Jugend von Ameera. Sie wurde nahezu ausschließlich von Personal großgezogen. So ist sie, auch wenn sie einer etwas älteren Generation entstammt, ein Paradebeispiel für das, wovon ich in diesem Kapitel spreche.
Ihr Fall zeigte mir im Scheitern vor dem Anspruch einer weitgehenden Heilung die Grenzen meiner Therapiemöglichkeiten und die meines Settings auf. Ich hätte ihr gerne mehr aus ihrem Elend herausgeholfen. Im Nachhinein muss ich konstatieren, dass Ameera einer hochfrequenten Psychotherapie bedurft hätte, die nur ein Therapeut vor Ort hätte anbieten können. Zu groß waren ihre frühen Schädigungen und Verlassenheitsgefühle. Zu groß waren in ihr auch die Stürme der unverarbeiteten Erinnerungen. Sie konnte zu mir das Beziehungsgefühl nicht lang genug halten, um ersatzweise Sicherheit und Halt in unserer therapeutischen Beziehung zu finden. Die Strecken zwischen den Sitzungen waren einfach zu lang. Dadurch fühlte sie sich auch von mir verlassen. Die ins Bewusstsein drängenden Gefühle ängstigten sie so sehr, dass sie immer wieder den Weg in die Betäubung durch Psychopharmaka wählte. Dies war ihr angelerntes Verhalten, das sie sich ein Leben lang zur Sicherheit antrainiert hatte.
Eine Psychoanalyse als angemessenste Behandlungsmethode stand und steht vor Ort nicht zur Verfügung, sodass der Einwand der falschen Methodenwahl ein theoretischer bleiben muss. Ameera hätte, den Aufwand, den eine Psychoanalyse mit sich gebracht hätte mit größter Wahrscheinlichkeit auch nicht geleistet. Zu groß war und ist ihr Bedürfnis nach Ruhe und In-Ruhe-gelassen-Werden. Sie hatte ihre Lebensenergie schon ausgegeben. Der Rest wurde wie bei einer Frührentnerin ohne weitere Interessen vertändelt. Ich musste lernen, mit dem unzureichenden Resultat zu leben.
Ich bin Ameera zu Dank verpflichtet, ist sie doch meine »Patientin Null«. Das Erstgespräch fand in Hamburg statt. Einem orthopädischen Kollegen war angesichts des hohen Benzodiazepin-Missbrauchs mulmig geworden, und er bat um ein Konsil. Im Kollegenkreis war ich für meine Neigung zur Behandlung von Patienten aus dem Nahen Osten bekannt. So fand Ameera zu mir und mit ihr der Ausgangspunkt der Geschichte meiner Tätigkeit im Nahen Osten. Schon nach wenigen Gesprächen lud sie mich nach Bahrain ein. Dort gebe es viel für mich zu tun. Alles Nötige würde durch Freunde zur Verfügung gestellt. Und sie brauchte dann auch nicht mehr nach Hamburg kommen, fügte sie spitzbübisch hinzu. Dies ist jetzt zehn Jahre her, und ein bisschen muss ich immer noch über meine Chuzpe und Abenteuerlust grinsen. Sie wurden mit so vielen wunderbaren Erfahrungen belohnt.
Beim ersten Mal war mir angst und bange, weil ich überhaupt nicht wissen konnte, was mich erwartete. Ich hatte nur das Vertrauen, dass Ameera keine Schaumschlägerin war, sondern eine realistische Geschäftsfrau. Der Überschreitung der in Deutschland üblichen Abstinenzgrenzen, die definieren, wie weit ein persönlicher Kontakt zum Patienten gehen darf, war ich mir sehr bewusst. Ohne diese Lockerung war das Ganze aber nicht durchführbar. Da keine Seite dadurch einen offensichtlichen Schaden erleiden würde, ließ ich meine Bedenken hinter mir und gab meinem Übermut den Vortritt. Frei nach Nietzsche sagte ich mir, dass die Güte einer Regel sich dadurch bewährt, dass sie eine Ausnahme verträgt. Bis heute kann ich keinen Schaden erkennen, der durch die Verletzung professionstypischer Abstinenzgebote entstanden sein sollte. Ameera war froh, mir diese Möglichkeit als ihren Lohn zukommen lassen zu können. In dieser Rolle fühlte sie sich ganz erwachsen, angstfrei und kompetent.
Durch Ameera wurde mir Einblick in die arabischen Seelen gewährt. Ihr Vertrauen in mich war der Ausgangspunkt alles Weiteren.
Zwei Jahre vor unserer ersten Begegnung hatte Ameera ihr Geschäft aufgegeben. Wie viele Araber Anfang fünfzig hatte sie genug vom Arbeitsleben und wollte sich ins Private zurückziehen. Wenn sie gewusst hätte, wie sehr ihre Angstsymptomatik durch die dann eintretende Leere zum Ausbruch kommen würde, hätte sie wohl bis zum Lebensende weiter geschuftet. Auch während ihrer Berufstätigkeit nahm sie Unmengen von Schlaftabletten, um den anstrengenden Lebensstil als Geschäftsfrau durchzustehen. Sie war eine schillernde Gestalt in der Gesellschaft. Sie produzierte jede Menge »Klebe«. An ihr blieben die Zeitgenossinnen im Gegensatz zu denen, die davon nichts oder nur wenig von Natur aus haben, mühelos hängen. Ihre Boutique brachte zum ersten Mal die großen italienischen Modemarken an den Golf. Ameera ging auf Einkaufstour nach Italien, und am Golf riss man ihr die Klamotten aus den Händen, so groß war der Bedarf nach westlichen Top-Labels und dem damit verbundenen Prestige. Dieses Geschäftsmodell funktionierte über viele Jahre, aber nach und nach eröffneten die Marken in den entstehenden Malls ihre eigenen Läden.
Ameera war also für viele Frauen der Mittel- und Oberschicht in ihrer Gier nach Markenware aus Italien ein wichtiger Ansprechpartner. So entstand die hervorragende Vernetzung von Ameera. Sie kannte und kennt jeden und jede auf der Insel. Wenn man die komplizierten verwandtschaftlichen Verhältnisse erläutert bekommen möchte, braucht man sie nur zu fragen. Sie wird alles über Generationen zurück erläutern können. Sie hat die Genealogie der Insel in ihrem Kopf. Dieser Schatz an Namen und Adressen wurde ein Stück weit die Grundlage meiner Tätigkeit am Golf. Ameera hörte nicht auf, in den Kreisen ihrer früheren Kundschaft über mich zu reden. So entstand ein steter Zufluss von Patienten, die den Arzt aus Hamburg konsultieren wollten. So steckt ein bisschen Prada-Schickimicki dadurch wohl unvermeidbar in diesem Teil meiner Tätigkeit.
Ihr Tablettenkonsum war beängstigend, Ausdruck einer Suchtentwicklung zum einen, überwältigender Panikattacken zum anderen. Alle zwei Stunden musste sie eine Tablette des der Gruppe der Benzodiazepine zugehörigen Beruhigungsmittels Xanax, in Deutschland früher als Tafil im Handel, einschmeißen, um mit dem Leben zurechtzukommen. Bei der Beschreibung ihrer Panikzustände zeigte sie immer wie ein kleines Kind auf ihre Leibesmitte. Dort säßen die »butterflies« (!) und quälten sie. Mit ausgehender Pubertät habe dies alles begonnen. Seit 24 Jahren nehme sie jetzt Schlaftabletten. Selbst ihre Hochzeit habe sie nur auf Valium durchstehen können. In ihrem psychopharmakologischen Waffenarsenal fand sich alles, was gut und teuer ist. Behandlungsversuche mit Antidepressiva und Neuroleptika hatten keine wesentliche Veränderung gezeitigt. Ein Absetzversuch der Beruhigungsmittel war jämmerlich gescheitert. Sie habe sich danach nur noch zitternd in ihrem Bett eingerollt.
Ihre familiären Verhältnisse schienen unauffällig. Ameera war Mutter von drei Kindern und zweifache Großmutter. Bei Befragung der Tochter war zu erfahren, dass sie sich wenig um die Aufzucht und Bildung ihrer Kinder gekümmert hatte. Sie war immer froh gewesen, nach Italien wegfliegen zu können. Oberflächlich schienen dennoch alle Kinder einigermaßen geraten zu sein.
Seit der Kindheit seien ihre Tränen vertrocknet. Nur einmal, beim Tod des Vaters und der geliebten Tante habe sie kurz weinen können, danach nie wieder. Auch andere Gefühle seien versickert. So falle es ihr schwer, auf irgendjemand wütend zu sein. Sie sei die Älteste von sieben Geschwistern, das erklärte Lieblingskind des Vaters. Ihre Probleme seien explodiert, als sie habe feststellen müssen, dass entgegen seinen Versprechungen alle Geschwister beim Erbe gleich bedacht worden waren. Sie sei zu Tode enttäuscht gewesen. Sie habe aber gelernt, zu allem zu schweigen. Den Kontakt zu den Schwestern habe sie damals abgebrochen, zu groß sei ihre Kränkung gewesen. Ameera wunderte sich über die Art meiner Fragen. Solche seien ihr noch nie gestellt worden.
Die folgenden Sitzungen waren der Klärung ihrer psychosozialen Vorgeschichte gewidmet, ihren aktuellen und früheren Beziehungen. In ihren Worten schwang eine Verachtung für den aus einfacheren Verhältnissen stammenden Ehemann mit. Solange sie Geld gehabt habe, habe sie ihren Kindern immer etwas zustecken können. Dadurch habe sie sich ihm überlegen gefühlt. Jetzt sei sie vollständig von ihm abhängig, und er lasse sie das auch spüren. Er sei wie ein Clown, sie habe die Liebe und den Respekt vor ihm verloren, könne ihn nicht mehr küssen. Das sei zu viel Nähe. Sie lebte in einer empfundenen Abhängigkeit, machte aber keine Anstrengungen, diese zu überwinden. Als wenn sie ihr Leben schon losgelassen, als wenn sie es schon überantwortet hätte, viel zu früh für eine Frau in der Mitte der Fünfziger. Ihre Erzählung war denen meiner Hamburger Patientinnen in vergleichbarer Situation sehr ähnlich.
Langsam kamen auch die schwierigen Teile der Biografie zum Vorschein. Der idealisierte Vater habe viele Affären gehabt, auch mit ihrer Nanny. Sie habe sehr früh davon gewusst, dies aber immer für sich behalten und Mitleid mit...