»Es wäre toll, ein Buch zu diesem Thema lesen zu können!«
Johannes Jungbauer und Katharina Heitmann
Die Idee zu diesem Buch entstand während einer großen Fragebogenstudie, in der wir rund fünfhundert erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern zu ihren Kindheitserfahrungen und zu ihrem weiteren Lebensweg befragt haben. Im Verlauf dieser Studie erhielten wir sehr viele positive Rückmeldungen, Anrufe und Zuschriften. So schrieb uns z. B. eine 28-jährige Tochter einer depressiv erkrankten Mutter: »Vielen Dank für diese Umfrage, die ich gerne unterstütze! Wir erwachsenen Kinder werden leider oft vergessen, da das Hauptaugenmerk auf den minderjährigen Kindern liegt.«
Zahlreiche andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Studie äußerten sich in ähnlicher Weise. Einerseits empfinden sie es meist als großen Fortschritt, dass die oft sehr belastende Lebenssituation von betroffenen Kindern und Jugendlichen heute zunehmend öffentlich wahrgenommen und diskutiert wird. Andererseits fühlen sie sich selbst eher übersehen. Tatsächlich gibt es im deutschsprachigen Bereich bislang kaum Fach- und Ratgeberliteratur zur biografischen Entwicklung und zum spezifischen Hilfebedarf von erwachsenen Kindern psychisch erkrankter Eltern. Dies ist eigentlich erstaunlich, denn aus etlichen Studien ist bekannt, dass sich eine elterliche psychische Erkrankung sehr nachhaltig auf den weiteren Lebensweg der Kinder auswirken kann. Viele der erkrankungsbedingten Belastungen enden eben nicht mit der Volljährigkeit. Vielmehr entstehen für erwachsene Kinder häufig neue, andere und manchmal sogar schwierigere Herausforderungen – sowohl im Umgang mit den erkrankten Eltern als auch beim Ringen um ein eigenes Leben.
In den meisten Fällen wird die Beziehung zum erkrankten Elternteil als lebenslange, unauflösliche Verbindung und Verpflichtung empfunden. Hinzu kommt, dass viele erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern das Gefühl haben, durch die belastenden Erfahrungen ihrer Kindheit negativ geprägt und beeinträchtigt zu sein. Vor diesem Hintergrund haben sie den Wunsch, sich bewusster mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und dadurch ihre heutige Lebenssituation besser zu verstehen. Eine unserer Studienteilnehmerinnen brachte es auf den Punkt: »Es wäre toll, ein Buch zu diesem Thema lesen zu können, z. B. mit Erfahrungsberichten anderer Betroffener. Ich wüsste gerne mehr darüber, welche meiner heutigen Probleme allgemein bei Betroffenen auftreten und wie sie damit umgehen.«
Ein solches Buch mit Erfahrungsberichten halten Sie, liebe Leserinnen und Leser, nun in Ihren Händen. Es ist ein Buch, in dem zehn erwachsene Töchter und Söhne zwischen 27 und 64 Jahren ihre Lebensgeschichte erzählen. Sie schildern darin nicht nur, wie sie als Kind die psychische Erkrankung ihrer Mutter oder ihres Vaters erlebten, wie in der Familie damit umgegangen wurde und wie sie gelernt haben, mit den unterschiedlichen erkrankungsbedingten Problemen umzugehen und zu (über-)leben. Sie berichten auch, wie sie selbst erwachsen wurden, wie sich die Beziehung zu ihren Eltern über die Jahre hinweg entwickelt hat und wie ihr eigener Lebensweg bis heute verlaufen ist. Dabei zeigt sich eindrücklich, wie stark sich die oft sehr belastenden und traumatisierenden Kindheitserfahrungen auf die Persönlichkeit, die Beziehungen und wichtige Lebensentscheidungen der erwachsenen Kinder ausgewirkt haben.
Auch die Entstehungsgeschichte dieses Buches sei an dieser Stelle kurz erzählt: Zunächst nutzten wir bereits bestehende Kontakte zu unterschiedlichen Institutionen sowie zu Kolleginnen und Kollegen, um erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern zur Mitwirkung an einem Erfahrungsbuch aufzurufen. Besonders hilfreich war dabei die Unterstützung durch die Bundesarbeitsgemeinschaft »Kinder psychisch erkrankter Eltern«, in der sich – wie wir wussten – viele erwachsene Kinder engagieren. Auch über den Verein Seelenerbe e. V., der sich für die Belange und Interessen der erwachsenen Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen einsetzt, konnten wir einige Teilnehmer für unser Buchprojekt gewinnen. Die meisten der von uns gesammelten Geschichten basieren auf ausführlichen persönlichen Gesprächen, die von uns anschließend schriftlich aufbereitet wurden. Einige der erwachsenen Kinder schickten uns auch selbst verfasste und zum Teil sehr ausführliche Texte zu, die wir als Grundlage für Erfahrungsberichte nutzen konnten. Die Endfassungen aller Erfahrungsberichte wurden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern nochmals zum Gegenlesen vorgelegt und von diesen zur Veröffentlichung freigegeben. An diesem Punkt entschieden sich die meisten (nicht alle) dafür, ein Pseudonym zu benutzen, um ihre Anonymität zu wahren.
Am Ende standen wir schließlich vor der schwierigen Aufgabe, aus dem vorhandenen Material zehn Texte für unser Buch auszuwählen, die ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher Erfahrungen und Lebenswege abbilden sollten. Dabei war es uns beispielsweise wichtig, Töchter und Söhne unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichen sozialen Milieus zu Wort kommen zu lassen. Ein weiteres Anliegen war es, unterschiedliche psychische Erkrankungen der Eltern zu berücksichtigen, wie z. B. Schizophrenie, bipolare Störungen, Zwangserkrankungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen.
Die uns anvertrauten Lebensgeschichten empfinden wir als Geschenk. Für viele unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer bedeutete es einen großen Schritt, so offen und ausführlich über ihre Erfahrungen, Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen oder zu schreiben – und einige hatten überhaupt zum ersten Mal den Mut, es zu tun. Nicht selten entwickelt sich nämlich eine elterliche psychische Erkrankung zu einem »Familiengeheimnis«, über das nicht gesprochen werden darf. Tabuisierung und Sprachlosigkeit können so die Kinder psychisch erkrankter Eltern über viele Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte hinweg daran hindern, belastende Erfahrungen zu teilen und zu verstehen. Doch es kann sehr befreiend und heilsam sein, das eigene Schweigen zu überwinden. Der 34-jährige Michael, der mit einer schizophren erkrankten Mutter aufgewachsen ist, drückt dies folgendermaßen aus: »Indem ich meine Geschichte erzähle und mir die Geschichten der anderen anhöre, lerne ich auch sehr viel über mich und ich habe das Gefühl, dass ich für meine Kindheitserlebnisse endlich die passenden Worte finden kann. Wo vorher Schweigen und Sprachlosigkeit herrschte, wird etwas besprechbar und erscheint dadurch weniger bedrohlich. Ich habe – wie viele andere Kinder psychisch kranker Eltern – sehr lange gebraucht, bis ich mich getraut habe, meine Geschichte zu erzählen, und auch, bis ich gelernt habe, überhaupt die passenden Worte zu finden.«
In allen Erfahrungsberichten dieses Buchs wird deutlich: Das Erzählen der eigenen Geschichte bedeutet immer eine intensive und häufig auch schmerzhafte Auseinandersetzung mit sich selbst. Oft wird erwachsenen Kindern psychisch erkrankter Eltern der Zugang zu lange verborgenen Gefühlen wie Wut oder Trauer möglich. In anderen Fällen bedeutet Erzählen vor allem ein Neu-Verstehen der eigenen Biografie und eigener Verhaltensweisen – und auch dies kann manchmal sehr wehtun. Doch zugleich ist dieses Verstehen vielfach die Voraussetzung dafür, dass die eigenen Bedürfnisse besser wahrgenommen werden können. Damit gewinnt das Erzählen den Charakter von Biografiearbeit – es gleicht einem mühevollen Ringen um Sinn, Identität und Versöhnung.
Dieses Buch richtet sich in erster Linie an erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern sowie deren Familienangehörige und Freunde. Ferner dürfte es ebenso interessant für alle sein, die »von Berufs wegen« mit diesen erwachsenen Kindern zu tun haben – wie etwa Psychotherapeutinnen, Berater, Supervisorinnen und Sozialarbeiter. Auch für Studierende der Psychologie und der Sozialen Arbeit bietet das Buch reichhaltiges Material, z. B. für praxisnahe Fallbesprechungen und Diskussionen in Lehrveranstaltungen. Für Betroffene soll es vor allem ein »Ermutigungsbuch« sein, das positive Anregungen gibt, den eigenen Weg zu finden. Die 41-jährige Vanessa, die mit einer schizophren erkrankten Mutter aufgewachsen ist und deren Erfahrungsbericht uns zum Titel dieses Buchs inspiriert hat, formulierte es so: »Meine Kindheitserfahrungen haben bleibende Narben hinterlassen, aber keiner kann sie sehen. Der Umgang mit den erlittenen Verletzungen und dem schweren Erbe, das ich mit mir trage, ist wohl eine lebenslange Aufgabe. Aus dieser Erkenntnis schöpfe ich aber auch viel Kraft. Ich bin es mir wert, für die unabhängige Entfaltung meiner Persönlichkeit und Autonomie zu kämpfen. Und ich hoffe, dass die Erzählungen der Menschen in diesem Buch jede Leserin und jeden Leser genauso fühlen lassen. Keine Kindheitserfahrung, keine noch so tiefe, unsichtbare Narbe darf Sie entmutigen und daran hindern, Ihr eigenes Leben zu leben!«
Besonders hinweisen möchten wir noch auf den »Serviceteil« am Ende des Buchs, der primär für die erwachsenen Kinder psychisch erkrankter Eltern unter den Leserinnen und Lesern gedacht ist. Hier finden sich Anregungen und kommentierte Hinweise für eine individuelle Weiterbeschäftigung mit der Thematik. Neben weiteren Erfahrungsberichten, die in Buchform erschienen sind, haben wir einige empfehlenswerte Ratgeberbücher und eine kleine Auswahl an Fachliteratur zusammengestellt, außerdem sehenswerte TV-Reportagen, Dokumentar- und Kinofilme, die entweder als DVD im Handel erhältlich sind oder über...