2 Gesetzliche Unfallversicherung (S. 7-8)
2.1 Allgemeines
2.1.1 Ordnungsprinzipien
Bismarck legte bereits vor über 110 Jahren den Grundstein für das Sondersystem der gesetzlichen Unfallversicherung. Heute noch existieren rund sechzig Unfallversicherungsträger (UV-Träger), die sich an den ursprünglichen Prinzipien orientieren. Das Recht der sozialen Sicherung in anderen Ländern Europas und der Welt enthalten gleiche oder verwandte Elemente.
Es gehört zu den klassischen Ideen Bismarcks, dass der Staat die Arbeitgeber über ein Gesetz (deswegen: gesetzliche Unfallversicherung) zwingt, das Risiko der Arbeitnehmer, durch Arbeitsunfälle und durch Berufskrankheiten ihre lebenswichtige Arbeitskraft nicht mehr einsetzen zu können, finanziell abzusichern. Dieses Schutzes durch eine zahlungskräftige Versicherungsinstanz bedurften die Arbeitnehmer auch schon deswegen, weil sie ihre Schadensersatzansprüche aus dem Arbeitsverhältnis gegenüber dem einzelnen Unternehmen oft nicht durchsetzen konnten. Die gesetzliche Versicherung gegen Arbeitsunfälle – und später gegen Berufskrankheiten – löst die arbeitsrechtliche Haftpflicht des Unternehmers ab. Der einzelne Arbeitgeber wird von Ansprüchen seiner Mitarbeiter freigestellt, wenn es zu einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit kommt. Die Ansprüche des Arbeitnehmers richten sich in diesen Fällen nicht gegen seinen Arbeitgeber, belasten also nicht das Arbeitsverhältnis, sondern werden von den UV-Trägern geprüft und entschieden. Heute sind nicht nur die über 40 Millionen Arbeitnehmer der gewerblichen Wirtschaft gegen die Risiken am Arbeitsplatz versichert. Die Risiken der Kinder in Kindergärten und Schulen und der Studenten, durch einen Unfall in der Verwertung der späteren Arbeitskraft beeinträchtigt zu werden, hielt der Staat für so gewichtig, eine gesetzliche Unfallversicherung auch für sie einzuführen (unechte Unfallversicherung) und sie den Unfallkassen zu übertragen. Hinzu kamen im Verlaufe der Jahrzehnte die Einbeziehung weiterer geschützter Personen in die gesetzliche Unfallversicherung, wie etwa die Nothelfer eines Unfallopfers im Straßenverkehr, womit der Staat Anreize für soziales Verhalten der Bürger schaffen wollte.
Jeder Arbeitgeber, und im Falle der unechten Unfallversicherung der Staat über Steuermittel, finanziert die gesetzliche Unfallversicherung durch Beiträge. Die Beiträge werden also nicht, wie etwa in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, jeweils zur Hälfte vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer gezahlt. Meldepflichten unterstützen die Erfassung der Mitglieder. Die Versicherten, also etwa die Arbeitnehmer, erhalten aber auch dann Leistungen von dem zuständigen UV-Träger, wenn ein Arbeitgeber ihn nicht angemeldet hat. So erhält eine Haushaltshilfe auch dann Leistungen von der zuständigen Unfallkasse, wenn eine Meldung des Ar beitgebers nicht vorliegt, ungeachtet also von einer Beitragszahlung. Ein solches Solidarsystem ließe sich durch eine private Unfallversicherung nur schwer realisieren. Deswegen bildete der Gesetzgeber größere Finanzierungseinheiten. So gibt es in der gewerblichen Wirtschaft rund 30 gewerbliche UV-Träger (Berufsgenossenschaften), die nach Gewerbezweigen, und zum Teil auch regional, untergliedert sind. Etwa in der Bau-Berufsgenossenschaft, der Bergbau-BG, den Metall-BGen und der BG für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege sind nicht nur die speziellen Berufe versichert, sondern alle Mitarbeiter in den entsprechenden Gewerbebetrieben, also jeder Arbeitnehmer. Die Sozialpartner, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer der einzelnen Gewerbezweige, verwalten ihr solidarisches UV-System selbst. In den Entscheidungsgremien der UV-Träger (Vertreterversammlung, Vorstand, Renten- und Widerspruchsausschüsse) entscheiden beide Sozialpartner trotz der Alleinfinanzierung der Arbeitgeber paritätisch über die wichtigsten Angelegenheiten in den UV-Trägern.
Sie handeln ehrenamtlich. Die laufenden Verwaltungsgeschäfte obliegen dem hauptamtlich angestellten Hauptgeschäftsführer und seinen Verwaltungsmitarbeitern. Die Kontrolle der UV-Träger durch den Staat beschränkt sich auf die gesetzlichen Vorgaben und die zur Rechtmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit durch die Prüfungen des Bundesversicherungsamtes (als nachgeordneter Behörde des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung). Die deutsche gesetzliche Unfallversicherung ist also weder privat noch staatlich organisiert, sondern wird von den Sozialpartnern selbst verwaltet.
Im Unterschied zu Ordnungsprinzipien in anderen Ländern haben die UV-Träger in Deutschland die Aufgabe, sowohl Maßnahmen zur Prävention als auch zur medizinischen Versorgung, zur Rehabilitation sowie zur Pflege und zur Entschädigung zu übernehmen. Dieses Prinzip, das mit „alles aus einer Hand" bezeichnet wird, gibt den UV-Trägern eine umfassende Zuständigkeit bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Zudem besteht dort und damit die Verantwortung, Prävention und Rehabilitation/Teilhabe „mit allen geeigneten Mitteln" (gesetzlicher Auftrag) zu betreiben, bevor Renten zu zahlen sind. Die UV-Träger sind also verpflichtet, neben den einzelnen Arbeitgebern gemäß dem Arbeitssicherheitsgesetz und neben dem Staat mit ihren Arbeitsschutzbehörden (staatliche Gewerbeaufsicht) Maßnahmen zur Arbeitssicherheit und zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zu ergreifen. Kommt es indes zu einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit, so haben die UV-Träger die Erste Hilfe, Heilbehandlung, die medizinische Rehabilitation und die Leistungen zur Teilhabe zu übernehmen. Erst wenn die Arbeitskraft nicht wiederhergestellt werden kann, ist eine (gegebenenfalls lebenslange) Entschädigung in Geld zu zahlen, entsprechend der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).