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Verschwiegene Wunden

Sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche erkennen und verhindern - Mit einem Vorwort von Anselm Grün

AutorWunibald Müller
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641048877
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Die Katholische Kirche ist in Aufruhr. In bedrückend großer Anzahl treten Opfer sexuellen Missbrauchs ans Licht, ihre Verletzungen finden Sprache. Kirchliches Personal, Priester, Mönche, Erzieher stehen am Pranger. Unbedingte Solidarität mit den Opfern macht einen differenzierten Blick auf Ursachen der augenblicklichen Notsituation dringlich. Wunibald Müller, erfahrener Psychotherapeut und Theologe, kennt die Situation sexuellen Missbrauchs in der Kirche aufgrund seiner täglichen Arbeit bestens. Der renommierte Fachmann klärt für das Thema Missbrauch wesentliche Hintergründe (u.a. Zölibat, Homosexualität, Pädophilie). Er analysiert hierarchische Beziehungen, die zum Missbrauch führen können, und liefert spirituell und therapeutisch tragfähige Hilfestellungen, um der dramatischen Situation präventiv und nachhaltig zu begegnen.

Dr. Wunibald Müller, geb. 1950, ist Theologe, Psychologe, Psychotherapeut. Der ehemalige Leiter des Recollectio-Hauses der Abtei Münsterschwarzach ist Autor zahlreicher Bücher zu Themen der Spiritualität, Lebenshilfe und Psychologie.

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Leseprobe
Die Fälle sexuellen Missbrauchs in katholischen Internaten und in weltlichen Eliteschulen erschrecken die Menschen. Viele fragen sich, wie das geschehen kann. Oft sind es beliebte Lehrer, begnadete Lehrer, wie die Eltern sagen, die die Kinder missbrauchen. Ich sehe vor allem drei Ursachen, die zum Missbrauch führen:
Die eine Ursache ist die fehlende Integration der Sexualität in den Lebensvollzug der Menschen. Das gilt für zölibatäre Priester wie für Ehemänner und Väter. Auch Verheiratete sind gefährdet, ihre Sexualität an jüngeren und schwächeren Menschen auszuleben, anstatt sich der oft schwierigen Beziehung zum eigenen Ehepartner zu stellen.
Die zweite Ursache ist subtiler. Jeder Lehrer und Erzieher lebt ein archetypisches Bild. Das archetypische Bild des Helfers, des Begleiters, des Heilers bringt den Lehrer und Erzieher in Berührung mit den Fähigkeiten, die in seiner Seele schlummern. Sie wecken in ihm die Bereitschaft, sich auf die jungen Menschen einzulassen. Doch gefährlich ist es immer, wenn wir uns mit so einem archetypischen Bild identifizieren. C. G. Jung, der Schweizer Psychologe, nennt das Inflation. Ich blähe mich mit Bildern auf. Diese stehen mir zwar zu, doch wenn ich mich mit einem archetypischen Bild identifiziere, werde ich blind für meine eigenen Bedürfnisse. Keiner missbraucht ein Kind aus Bosheit. Das könnte er vor dem eigenen Gewissen gar nicht verantworten. Doch wenn er sich mit dem archetypischen Bild des Helfers oder Heilers identifiziert, dann merkt er gar nicht, wie er unter dem Vorwand, dem Kind zu helfen oder seine Verklemmtheit zu heilen, seine eigenen sexuellen Bedürfnisse oder sein Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit ausagiert. Diese Blindheit des Missbrauchers ist das größte Problem. Denn die Grenze zwischen dem archetypischen Bild, das mich antreibt, ein guter Lehrer und Erzieher zu sein, und der Identifizierung mit diesem archetypischen Bild ist fließend. Viele merken nicht, wann sie diese Grenze überschreiten.
Die dritte Ursache ist tragisch: Oft sind die Täter selbst Opfer gewesen. Sie wurden als Kind missbraucht und geben nun diesen Missbrauch unbewusst weiter. Sie meinen, wenn sie den Missbrauch weitergeben, von ihrer eigenen verschwiegenen Wunde geheilt zu werden. Daher ist es umso wichtiger, die verschwiegenen Wunden des Missbrauchtwordenseins anzuschauen und sich damit auszusöhnen. Sonst geben wir die Verletzungen eben an andere weiter. Nur wenn wir uns mit den Wunden aussöhnen, können sie sich in Perlen verwandeln, wie Hildegard von Bingen den Weg der Heilung beschreibt. Dann werden Menschen, die einmal Missbrauch erfahren haben, zu guten Therapeuten und Erziehern und Lehrern, die den Kindern helfen, ihre eigene Würde zu entdecken und trotz aller Verletzungen das Heile und Heilige in sich zu entdecken.
So wünsche ich dem Buch von Wunibald Müller, dem Leiter des Recollectio-Hauses, viele aufmerksame Leser, damit Missbrauch mehr und mehr verhindert wird und die verschwiegenen Wunden der Opfer angeschaut und geheilt werden.
Münsterschwarzach, im März 2010 P. Anselm Grün OSB

Hinführung
Schweigen kann etwas Schönes sein. Es kann helfen, mit sich, mit dem Tieferen in einem selbst, in Berührung zu kommen, ja, Gott zu erspüren. Verschweigen dagegen kann verheerende Folgen haben. Ich spreche dann nicht aus, was ins Wort gebracht, ausgesprochen werden müsste. Ich verschweige eine Wirklichkeit, manchmal die Wahrheit.
Wunden, die verschwiegen werden, obwohl sie da sind und zu meiner Wirklichkeit und Wahrheit gehören, schwären vor sich hin. Sie können nicht heilen. Es sei denn, ich stehe zu ihnen, verschweige sie nicht länger. Doch bis ich so weit bin, kann es lange dauern. Manchmal sehr lange.
Was augenblicklich in der katholischen Kirche im Zusammenhang mit dem Missbrauch Minderjähriger durch Priester geschieht bzw. geschehen sollte, ist unter anderem auch ein Prozess, der das Verschweigen von zugefügten Wunden zu unterbrechen versucht, damit die Wunden der durch sexuellen Missbrauch direkt und indirekt Betroffenen heilen können. In meinen Ausführungen will ich zu diesem Heilungsprozess beitragen. Ich will Mut machen, den Weg der Transparenz unbeirrt zu beschreiten und weiterzugehen.
Ich hatte vor einiger Zeit die Entscheidung getroffen, mich nicht mehr zu dem Thema »Sexueller Missbrauch Minderjähriger im kirchlichen Kontext« zu äußern. Der Grund war, dass ich das Recollectio-Haus nicht in einen so engen Zusammenhang mit diesem Thema bringen wollte. Auch ging es mir darum, den Eindruck zu vermeiden, im Recollectio-Haus würden pädophile Priester behandelt. Tatsache ist, dass wir im Re- collectio-Haus keine pädophilen Priester behandeln.
Ich selbst habe mich aber in den vergangenen zwanzig Jahren viel mit den Themen »Sexueller Missbrauch«, »Pädophilie«, »Ephebophilie« (damit ist das sexuelle Interesse an pubertierenden männlichen Jugendlichen gemeint) sowie anderen Grenzüberschreitungen im kirchlichen und seelsorglichen Kontext befasst. Ich habe wiederholt über diese Themen geschrieben, auch vor dem Hintergrund meiner psychotherapeutischen Erfahrungen mit pädophilen und ephebophilen Priestern bzw. mit Seelsorgern, die Probleme hatten, notwendige Grenzen im seelsorglichen Bereich zu respektieren und einzuhalten. Dabei habe ich sehr profitiert von meinen Kontakten zu Kolleginnen und Kollegen in den USA und in Kanada, die Einrichtungen leiten, in denen pädophile bzw. ephebophile Priester und Seelsorger, bei denen sexuelle Grenzverletzungen vorlagen, behandelt wurden und werden.
Wenn ich mich jetzt entschieden habe, entgegen meiner ursprünglichen Absicht, mich noch einmal ausführlich mit dem Thema »Sexueller Missbrauch« zu befassen, dann auch deswegen, weil ich in den letzten Wochen von annähernd fünfzig Fernsehsendern, Radiostationen und Presseorganen angefragt worden bin, mich zu dem Thema zu äußern. Ich habe dabei festgestellt, dass ein großer Bedarf vorhanden ist, aus einer therapeutischen, theologischen und spirituellen Sicht etwas über das Thema zu erfahren, vor allem auch von Personen, die über konkrete therapeutische Erfahrungen mit Opfern und Tätern verfügen und mit dem kirchlichen Kontext vertraut sind.
Ich bin mir bewusst, dass ich bei meinen Ausführungen von meinem Hintergrund als Psychotherapeut und Theologe geprägt bin und dadurch bedingt auch eine Auswahl treffe unter den vielen Aspekten, die bei dem Thema »Sexueller Missbrauch in der Kirche« bedacht werden müssen. Es ist mein Beitrag zu dem Thema, der durch andere Beiträge ergänzt werden muss, vor allem auch, was die primären Opfer sexuellen Missbrauchs betrifft, auf die ich natürlich auch ausführlich eingehe. Doch sie und ihre Situation bedürfen noch einer intensiveren Würdigung als ich es zu leisten vermag, und zwar durch Personen, die über mehr Erfahrungen mit Opfern sexuellen Missbrauchs verfügen als ich.
Ein weiterer Grund, der mich veranlasst hat, der Anfrage von Winfried Nonhoff vom Kösel-Verlag nachzukommen und ein Buch zum Thema »Sexuellen Missbrauch in der Kirche entdecken und verhindern« zu schreiben, ist die augenblickliche Situation, die die katholische Kirche nicht nur tangiert, sondern im Mark getroffen und erschüttert hat. Als Katholik ist es mein Anliegen, zu einer Vertiefung der Diskussion beizutragen und, soweit es in meinen Möglichkeiten steht, den jetzt notwendigen Läuterungs- und Heilungsprozess in der katholischen Kirche, die auch meine Kirche ist und bleibt, zu fördern.
Wunibald Müller

TEIL I
Sexuellen Missbrauch in der Kirche erkennen und verhindern
Das Entsetzen bleibt. Gott sei Dank. Das Entsetzen darüber, dass Priester, Männer Gottes, Minderjährige sexuell missbrauchen. Wir haben uns noch nicht daran gewöhnt, obwohl es lange schon zur bitteren Wahrheit gehört, auch zur Wahrheit der Kirche. Zu lange, so mein Eindruck, hat die Kirche sich Zeit gelassen, die radikalen Konsequenzen zu ziehen, die sich aus dieser bitteren und furchtbaren Wahrheit ergeben.
Jetzt, aufgeschreckt und betroffen durch das bisher unvorstellbare Ausmaß an sexuellen Übergriffen und Missbrauchsfällen in ihren eigenen Reihen, die zum Teil jüngeren Datums sind, meist aber Jahrzehnte zurückliegen, ist bei der Kirche eine große Entschiedenheit erkennbar, endlich notwendige Konsequenzen zu ziehen. Erste Entscheidungen sind getroffen worden. So werden die Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch überarbeitet. Der Opferschutz soll noch mehr in den Vordergrund gerückt werden: Eine bundesweite kostenlose Info-Telefonhotline wurde gestartet (Tel. 08001201000; Näheres auch unter der von der Deutschen Bischofskonferenz in Kooperation mit der Lebensberatung Trier eingerichteten Website www.hilfe-missbrauch.de). Außerdem wurde ein Sonderbeauftragter für alle Fragen im Zusammenhang des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich ernannt und so die Kompetenz und Zuständigkeit der Bischofskonferenz gestärkt. Auch das Auswahlverfahren und die Ausbildung der Kandidaten für das Priesteramt und den Ordensstand sollen verbessert werden.
Das lässt hoffen. Doch weitere Konsequenzen werden notwendig sein, will die katholische Kirche diese schwerste Krise in ihrer jüngeren Geschichte nicht nur überstehen, sondern als Chance nutzen, daran zu wachsen, zu reifen und sich zu verwandeln. Nur so kann sie, auch wenn das dauern wird, ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, die sie bei vielen, selbst treuen Mitgliedern eingebüßt hat.
Im ersten Teil will ich zunächst Kenntnisse über sexuellen Missbrauch, die zugrunde liegende Dynamik sowie über Tätermerkmale vermitteln. Anschließend werde ich auf die Ausbildung zukünftiger Priester und Ordensleute eingehen, Hinweise geben, wie potenzieller sexueller Missbrauch besser erkannt werden kann, und einen Überblick über die psycho-sexuelle Entwicklung verschaffen. Weiter gehe ich sehr ausführlich auf die Bedeutung der Erfahrung von Intimität für zölibatär lebende Personen ein, um schließlich der Frage nachzugehen, ob und inwieweit es einen Zusammenhang zwischen Zölibat, sexuellem Missbrauch und Homosexualität bzw. homosexuellen Priestern gibt.
1. KAPITEL
Sexuellen Missbrauch erkennen
Zunächst werde ich mich aus psychologischer und psychotherapeutischer Sicht mit einigen Aspekten des Themas »Sexueller Missbrauch in der Kirche« befassen, um damit den Blick dafür zu schärfen, wann sexueller Missbrauch vorliegt, was dazu beitragen kann, dass jemand andere Personen sexuell missbraucht, welche Täterprofile man unterscheiden kann, was bei der Auswahl von Kandidaten für das Priesteramt oder den Ordensberuf bedacht werden muss und wie man hellhöriger gegenüber potenziellem sexuellen Missbrauch werden kann.
Dabei wird schon deutlich werden, welch große Bedeutung der psychosexuellen Entwicklung und der Einstellung zur Sexualität zukommt. So werde ich im zweiten Kapitel ausführlich auf die psychosexuelle Entwicklung und die Entwicklungsschritte eingehen, denen sich jeder stellen muss, unabhängig davon, ob er zölibatär oder in einer Partnerschaft leben will. Nur wer diese Entwicklungsschritte vollzieht, wird in der Lage sein, auf eine reife Weise mit der eigenen Sexualität umzugehen, und die Fähigkeit zu tiefen, bedeutungsvollen und verbindlichen Beziehungen erlangen.
Kennzeichen sexuellen Missbrauchs
Wann spricht man von sexuellem Missbrauch?
P. Hans, 35 Jahre alt, ist geistlicher Begleiter einer 30-jährigen Frau, die getrennt lebt von ihrem Mann. Während der geistlichen Begleitung stirbt die Mutter von P. Hans. Für P. Hans bedeutet der Tod der Mutter, die in der Nähe des Klosters wohnte, zu der er oft telefonisch Kontakt hatte und die er auch oft besuchen konnte, einen großen Verlust. In seiner Klostergemeinschaft wird der Tod seiner Mutter zur Kenntnis genommen, es wird eine Messe für sie gelesen und der eine oder andere fragt ihn, wie es ihm damit gehe. Es gibt niemanden in seiner Gemeinschaft, mit dem er sich wirklich über den Verlust austauschen kann. Er ist traurig und fühlt sich alleine und alleine gelassen. Die junge Frau, die er begleitet, spürt seine Trauer und Einsamkeit. Sie bietet ihm ihre Hilfe an und er geht darauf ein. Sie treffen sich immer öfter, umarmen sich dabei, streicheln sich und schließlich schlafen sie miteinander. Bei P. Hans führt das kurz darauf zu so starken Schuldgefühlen, dass er sowohl die sexuelle Beziehung als auch die geistliche Begleitung abbricht. Die Frau verlässt die Gegend und P. Hans hört über 15 Jahre nichts mehr von ihr, bis ihn eines Tages der Leiter des Klosters zu einem Gespräch bittet und ihm mitteilt, die besagte Frau habe Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs gegen ihn erstattet. Während der vergangenen 15 Jahre hatte P. Hans seinen Dienst im Kloster und in der Seelsorge zur vollen Zufriedenheit seiner Oberen und der Menschen, für die er da war, ausgeübt.
Bei dem sexuellen Verhalten von P. Hans handelt es sich nicht nur um eine Verletzung der Zölibatsverpflichtung, sondern auch um sexuellen Missbrauch. Von sexuellem Missbrauch spricht man, wenn die sexuelle Intimsphäre einer Person von jemandem, der emotional, körperlich oder spirituell Einfluss oder Macht über diese Person ausübt, überschritten bzw. nicht respektiert wird. Bei dem Missbraucher kann es sich um einen Erwachsenen handeln, der in der Absicht, dadurch sexuell er- regt zu werden, mit einem Minderjährigen sexuellen Kontakt unterhält. Um Missbrauch handelt es sich auch, wenn ein Erwachsener zu einem anderen Erwachsenen sexuellen Kontakt sucht und dieser sexuelle Kontakt von der anderen Person nicht gewollt ist oder nicht kontrolliert werden kann.
Gefälle in der Beziehung
Durch die Beratungssituation kommt P. Hans eine besondere Rolle zu, die mit Autorität, Einfluss und gegebenenfalls auch Macht verbunden ist. Das aber heißt, es besteht ein Gefälle in der Beziehung. In der Rolle des Beraters befinde ich mich in einer Position, in der ich Einfluss auf jemanden habe, der sich mir gegenüber eröffnet und durch seine Offenheit verletzbar macht. Das Verhalten von P. Hans wird durch den Kontext, hier die geistliche Begleitung, zum sexuellen Missbrauch. Hätten sich die beiden nicht in einer Beratungs- oder Seelsorgesituation getroffen und wären eine sexuelle Beziehung eingegangen, so wäre das zwar eine Zölibatsverletzung, nicht aber ein sexueller Missbrauch gewesen. Auch wenn die junge Frau von sich aus offen war für eine sexuelle Beziehung, trifft die volle Schuld P. Hans, weil er es ist, der im Kontext der Beratung die Verantwortung dafür trägt, dass es zu keiner Grenzverletzung kommt.
Andere Beispiele, die verdeutlichen, wann ein bestimmtes sexuelles Verhalten zum sexuellen Missbrauch wird, sind unter anderem: der Vater, der eine sexuelle Beziehung zu seinem Kind unterhält; der Novizenmeister, der eine sexuelle Beziehung zu einem Novizen eingeht; der Chef, der gegenüber einer von ihm abhängigen Angestellten sexuell übergriffig wird; der Kaplan, der nach der Gruppenstunde die minderjährige Ministrantin küsst und fest an sich drückt. Entscheidend ist, dass dieses Verhalten von einem der Beteiligten nicht gewollt ist, unter Zwang durchgeführt wird oder nicht kontrolliert werden kann.
Weitere Beispiele, die vor dem Hintergrund der bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in vielen Internaten und Schulen eine besondere Aktualität erhalten haben, sind die Fälle, in denen ein Erzieher oder Lehrer seine Machtstellung ausnutzt, um mit einem Schüler, einer Schülerin seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. In der augenblicklichen Situation steht die Berichterstattung über brutale Grenzüberschreitungen durch Lehrer und Erzieher im Vordergrund. Doch Grenzüberschreitungen im Lehrer-Schüler-Verhältnis können bereits auf eine subtilere Weise geschehen.
Immer wieder taucht, vornehmlich in Boulevardpresse, Film oder Fernsehen, die folgende Konstellation auf: Eine Schülerin verliebt sich in ihren gut aussehenden Lehrer. Ein anderes Beispiel ist die Lehrerin, die von ihrer einzigartigen Liebe zu einem minderjährigen Schüler schwärmt. Es handelt sich dann oft um Darstellungen, die die Gemüter in die eine oder andere Richtung aufbringen. Die Verstrickung, die subtile Dynamik und das Ausmaß an Grenzverletzungen und seelischem Schaden, die dabei eine Rolle spielen, kommen nicht zum Ausdruck oder werden allenfalls angedeutet.
Ein Aspekt, der, wenn es um den Missbrauch von Schülern geht, besonderer Beachtung bedarf (auch weil er oft übersehen oder bewusst heruntergespielt wird), bezieht sich genau auf das Gefälle in der Beziehung Lehrer-Schüler. Da gibt es den Lehrer, der für den Schüler da ist, dem der Schüler anvertraut ist und der kraft seiner Tätigkeit und seines Amtes mit Autorität, Einfluss und Macht ausgestattet ist. Dort ist der Schüler, dem etwas gegeben wird, der dem Lehrer »ausgesetzt« ist, ihm gegenüber jedenfalls keine Machtbefugnis besitzt. Die Situation ist vergleichbar der des Therapeuten zum Klienten oder der des Seelsorgers zum Gemeindemitglied.
Die entscheidende Konsequenz, die sich aus dieser speziellen Beziehungsdynamik und dem für sie typischen Beziehungsgefälle ergibt, ist, dass der Lehrer die Verantwortung dafür trägt, wenn es zu Grenzverletzungen innerhalb dieses
Beziehungsgefüges kommt. Entschuldigungen, die man oft bei sexuellen Grenzverletzungen hört, etwa die Schülerin habe das gewollt oder provoziert, entbinden ihn nicht von seiner Verantwortung. Er gilt auch dann als Täter.
Das Opfer
Welche Dynamik liegt dem Missbrauch zugrunde? Werfen wir zunächst einmal einen Blick auf das Opfer. Bei der jungen Frau, die von P. Hans begleitet wurde, ist die Fähigkeit, Grenzen zu ziehen bzw. die eigenen Grenzen zu schützen, beeinträchtigt. Im Kontext der Beratung öffnet sie sich. Sie will den Berater an ihrem Leben teilhaben lassen. Die Grenzen, die sie sonst anderen gegenüber einhält, setzt sie für die Zeit der Beratung aus bzw. lockert sie im Vertrauen auf ihren Begleiter.
Bei minderjährigen Opfern sexueller Grenzüberschreitung und sexuellen Missbrauchs nutzen die Täter oft die Schwächen der ihnen Anvertrauten aus: ihre sexuelle Unerfahrenheit; die emotionale Verunsicherung in der Pubertät; Krankheiten oder Verletzungen; Familienprobleme wie Scheidung, Tod oder Armut; die Abwesenheit eines Vaters (vgl. Podles 2008, 243ff). Am verwerflichsten ist die »fromme Schiene«, die Täter benutzen, um ihr Ziel zu erreichen. Bei den Eltern handelt es sich oft um sogenannte gute Katholiken, die den Priester auf ein Podest stellen und es als ein Privileg betrachten, dem Priester besonders nahe zu stehen. Diese Eltern wünschen, dass ihr Sohn fromm ist und mit dem Priester in einer engen Beziehung steht. Sie könnten es nicht ertragen, dass schlecht über den Priester gesprochen wird. Ihre sexuellen Aktivitäten betten die Täter in einen spirituellen Kontext ein. So verläuft etwa das Gespräch eines Priesters mit einem achtjährigen Jungen folgendermaßen:
? »Nun schau mal«, sagt er. »Liebst du Gott?« Der Junge: »Natürlich liebe ich Gott.«
Der Priester: »Wenn du Gott liebst, dann gibt es ganz bestimmte Dinge, die du zu tun hast. Bist du dir sicher, dass du Gott liebst, denn er will, dass du einige ganz schwierige Dinge tust. Du weißt, als du geboren wurdest, warst du ohne Kleider. Nun, ich will dir deine Liebe zu Gott zeigen, indem ich dich ausziehe, so wird Gott wissen, dass du hier bist, so wie du hier warst, als du geboren wurdest.« (Podles 2008, 249)
Der Täter
Schauen wir auf den Täter, dann könnten im Falle von P. Hans der Tod seiner Mutter und die damit einhergehende Erfahrung tiefer Trauer und Einsamkeit der aktuelle Anlass für seinen sexuellen Übergriff sein. Damit geht einher, dass P. Hans in seiner klösterlichen Gemeinschaft die Erfahrung von Intimität vermisst, die sich in einem echten Interesse und der Sorge füreinander in einer von Vertrauen getragenen Atmosphäre zeigt. Er fühlt sich in seiner Gemeinschaft nicht wirklich aufgehoben und getragen.
Dazu kommt, dass er nicht fähig ist, die Grenzen, die er sich selbst mit der Verpflichtung zum ehelosen Leben gesetzt hat, und die Grenzen, die ihm durch den Kontext der geistlichen Beratung in Bezug auf die von im begleitete Person gesetzt sind, einzuhalten. Ihm geht offensichtlich die psychische Reife ab, die ihn befähigen würde, die Intimsphäre einer anderen Person zu respektieren und sein eigenes Verhalten der anderen Person gegenüber entsprechend zu kontrollieren.
Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch im kirchlichen Bereich
Männer
Der erste Risikofaktor für sexuellen Missbrauch besteht darin, ein Mann zu sein (vgl. Pontifica Academia Pro Vita 2004, 51). Auch wenn es immer wieder sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Frauen gibt, sind es doch vorwiegend Männer, die Minderjährige sexuell missbrauchen. Das relativ hohe Ausmaß an sexuellem Missbrauch durch Priester lässt sich also auch von daher erklären, dass nur Männer zu Priestern geweiht werden.
Sexuell unreife homosexuelle bzw. bisexuelle Männer
Der zweite Risikofaktor sind sexuell unreife homosexuelle bzw. bisexuelle Männer. Ich spreche ganz bewusst nicht von homosexuellen Priestern und Ordensleuten an sich, sondern von unreifen homosexuellen Männern, die sich von Buben und männlichen Jugendlichen sexuell angezogen fühlen. Das ist nicht typisch für Homosexuelle an sich. Immer wieder wird daher die Frage gestellt, ob es einen Zusammenhang zwischen Pädophilie und Homosexualität gibt. Auf diese wichtige Fragestellung gehe ich im fünften Kapitel ausführlich ein.
Daneben gibt es Priester, die männliche Minderjährige - Kinder oder Jugendliche - missbrauchen, sich also homosexuell verhalten, ohne dass das heißen muss, dass sie tatsächlich homosexuell sind. Sie haben sich nicht wirklich mit ihrer Sexualität und ihrer sexuellen Identität auseinandergesetzt und sind daher auch nicht in der Lage, eine klare Aussage darüber zu machen, ob sie homosexuell oder heterosexuell sind. Unter ihnen dürften sich auch Priester befinden, die bisexuell sind.

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