1 Einleitung
In unseren ersten beiden Büchern zur Imagery Rescripting & Reprocessing Therapy (IRRT) betonten wir bereits die Bedeutung und das große psychotherapeutische Potenzial der dritten IRRT-Phase und der Arbeit mit dem inneren Kind. Wir sprachen zunächst noch vom Kind2 oder Kind-Ich (Schmucker & Köster 2019, Köster & Schmucker 2016). Aber uns wurde auch durch viele Hinweise aus Therapeutenkreisen deutlich, dass es einer umfassenderen Darstellung bedurfte, in der noch viel ausführlicher auf die Besonderheiten der dritten IRRT-Phase eingegangen wird. Im vorliegenden Buch haben wir diesen Versuch unternommen.
Wir widmen uns in diesem ersten Kapitel zunächst der Rolle der Inneren-Kind-Arbeit in der Psychotherapiegeschichte. Im zweiten Kapitel folgt eine zusammenfassende Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der IRRT in den letzten drei Jahrzehnten unter besonderer Berücksichtigung der Arbeit mit dem inneren Kind. Anschließend beschreiben wir im dritten Kapitel die Durchführung der klassischen dreiphasigen IRRT, um auch denjenigen Lesern die nötigen Grundlagen zum Verständnis der therapeutischen Technik zu vermitteln, die sich noch nicht mit der IRRT befasst haben. Das vierte Kapitel ist dem Konzept des inneren Kindes in der IRRT gewidmet, da sich dieses von anderen heute üblichen Konzepten der Inneren-Kind-Arbeit in verschiedenen Aspekten unterscheidet, bevor dann im fünften Kapitel auf die Grundlagen und Prinzipien und im sechsten Kapitel auf die genaue »Technik«, d. h. auf die konkrete Durchführung der reinen Phase-3-Arbeit in der IRRT, eingegangen wird. Im Kapitel sieben werden die unterschiedlichen Verläufe einer IRRT-Phase-3-Sitzung beschrieben. Dabei wird das ganze Spektrum von positiven Interaktionen zwischen aktuellem Ich und Kind (z. B. Empathie, Versöhnung) bis zu negativen Varianten (z. B. Empathieblockaden, Vermeidung, Hass) sowie der therapeutische Umgang damit dargestellt.
Den Abschluss und auch den größten Umfang dieses Buches bilden wieder konkrete Fallbeispiele mit ausführlichen Sitzungstranskripten im achten Kapitel. Dieses Konzept hat sich in unseren bisherigen Büchern zur IRRT sehr bewährt, weil sich die Umsetzung der Theorie in die psychotherapeutische Praxis oft schwieriger gestaltet als zunächst gedacht. Diese Transkripte liefern vielfältiges und umfassendes Anschauungsmaterial für Psychotherapeuten, die sich der IRRT widmen möchten. Für interessierte, gebildete Laien eröffnet sich in den Falldarstellungen anschaulich eine reiche Welt berührender psychotherapeutischer Prozesse, und es kann im Nachvollziehen dieser Abläufe ein tieferes allgemeines Verständnis für das seelische Empfinden und Verhalten des Menschen entstehen.
Im Anhang A ist der Post-Imaginationsfragebogen nach IRRT-Phase-3-Sitzungen abgedruckt, Anhang B stellt eine Auflistung typischer Vermeidungshaltungen von Psychotherapeuten dar. Im Anhang C stellen wir wieder IRRT-Merkkarten zur Verfügung, die den Therapeuten vor allem am Anfang eine Hilfe sein können.
Wenn wir in diesem Buch auf das Verhältnis des Menschen zu seinem inneren Kind und damit zu sich selbst fokussieren, möchten wir nicht in dem Sinn missverstanden werden, dass es in der Psychotherapie darum gehe, lediglich das Verhältnis zu sich selbst zu klären, womit dann die wesentlichen Probleme gelöst seien. Es geht nicht darum, eine selbstversunkene, narzisstische Omphaloskopie (Nabelschau) zu betreiben, sondern es geht selbstverständlich auch um das Verhältnis des Menschen zu seiner belebten und nicht belebten Umwelt, in erster Linie zu seinen Mitmenschen. Mit der Bearbeitung der Beziehung des Individuums zu sich selbst steht ein therapeutischer Ansatz zur Verfügung, der die Bearbeitung der Beziehung des Einzelnen zum Mitmenschen und zur Welt erheblich erleichtern kann. Eine gute Selbstanbindung erleichtert eine Anbindung an die Welt.
1.1 Die Geburt des inneren Kindes in der Psychotherapiegeschichte
Etwa seit den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts erfreut sich der Begriff »inneres Kind« zunehmender Beliebtheit und Popularität. Der erste moderne Autor dieser Bewegung war John Bradshaw (Das Kind in uns, 1992), der sich vor allem auch als eine Art charismatischer Fernsehprediger in den USA hervortat. Er beschrieb seine Beobachtungen als Familientherapeut, der seine Klienten in Workshops seit 1983 dazu anhielt, mit ihrem inneren Kind in Kontakt zu treten. Seine zusammengefassten Erfahrungen formuliert er folgendermaßen:
Seitdem ist meine Faszination für die heilende Kraft des Kindes in uns immer größer geworden. Drei Dinge fallen bei der Arbeit mit dem inneren Kind besonders auf: die Schnelligkeit, mit der die Leute sich verändern, wenn sie diese Arbeit tun; wie tief greifend diese Veränderung ist und welche Kraft und Kreativität freigesetzt werden, wenn die Wunden der Vergangenheit geheilt sind.(Bradshaw 1992, S. 11)
Diesem Eindruck können wir uns als IRRT-Therapeuten, die sich ebenfalls seit vielen Jahren der Arbeit mit dem inneren Kind widmen, anschließen. Es ist eigentlich merkwürdig, dass die Kraft und Intensität dieser Art der psychotherapeutischen Arbeit erst so spät erkannt wurden, obwohl sie ja keine wirkliche Neuschöpfung darstellt, sondern eigentlich nur einen inneren Prozess abbildet, der in den Menschen bereits angelegt zu sein scheint.
Bereits fünfundzwanzig Jahre vor Bradshaw hatte der amerikanische Psychiater Hugh Missildine den Begriff Your inner child of the past geprägt (Missildine 1963). Er beließ es in seinem Buch neben Erziehungsratschlägen und ausführlichen Darstellungen verschiedener Charakterprobleme als Folgen erzieherischer Fehlhaltungen aber dabei, an die Anstrengung des Lesers zu appellieren, die Gefühle des inneren Kindes wahrzunehmen, zu respektieren und zu akzeptieren, ohne genauer zu entwickeln, wie dieser Prozess vonstattengehen könnte. Das Buch war vorübergehend ein Bestseller und wurde sogar auf Deutsch übersetzt und liegt seit Kurzem auch als E-Book vor.
1.1.1 Das innere Kind in der Ratgeberliteratur
In der breiteren Öffentlichkeit machte sich die Innere-Kind-Arbeit zunächst vor allem in der populärwissenschaftlichen und Ratgeber-Literatur bemerkbar. Im Selbsthilfebereich sind (auf Deutsch, z. T. Übersetzungen) z. B. zu erwähnen: Erika Chopich und Margaret Paul: Aussöhnung mit dem inneren Kind (1990), immer noch ein Bestseller; Gabriela Bunz-Schlösser: Hand in Hand mit dem inneren Kind (2003); Thich Nhat Hanh: Versöhnung mit dem inneren Kind (2011); Stefanie Stahl: Das Kind in dir muss Heimat finden (2015), ein aktueller Bestseller bei den Ratgeberbüchern. Das Übereinstimmende bei all diesen Lebenshilfe-Büchern besteht in den vielfältigen, durchaus kreativen Ratschlägen an die Leser, wie sie sich ihrem inneren Kind zuwenden sollen, was sie ihm alles an Gutem zukommen lassen sollen und was ihnen dieses Vorgehen dann an Zuwachs von Wohlgefühl, Lebensfreude und innerer Stabilität verspricht.
Ein allgemeiner Konsens besteht in der Erkenntnis, dass das innere Kind zwei Seiten hat: eine negative (Leiden, Schmerzen, Einsamkeit, Verlassenheit, Wut, Bedrohlichkeit) und eine positive (Kreativität, Glück, Liebe, Geborgenheit). Stahl (2015) spricht von einem Schattenkind und einem Sonnenkind. Grundsätzlich kann postuliert werden, dass Menschen, deren inneres Kind von ihnen abgetrennt ist, die keine Verbindung zu ihm etablieren können, weniger glücklich und ausgeglichen sind als Menschen, die eine innige Beziehung zu ihrem inneren Kind haben und diesem Zuwendung, Interesse und Empathie entgegenbringen können.
Allerdings stellen sich spätestens dann erste Zweifel an diesem »Hype« ein, wenn man bemerkt, dass die Ausbreitung des »inneren Kindes« fast inflationär zu beobachten ist, mehr den Gesetzen des Marktes als denen der Vernunft unterworfen zu sein scheint und die verschiedenen Ratgeber im Inhalt doch sehr redundant scheinen. Eine kurze Recherche bei Amazon.de (September 2018) mit dem Stichwort Inneres Kind liefert nur schon in den Titeln der Bücher und CDs die folgenden Vorschläge und Anweisungen, wie man sich seinem inneren...