Vorwort
Ich wollte ein Buch über die Versöhnung mit den Eltern schreiben. Davon gibt es schon einige, auch sehr gescheite. Ein Gedanke brachte mich weiter: Versöhnung ist ein großes Thema, es bedeutet, sich von den kleinen und großen Konflikten, den sich permanent wiederholenden Klagen über die Eltern zu verabschieden. Versöhnung ist grundsätzlich eine Haltung allen Menschen und dem Leben gegenüber. Das wurde mir deutlich, als ich mir die etymologischen Bedeutungen verschiedener Begriffe angesehen habe, die in diesem Zusammenhang immer wieder gebraucht werden: verzeihen, vergeben, versöhnen und entschuldigen.
Versöhnung, das Versöhntsein, ist in erster Linie ein Gefühl. Aus diesem Grund gibt es viele Geschichten in diesem Buch, die es nicht nur als Fachbuch auszeichnen, sondern auch als Lesebuch. Wie kann man ein Gefühl besser darstellen für Menschen, die es (noch) nicht haben, als wenn man ihnen eine Geschichte erzählt? In der Psychotherapie hat sich das Erzählen von Geschichten als außerordentlich hilfreich erwiesen. Eine schier unerschöpfliche Quelle solcher Geschichten sind die Bücher des argentinischen Psychiaters und Gestalttherapeuten Jorge Bucay.
Natürlich vergesse ich dabei nicht, dass die Hauptsache in der Psychotherapie darin besteht, Geschichten zu hören – und sie umzuschreiben oder weiterzuerzählen. Über einen gewissen Zeitraum sind Patientin und Therapeutin Autoren von und Akteure in der gleichen Geschichte. Ich erzähle also in diesem Buch Geschichten, um deutlich zu machen, wie sich Versöhnung anfühlt. Manche ist wohl dabei, die geradezu eine Sehnsucht nach Versöhnung hervorrufen kann.
In der Psychotherapie ist das Thema der Versöhnung noch zu selten im Mittelpunkt. Das ist verständlich, da es in erster Linie um die Verletzungen geht, die die Patienten erlitten haben und die Therapeuten auf der Seite der Opfer stehen (müssen). Auch ist es schwierig, bei Patienten, die sich als Opfer fühlen, von Versöhnung zu sprechen, da der Therapeut dann als Aggressor erlebt werden kann und sich selbst so empfindet. Es ist leichter, sich mit dem verletzten Kind zu verbinden. Diese Identifikation kann auch aufgrund eigener, nicht genügend aufgearbeiteter Geschichte des Therapeuten geschehen. So ergab eine Umfrage im Rahmen einer Doktorarbeit, dass ungefähr 90 Prozent aller Psychotherapeuten in ihrer Kindheit keine sichere Bindung erfahren haben. Wir haben es also oft mit verletzten Helfern zu tun, die ihre eigene Versöhnung noch nicht abgeschlossen haben (vgl. Schröder, Annette und Reis, Dorota). Dieser persönliche Hintergrund kann besonders junge Therapeuten unbewusst dazu bewegen, als bessere Eltern für ihre Patienten zu agieren und Partei gegen die Eltern zu ergreifen, statt an Verständnis und Versöhnung zu arbeiten.
Anmerkung: Persönlich eine schwierige, leidvolle Kindheit erlebt zu haben, ist eher ein Vorteil für einen Therapeuten. Wichtig ist der Grad der Verarbeitung und der Versöhnung mit der eigenen Geschichte. Und auch das ist ein Prozess, der nicht mit der Ausbildung zum Psychotherapeuten abgeschlossen ist.
Ein anderes Hindernis für die Arbeit an der Versöhnung ist der Mangel an Theorie. Mit wenigen Ausnahmen ist jede psychologische oder psychoanalytische Theorie eine, die mehr oder weniger schematisch Entwicklungsschritte und deren Störungen beschreibt – und außerdem zu früh endet. Ausnahmen bilden hier die Entwicklungspsychologie Eriksons und Teile der jungianischen Theorie, vielleicht auch die Individualpsychologie Alfred Adlers (1870 – 1937). Adler geht davon aus, das Wesentliche am Menschen sei, dass er Entscheidungen treffen könne. Manche Entscheidungen sind unbewusst, aber bewusstseinsfähig. Sein Schüler Rudolf Dreikurs formulierte diesen Aphorismus: »Wenn du wissen willst, was du willst, musst du schauen, was du tust.« Dreikurs drückt damit aus, dass jedes Handeln (und Fühlen) zielgerichtet ist, so eben auch das Sich-Versöhnen oder Nicht-Versöhnen.
Ich habe als theoretische Grundlage dieses Buches die unterschiedlichen Ansätze miteinander in Beziehung gesetzt. Dabei habe ich mich weitgehend an die Klassiker wie Mahler, Erikson und Bowlby gehalten. Die Ego-State-Therapie, die der neueste Ansatz in dieser Reihe ist, nimmt nicht für sich in Anspruch, eine Theorie zu sein. Sie entwickelte sich aus der Traumatherapie, zu der es auch keine geschlossene Theorie gibt. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Ich fühle mich immer noch sehr verbunden mit den Theoretikern der ersten und zweiten Generation. Viele ihrer Theorien stecken ungenannt in den neueren Ansätzen, manchmal modifiziert und unserer Zeit angepasst. (Aber wie heißt es so schön? Man muss das Rad nicht immer wieder neu erfinden.)
Auch wenn dieses Buch ein Fachbuch ist, habe ich mich bemüht, die Theorien so darzustellen, dass sie auch für Laien verständlich sind. Dabei habe ich manche Zusammenhänge vereinfacht dargestellt. Sollten mir hierbei Fehler unterlaufen sein, bitte ich dafür um Entschuldigung. Auch für einen entsprechenden Hinweis bin ich dankbar. Ebenso wichtig war mir, dass, obwohl kein Ratgeber im eigentlichen Sinn, dieses Buch auch Hilfe anbieten kann für Menschen, die aus eigener Kraft an sich arbeiten – und sich versöhnen – wollen. Außerdem gilt es anzumerken, dass dieses Buch nur in eingeschränkter Form für Menschen mit massiven Traumatisierungen gedacht ist, besonders, wenn diese in der Kindheit geschehen sind. Bei singulären Traumatisierungen (wie Unfälle, einzelne Übergriffe) kann es den Betroffenen sehr helfen, das Geschehene hinter sich zu lassen.
Für die Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches möchte ich mich bei einigen Menschen bedanken: Mein Dank gilt allen Patienten, die mir ihre Geschichte zur Verfügung gestellt haben, meinen Freundinnen M., K. und E. (die nicht namentlich genannt werden möchten) für ihre Geschichten und Hinweise. Er gilt auch meinen Söhnen für Geschichten und technische Arbeit an dem Text und meinem Mann, der mit Geduld meine manchmal komplizierten Sätze korrigiert und einen guten Blick für Fehler jeder Art hat. Außerdem bedanke ich mich besonders bei meiner Lektorin Frau Dr. Treml-Begemann – dies ist nun unser drittes Buch! Von ihr ist außerdem die Idee, den Gedanken Versöhnung mit den Eltern weiter zu fassen.
Kurze Versöhnungsgeschichte 1
Der Gesang der Vögel
Es war vor zehn Jahren, als ich diese Melodie zum ersten Mal hörte. Ich war nach dem vorangegangenen Cellokonzert emotional schon sehr aufgeweicht. Das Cello ist ein Instrument, mit dem meine Seele direkt zu kommunizieren scheint. Aber auch das übrige Publikum war begeistert, so sehr, dass der norwegische Cellist Truls Mørk eine kurze Zugabe gab. Dabei handelte es sich um eine ruhige Melodie, die etwas ungemein Anrührendes und Traurig-Schwebendes hatte. Nach dem Konzert erfuhr ich, dass es sich um El cant dels ocells, ein Weihnachtslied, gehandelt hatte. Ich fand heraus, wie der berühmte katalanische Cellist Pau (Pablo) Casals mit diesem Lied verbunden war. Im Freiheitskampf der katalanischen Bevölkerung Spaniens wurde es zur Hymne.
Damals hatte ich gerade seit wenigen Monaten Gesangsunterricht und wollte dieses Lied gern singen. Ich erzählte verschiedenen Menschen von meiner Neuentdeckung, und anlässlich eines Abendessens schenkte mir eine Bekannte, selbst Musikerin, ein Blatt mit Text und Noten dieses Liedes mit den Worten: »Das ist ein schönes Lied, aber du kannst es nicht singen, es ist zu schwierig für dich.«
Also legte ich das Blatt enttäuscht und ein wenig verletzt beiseite – und vergaß es. Nach einigen Jahren holte ich es wieder hervor. Es war wirklich schwierig. Die Notierung, die mir Sabine geschenkt hatte, war viel zu hoch für meine Altstimme – und die unbekannten Sprachsilben den Noten zuzuordnen, gelang mir auch nicht.
Meine Gesangslehrerin transponierte das Lied für mich, und ich entdeckte im Internet die Interpretation von Lluís Llach, einem katalanischen Schriftsteller und Sänger, zum Dahinschmelzen. Wieder und wieder hörte (und höre) ich mir dieses Lied an. Langsam entschlüsselten sich mir Musik und Text. Endlich gelang es mir, die erste Strophe ganz...