Vorwort
Frank Schirrmacher hatte ein Boot. Es war alt und aus Holz und sehr schnell. Wie ein Pferd bäumt es sich beim Anfahren auf. Es reckt den Bug in die Höhe und stößt nach vorne. Es legt sich aufs Wasser und schießt davon. Im Rücken bleibt die Pfaueninsel, rechts liegt die Heilandskirche, linker Hand die Glienicker Brücke, vor uns das Schloss Cecilienhof. Eine leichte Landschaft ist das, mit heiteren Bauwerken, der Schönheit verpflichtet, dem Spiel. Eine Landschaft für Geschichten.
Frank Schirrmacher steht am Steuer des alten, schnellen Bootes, er braust über Havel und Jungfernsee, und, tatsächlich, »Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee.« Er ist der bedeutendste Journalist des Landes. Sein weißes Hemd flattert im Wind. Seit Jahren denkt er für Deutschland. Seine Themen werden zu den öffentlichen Themen. Ist das eine Übertreibung, eine Anmaßung? Natürlich. Der ganze Mann war eine Übertreibung, eine Anmaßung, die sich selber rechtfertigt.
»Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde …« Kafkas rätselhaftes Fragment beginnt so. Alles ist Bewegung, nach vorn geht der Blick, alles rast. Der Text handelt von einer Unmöglichkeit. »Wunsch, Indianer zu werden« heisst er. Werden. Nicht sein. Am Ende löst sich alles auf, Land, Pferd, Reiter. Alles bleibt unerfüllt. Und das unerfüllte Wünschen steht am Anfang der Geschichte.
Schirrmacher am Steuer seines schnellen Bootes, ein Indianer auf dem Rücken seines rennenden Pferdes, gleich bereit. Er befindet sich von Anfang an in einer einzigen Bewegung. »Immer noch steckt das Fragmentarische bei meinen Anfängen, undeutliche und schroff verbrämte Formen tun sich groß hervor, aber Neues soll werden.« Er war 21 Jahre alt, als er das an Siegfried Unseld schrieb: Neues soll werden. Und was war sein Wunsch? Frank Schirrmacher wollte Frank Schirrmacher werden.
Man versteht inzwischen, dass er es nicht lange bleiben konnte. Der Tod, der ihn am 12.6.2014 in Frankfurt ereilte, war unerwartet – aber nicht überraschend. »Nur allzu plausibel«, sagte Hans Ulrich Gumbrecht in seiner Trauerrede. Es liegt nicht eben nahe, so etwas zu sagen, in der Frankfurter Paulskirche, beim Gottesdienst, wenn einer im Alter von nur 54 Jahren gestorben ist. Vor der Zeit. Lange vor der Zeit. Aber Gumbrecht erkannte in Schirrmacher »eine Gestalt des Exzesses« und »keine auf die Ökonomie des Überlebens bis ins hohe Alter ausgerichtete Existenz«.
Ja, wie ein einziges Rasen, so kommt einem dieses Leben im Rückblick vor: diese ganze, große Fülle und Überfülle von Themen, Texten, Thesen. Ein rasender Reporter der Ideen, das war Schirrmacher. Gleich bereit. Egon Erwin Kisch, von dem der Begriff stammt, war Jahrzehnte zuvor Zeuge der Explosion der technischen Moderne gewesen, als die Zeit zur Maschine geworden war, die Gesellschaft zum Getriebe, und der Mensch seinen Platz im Räderwerk der Geschichte suchte. Im Zeitalter der Digitalisierung ändern sich die Metaphern. Es sind nicht mehr die Räder und Pressen und Walzen, die den Menschen zu verschlingen drohen. Nicht mehr die Stahlgewitter der Somme und die Blutmühle von Verdun, die ihn zermalmen.
Wieder hat ein ungeheurer Wandel die Welt erfasst und Schirrmacher wurde zu seinem Zeugen. Die Automatisierung der Welt, die im Zeitalter der Dampfmaschinen begonnen hatte, wird abgelöst durch die Automatisierung des Menschen im Zeitalter der Denk-Maschinen. Wo endet dann der Mensch?
Wo beginnt die Maschine? Was bleibt vom bestirnten Himmel und vom moralischen Gesetz, wenn Möglichkeit und Wille und Zukunft zu einer Verdichtung von algorithmisch herleitbaren Wahrscheinlichkeiten gerinnen? Schirrmacher war der Reporter der Entkörperlichung. Kein Wunder, dass ein Geisteswissenschaftler in diese Rolle schlüpfte, ein Intellektueller. Wer wüsste mehr von unserer Identität, die bald schon im Entstehen gefährdet sein wird? Von den Geschichten, die uns nicht einfach abhanden kommen, sondern die man uns raubt? Von der schwindenden Hoffnung auf Freiheit unter den Bedingungen von Berechnung und Berechenbarkeit?
Bei Schirrmacher fielen eine echte Sorge und eine tiefe Neigung günstig zusammen. Er sah die Welt bedroht und lebte selber im Genuss der Bedrohung. Der katastrophale Imperativ war die Grundform seiner gedanklichen Grammatik. Die Angst war sein Thema. Angst vor dem Verlust der Identität: der Tod, die Technologie, das Alter, die Verzweiflung, die Ausbeutung – unablässig werden wir in Frage gestellt, werden unsere Grenzen verletzt, gerät unsere Autonomie in Gefahr.
Auf eine paradoxe Weise kamen ihm der Wandel, das Werden, gerade recht. Wenn nichts bleibt, wie es ist, und immer dräut das Kommende. Wenn die Gegenwart immer in Frage steht. Bei Schirrmacher drängte immer alles und alles stürmte. Immer ging es um alles. Über Marcel Reich-Ranicki schrieb er: »Grundsätzlich begann ein Telefonat mit Sätzen wie »Sie wissen nicht, was sich abspielt.«
Aber das galt für ihn selbst. Neues soll werden – und gleichzeitig ist das Neue zu fürchten. Es ist immer größer als das Alte oder gefährlicher. Das gilt überall. Wir sorgen uns um Google und Apple? Schirrmacher schreibt: »Selbst Google und Apple sind nur Start-ups im Vergleich zu der neuen sozialen Software, die gerade ins Gehäuse unserer Gesellschaften implementiert wird.« Immer gibt es eine Ausdehnung, und sei es eine des Risikos. 1991, als er gerade 32 Jahre alt war und seit zwei Jahren Literaturchef der FAZ, sagte er: »Ich habe das sichere Gefühl, dass die großen Tragödien und Katastrophen erst noch kommen werden, gerade für mich und meine Generation.«
Schirrmacher war ein Humanist. So einer ist – je nach den Umständen – manchmal ein Linker, manchmal ein Konservativer, manchmal ein Liberaler, aber er kann nie ein Reaktionär sein. Als es um die große Krise des Kapitalismus ging, fragte ihn Jan Fleischhauer im Spiegel: »Würden Sie es als Beleidung empfinden, wenn man Sie heute als links bezeichnet?«, und Schirrmacher antwortet: »Beleidigung? Darauf käme ich sowieso nicht. Ich finde auch nicht, dass ich mich verändert habe. Ich bin wie wir alle nur Zeuge eines Denkens, das zwangsläufig in die Privatisierung von Gewinnen und die Vergesellschaftung von Schulden führte.« Und es war eine durch und durch bürgerliche Empörung, mit der er der entgrenzten Ideologie des Finanzkapitalismus, die er freimütig als »Neoliberalismus« bezeichnete, vorwarf, »sich im imaginativen Depot des bürgerlichen Denkens« bedient zu haben.
Es ist sein Humanismus, der ihn politisierte, ihn radikalisierte. Die Texte im vorliegenden Band, die zu seinen schönsten gehören, beschreiben Schirrmachers Weg: die Politisierung eines Ästheten. Die Radikalisierung eines Konservativen. Warum wandte sich denn der Experte für Benn und George der Technologie zu? Der Literaturwissenschaftler der Demokratie? Der Kulturkritiker der Gesellschaftskritik? Weil seine Thomas-Mann-Zivilisation in Trümmer geht.
Angst kommt gut an. Andere Menschen haben auch Angst. Und wenn der Intellektuelle Schirrmacher über die alternde Gesellschaft schrieb und über den Verlust sozialer Bindungen, über die Risiken der Digitalisierung und die Verwüstungen des internationalen Kapitalismus – dann folgten ihm auch solche Leser, die niemals das Feuilleton der FAZ in die Finger genommen hätten.
Im Jahr 2004 war der Herausgeber der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« Frank Schirrmacher allen Ernstes fünfmal der »Gewinner des Tages« der »Bild«-Zeitung. Na und? Reich-Ranicki hatte gesagt: »Jawohl, das ist eine der wichtigsten Aufgaben der Kritik: dafür zu sorgen, dass Literatur ins Gespräch kommt und im Gespräch bleibt. Darauf kommt es an: die Literatur zu einer öffentlichen Sache zu machen.« Schirrmacher machte seine Bücher, seine Themen, seine Person zur öffentlichen Sache.
Die Gendebatte, die Altersdebatte, die Internetdebatte, die Finanzmarktdebatte – Schirrmacher hatte diese Themen nicht erfunden. Aber er hat sie geprägt. Alarmismus, Lust an der Kampagne, Sucht nach Öffentlichkeit, Erfolgsverliebtheit – all das hat man ihm vorgeworfen. Und alles zu Recht.
Dass sie es hier mit einem Ausnahmemenschen zu tun haben, konnten all jene, die die Regel sind, freilich schwer verkraften. Für Schirrmacher, der es jung an die Spitze geschafft hatte, galt das Nietzsche-Wort: »Ich überspringe oft die Stufen, wenn ich steige – das verzeiht mir keine Stufe.«
Als er dann starb, ging eine große Erschütterung durch das Land. Man hatte so etwas bei einem Journalisten noch nie erlebt. Was für Nachrufe! Die verzweifelten seiner Freunde, die bittersüßen seiner Opfer, die bewundernden seiner Beobachter.
Aber was ist das Erbe eines Journalisten? Was bleibt von dem, dessen Beruf an den Tag geknüpft ist? Was hinterlässt der Feuilletonist Frank Schirrmacher – und was wird aus seinem Feuilleton? Was bleibt, was er hinterlässt, was sein Erbe ist: es ist die Lücke, der leere Platz.
Wie leer dieser Platz ist, zeigte sich, als neulich ein Journalist einen anderen, der bei der FAZ arbeitet, fragte: »Braucht die FAZ nicht dringend eine Galionsfigur.« Die nüchterne Antwort lautete, man möge bitte die Galionsfiguren nicht überschätzen: »Galionsfiguren bilden den Bug des...