23II. Kapitel. Analysieren Sie die Verhandlungssituation
Stellen Sie sich vor, Ihre Vorgesetzte bittet Sie zu einem Gespräch und eröffnet Ihnen, dass Ihre Abteilung umstrukturiert und mit einer Einheit an einem anderen Standort, in einer 500 km entfernten Großstadt, zusammen geführt wird. Sie sind ausgewählt worden, die neue Einheit zu leiten, mit der Aussicht auf eine zwanzigprozentige Gehaltserhöhung nach einem Jahr. Ihre spontane Reaktion sind gemischte Gefühle: Ihr Job hat Ihnen eigentlich bisher ganz gut gefallen, obwohl Sie schon der Meinung waren, dass eine Beförderung und insbesondere eine Gehaltserhöhung langsam fällig wären. Aber was da in Aussicht gestellt wird, ist relativ vage und auch nicht gerade ein Quantensprung. Und ein Ortswechsel in die deutlich größere – und teurere – Stadt birgt eine Vielzahl von Belastungen und Risiken. Wie wird Ihre Familie reagieren? Die Kinder müssten Schule und Freundeskreis wechseln, Ihr(e) Partner(in) ist berufstätig und müsste in der neuen Stadt ebenfalls eine neue Stelle finden. Andererseits fällt offenbar Ihre jetzige Stelle weg und die Familie ist auf Ihr Einkommen angewiesen. Und was wird aus dem Haus, das Sie gerade gebaut haben? Freilich muss das Angebot Ihrer Vorgesetzten ja nicht das letzte Wort gewesen sein. Sie werden also verhandeln müssen, aber wie kommen Sie mit dieser Gemengelage am besten zurecht?
Wie Sie eine solche Verhandlungssituation am besten analysieren und dadurch in den Griff bekommen können, möchten wir Ihnen in diesem Kapitel zeigen. Grundlage unserer Konzeption ist das Bild eines unvollkommen rational handelnden Menschen, der zwar sein Handeln an der Maximierung seines persönlichen Nutzens orientiert, dabei aber von vielfältigen, teilweise durchaus irrationalen Beweggründen gesteuert und in seiner Urteilsfähigkeit durch Verzerrungen der menschlichen Wahrnehmung getrübt wird. Ohne diese Einschränkung aus den Augen zu verlieren, ist die Annahme der Rationalität des Verhaltens aller Verhandlungspartner ein sinnvoller Ansatz, um Verhandlungssituationen zu verstehen und zu bewältigen. Sich sein Gegenüber als vollkommen irrational und unberechenbar 24vorzustellen, wäre genauso wenig hilfreich wie die Annahme einer vollkommenen Rationalität.
Die Annahme eines in seiner Grundstruktur rationalen Verhaltens wird durch die Lebenserfahrung bestätigt: Die allermeisten Menschen streben nach ihrem eigenen Vorteil, auch wenn sie zutiefst subjektive und häufig sehr unklare Vorstellungen davon haben mögen, worin dieser Vorteil besteht und wie er am besten verwirklicht werden kann. Hier liegt die zentrale Herausforderung für Sie als Verhandler: Es geht darum, die Entscheidung eines anderen Menschen zu beeinflussen, und zwar sowohl in ihren rationalen Aspekten – der Wahl der für diesen Menschen günstigsten Handlungsoption – als auch in den subjektiven, möglicherweise weniger rationalen Einschätzungen und Bewertungen der wahrgenommenen Handlungsoptionen.
Dieses Kapitel zeigt die Parameter für eine Einflussnahme in Verhandlungen auf. Im Kern jeder Verhandlung steht die Entscheidung aller Beteiligten zwischen den zur Diskussion gestellten Angeboten und den Möglichkeiten, über die sie jeweils unabhängig von einer Verhandlungslösung verfügen. Diese Entscheidungssituation können Sie mit Hilfe eines Systems von vier Schlüsselfaktoren analysieren, die wir in diesem Kapitel detailliert vorstellen. Eine besondere Bedeutung hat dabei der Schlüsselfaktor der menschlichen Wahrnehmung. Er stellt als Grundlage und Rahmenbedingung für rationale Entscheidungen eine besondere Herausforderung dar. Um damit besser umgehen zu können, zeigen wir eine Reihe von „Fallen“ auf, deren Kenntnis den Blick für die Grenzen der Rationalität bei einer Verhandlung schärft.
1. Begreifen Sie Verhandeln als Entscheidungsfindung
Wenn Menschen miteinander verhandeln, dann kommunizieren sie über eine mögliche Zukunftsgestaltung. Ergebnis dieses Prozesses ist eine Entscheidung, wie in der Zukunft vorgegangen werden soll. Diese Entscheidung findet auf zwei Ebenen statt: einmal individuell („Will ich der vorgeschlagenen Lösung zustimmen?“) und einmal kollektiv („Wollen wir uns auf die vorgeschlagene Lösung einigen?“).
25Das Element der Entscheidungsfindung über eine mögliche Zukunftsgestaltung unterscheidet Verhandlungen von anderen, verwandten Kommunikationsformen. Wir haben im I. Kapitel ausgeführt, dass es in Verhandlungen nicht etwa darum geht, Recht zu behalten oder wie bei einem Rätsel oder einer Rechenaufgabe „die richtige Lösung“ zu finden. Zentral ist vielmehr, dass jede Partei „ein gutes Ergebnis“ erzielen will. Ich kann mich durchaus mit meinem Verhandlungspartner einigen, etwa über den Verkauf eines Gebrauchtwagens oder über eine Arbeitsteilung im Haushalt, ohne dass einer den anderen von seiner Sicht der Dinge überzeugt hat (oder dies auch nur versucht wurde). Es genügt, dass jeder von uns die vereinbarte Lösung – aus welchen Gründen auch immer – gegenüber dem Status quo bevorzugt und als verbindlich anerkennt.
Auch wenn Vergangenheitsbewältigung, wie zum Beispiel in einer Vergleichsverhandlung bei einem Rechtsstreit, oft einen breiten Raum in Verhandlungen einnimmt, so geht es doch letztlich immer um Zukunftsgestaltung (Inhalt des Vergleiches ist nicht in erster Linie eine Feststellung darüber, was geschehen ist bzw. ob das nun richtig oder falsch war, sondern eine Regelung für die Zukunft, z. B. wer wem wie viel zu zahlen hat).
Um die Entscheidung über eine gemeinsame Lösung für sich selbst zu treffen und bei den übrigen Beteiligten beeinflussen zu können, müssen Sie die Parameter kennen, unter deren Einfluss diese Entscheidung steht. Sie müssen die Ausgangssituation daher zunächst einmal analysieren, bevor Sie gezielt auf die Entscheidungsfindung einwirken können.
2. Analysieren Sie die Entscheidungslage
Trotz der großen Vielfalt und Komplexität von möglichen Verhandlungssituationen lässt sich der Prozess der Entscheidungsfindung in Verhandlungen anhand einer begrenzten Anzahl von Parametern analytisch beschreiben:
- Gegenstand der Entscheidung sind Einigungsoptionen und Nichteinigungsalternativen
- Bewertungsmaßstab für die Entscheidung sind vor allem die Interessen der Beteiligten
- 26Grundlage der Entscheidung sind die Wahrnehmungen der Verhandlungspartner
Abbildung 3: Verhandeln als Entscheidungsfindung
Kern einer jeden Verhandlung ist die von allen Beteiligten zu treffende Entscheidung zwischen den vorgeschlagenen Lösungsmöglichkeiten für eine Einigung – wir nennen diese im folgenden „Einigungsoptionen“ (Schlüsselfaktor 1) – und den Handlungsalternativen, welche Ihnen bei einer Nichteinigung jeweils zur Verfügung stehen, welche wir „Nichteinigungsalternativen“ oder „NEA“ nennen (Schlüsselfaktor 2).
a) Einigungsoptionen
Ziel jeder Verhandlung ist es, wie im I. Kapitel beschrieben, ein tragfähiges, „gutes“ Ergebnis zu entwickeln. Dies ist harte Arbeit, denn ein wirklich gutes Ergebnis können Sie nur erreichen, wenn Sie den Raum der Möglichkeiten, das Spektrum der möglichen Lösungen, systematisch ausloten. Das ist die Arbeit an Einigungsoptionen. So ist die von Ihrer Vorgesetzten vorgeschlagene Verwendung als Leiter der umstrukturierten Abteilung zu den von ihr skizzierten Bedingungen sicher nicht die einzige denkbare Lösung. Man könnte zum Beispiel auch darüber nachdenken, die neue Position mit ganz anderen Rahmenbedingungen zu versehen oder eine neue Aufgabe für Sie am alten Standort zu finden.
Einigungsoptionen sind mögliche Verhandlungslösungen, die den Parteien als Vorschläge „auf dem Tisch“ liegen. Im Gegensatz zu bloßen Ideen sind Einigungsoptionen umsetzungsfähige Lösungen: Sie sagen aus, was im Falle der Zustimmung konkret zu tun ist. Das Entwickeln von Einigungsoptionen, die besser sind als die den Parteien zur Verfügung stehenden Alternativen, ist eine der fundamentalen 27Aufgaben des Verhandlungsmanagements. Nur wenn es Ihnen gelingt, der anderen Seite einen zustimmungsfähigen Vorschlag zu unterbreiten, kann die Verhandlung erfolgreich abgeschlossen werden.
Die Suche nach Einigungsoptionen erfordert ein systematisches Vorgehen und Kreativität sowohl in der Vorbereitung als auch während der Verhandlung. Ein besonders gutes Verhandlungsergebnis kann darin bestehen, dass durch eine zunächst überraschende Lösung die Interessen beider Parteien weitgehend verwirklicht werden. Mit etwas Fantasie lassen sich häufig auch scheinbar unvereinbare Positionen überwinden und die Unterschiede in der Interessenlage sogar als Sprungbrett für eine besonders vorteilhafte Einigung nutzen, wie etwa in dem im I. Kapitel geschilderten Orangenbeispiel.1 Kreativität ist der „Joker“ in jeder Verhandlung. Wenn es Ihnen gelingt, eine kreative Lösung zu finden, erhöhen Sie damit auch die Chance, dass das Ergebnis interessengerecht ist und als fair empfunden wird. Zugleich kann ein gemeinsames „Aha-Erlebnis“ verbindend wirken, so dass auch die Beziehung zu Ihrem Verhandlungspartner gefestigt wird.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass es praktisch immer mehr als nur eine gute Lösung geben wird und die Chance auf eine vorteilhafte Einigung erheblich steigt, wenn man...