EINLEITUNG
CAPTAIN TURNER TRIFFT EINE ENTSCHEIDUNG
Am 1. Mai 1915, einem Samstag, macht ein Luxusliner um 12.30 Uhr die Leinen los. Vom Pier 54 am Hudson River in Manhattan aus geht es nach Liverpool in England. Sicherlich war einigen der 1959 Passagiere und der Besatzung an Bord des riesigen britischen Schiffes nicht ganz wohl, was eher an der Zeit lag als an den Gezeiten.
Großbritannien befand sich im Krieg gegen Deutschland, im Sommer vergangenen Jahres war der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Erst kürzlich hatte Deutschland das Seegebiet um die Britischen Inseln zur Kriegszone erklärt – das Schiff musste genau dort durch. In den Wochen, die der geplanten Abfahrt vorausgingen, hatte die deutsche Botschaft in den USA sogar Anzeigen in amerikanischen Zeitungen geschaltet, um die potenziellen Passagiere zu warnen: Diejenigen, die die Gewässer »auf Schiffen aus Großbritannien oder seinen Verbündeten [befahren], tun dies auf eigene Gefahr«.1
Nur wenige Passagiere stornierten daraufhin ihre Überfahrt. Schließlich hatte dieses Linienschiff schon mehr als 200 Transatlantiküberquerungen ohne Zwischenfälle hinter sich. Es war eines der größten und schnellsten Passagierschiffe der Welt. Zur Ausrüstung an Board gehörten ein kabelloser Telegraf sowie Rettungsboote in ausreichender Anzahl (man hatte aus dem Untergang der Titanic drei Jahre zuvor gelernt). Außerdem, und das war vielleicht das Wichtigste, stand der Ozeanriese unter dem Kommando von Captain William Thomas Turner, einem der erfahrensten Seeleute der Passagierschifffahrt. Der schroffe 58-Jährige hatte im Laufe seiner Karriere zahlreiche Auszeichnungen erhalten und verfügte über »die Statur eines Banksafes«2.
Das Schiff überquerte fünf ereignislose Tage lang den Atlantischen Ozean. Aber als sich das massige Dampfschiff am 6. Mai der Küste Irlands näherte, erfuhr Turner, dass sich in diesem Gebiet deutsche U-Boote befanden. Umgehend verließ er das Kapitänsquartier und stellte sich auf die Brücke, um von dort den Horizont abzusuchen und schnell Entscheidungen treffen zu können.
Am Freitagmorgen, dem 7. Mai, befand sich das Schiff nur noch 100 Meilen von der Küste entfernt, als dichter Nebel aufzog, woraufhin Turner die Geschwindigkeit von 21 Knoten auf 15 Knoten drosseln ließ. Gegen Mittag hatte sich der Nebel gelichtet, und in der Ferne konnte Turner die Küste ausmachen. Der Himmel war klar. Die See war ruhig.
Jedoch bemerkte der deutsche U-Boot-Kommandant Walther Schwieger gegen 13 Uhr den Passagierdampfer, ohne dass der dortige Captain oder die Crew davon etwas mitbekamen. Im Laufe der nächsten Stunden traf Turner zwei unverständliche Entscheidungen. Zunächst erhöhte er die Geschwindigkeit des Schiffes nur ein wenig, nämlich auf 18 Knoten, jedoch nicht auf die Maximalgeschwindigkeit von 21 Knoten, obwohl die Sicht gut und die See ruhig war und er wusste, dass ihnen U-Boote auflauern könnten. Während der Überfahrt hatte Turner den Passagieren versichert, er werde das Schiff so schnell wie möglich nach Europa lenken, und bei Maximalgeschwindigkeit könne der Ozeanriese jedes U-Boot mit Leichtigkeit abhängen. Zweitens führte Turner gegen 13.45 Uhr eine sogenannte Vier-Punkt-Peilung zur Positionsbestimmung durch. Diese nahm 40 Minuten in Anspruch, obwohl es auch ein einfacheres Verfahren zur Kurskorrektur gab, das nur fünf Minuten gedauert hätte. Aufgrund dieses Verfahrens musste Turner das Schiff auf gerader Linie lenken, anstatt einen Zickzackkurs zu wählen, mit dem er etwaigen U-Booten samt ihrer Torpedos am besten hätte ausweichen können.
Um 12.10 Uhr wurde das Schiff an der Steuerbordseite von einem deutschen Torpedo getroffen, der ein gewaltiges Loch in den Rumpf riss. Es entstand eine riesige Wasserfontäne, die Ausrüstung und Schiffsteile an Deck schleuderte. Einige Minuten später lief ein Kesselraum voll Wasser, dann der nächste. Diese Zerstörung löste eine weitere Explosion aus. Turner wurde über die Reling geschleudert, schreiende Passagiere liefen zu den Rettungsbooten. Danach, nur 18 Minuten nach dem Treffer, kippte das Schiff auf die Seite und begann zu sinken.
Nachdem er die angerichtete Verwüstung in Augenschein genommen hatte, fuhr U-Boot-Kommandant Schwieger hinaus aufs Meer. Er hatte die Lusitania versenkt.
Dieser Angriff kostete fast 1200 Menschen das Leben, von den 141 Amerikanern an Bord überlebten nur 18. Dieser Vorfall sorgte dafür, dass der Erste Weltkrieg eskalierte, dass die Gesetze der Kriegsschifffahrt neu geschrieben wurden und dass im Weiteren die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten. Aber was genau vor einem Jahrhundert an diesem Nachmittag im Mai passierte, ist bis heute ein Geheimnis. Zwei Untersuchungen, die unmittelbar im Anschluss an das Unglück durchgeführt wurden, brachten keine zufriedenstellenden Ergebnisse. Die Resultate der ersten Untersuchung wurden von den britischen Behörden zurückgehalten, um Militärgeheimnisse zu schützen. Die zweite Analyse durch John Charles Bingham entlastete Captain Turner und die Schifffahrtsgesellschaft. Der britische Jurist, auch als Lord Mersey bekannt, hatte ebenfalls den Untergang der Titanic untersucht. Pikanterweise zog sich Lord Mersey einige Tage, nachdem die Anhörungen abgeschlossen waren, von dem Fall zurück und lehnte jedes Honorar für seine Leistungen ab. »Der Fall Lusitania war ein verdammtes, dreckiges Geschäft!«, so Bingham einige Zeit später.3 Im letzten Jahrhundert haben sich Journalisten mit Zeitungsartikeln und den Tagebüchern der Passagiere beschäftigt, ebenso haben Taucher versucht, anhand des Wrackes Schlüsse zu ziehen, was damals wirklich geschehen ist. Sowohl Autoren als auch Filmemacher produzieren weiterhin Bücher und Dokumentationen, die vor Spekulationen nur so strotzen.
Hatte Großbritannien vorgehabt, die Lusitania einer Gefahr auszusetzen, oder gab es sogar eine Konspiration, das Schiff zu versenken, um damit die USA in den Krieg hineinzuziehen? Wurde der Passagierdampfer, der mit kleinkalibriger Munition beladen war, in Wahrheit zum Transport größerer und gefährlicherer, geheimer Waffen für die Briten benutzt? War Großbritanniens wichtigster Mann der Marine, ein 40-Jähriger namens Winston Churchill, irgendwie an dem Vorfall beteiligt? War Captain Turner, der den Untergang überlebte, nur eine Schachfigur im Spiel einflussreicherer Männer, nur »ein Dummkopf, [der] das Unglück anzog«, wie ihn ein überlebender Passagier beschrieb? Oder hatte er einen kleinen Schlaganfall erlitten, der sein Urteilsvermögen beeinträchtigte, wie andere behaupteten? Handelte es sich bei den Untersuchungen und Ermittlungen, deren umfänglichen Berichte bis heute unveröffentlicht geblieben sind, um massive Verschleierungsversuche?4
Mit Bestimmtheit kann das niemand sagen. Mehr als 100 Jahre investigativer Journalismus, historische Analysen und reine Spekulationen konnten bisher keine endgültigen Antworten geben. Aber vielleicht gibt es auch eine einfache Erklärung, die bisher nur keine Beachtung fand. Vielleicht hat Captain Turner, betrachtet aus der noch neuen Perspektive der Verhaltenswissenschaften und Biologie des 21. Jahrhunderts, einfach ein paar falsche Entscheidungen getroffen, die zu einem der größten Unglücke der Seeschifffahrt führten. Und vielleicht waren diese Entscheidungen deswegen so schlecht, weil er sie am Nachmittag traf.
In diesem Buch geht es um Timing. Wir wissen alle, wie wichtig der richtige Zeitpunkt ist. Allerdings wissen wir nicht viel über das Timing an sich. Im Laufe des Lebens müssen wir ununterbrochen Entscheidungen über das »Wann« treffen: Wann suchen wir uns einen neuen Job, wann übermitteln wir jemandem eine schlechte Nachricht, legen einen Termin für einen Kurs fest, lassen uns scheiden, gehen joggen oder widmen uns ernsthaft einem Projekt oder einer Person? Doch kommen die meisten dieser Entscheidungen aus dem diffusen Dunst aus Intuition und Raterei. Timing, so glauben wir, sei eine Kunst.
Ich möchte zeigen, dass das Finden des richtigen Zeitpunktes in Wirklichkeit eine Wissenschaft ist – immer mehr Ergebnisse aus verschiedenen und interdisziplinären Untersuchungen bieten dazu neue Einsichten über den Menschen. Darüber hinaus liefern sie einen nützlichen Leitfaden für effektiveres Arbeiten und ein besseres Leben. Geht man in einen beliebigen Buchladen oder in eine Bibliothek, stehen dort Regalmeter voller Ratgeber, wie man Dinge tun kann – wie man Freunde findet, andere beeinflusst oder innerhalb eines Monats lernt, Tagalog zu sprechen. Ständig werden neue Bücher publiziert, sodass die Zahl allein ihre Kategorie »Wie man …« braucht. Betrachten Sie dieses Buch als ein vollkommen neues Genre – ein Buch zum Thema »Wann«.
In den letzten beiden Jahren habe ich mit zwei furchtlosen Forschern mehr als 700 Studien gelesen und analysiert. Sie berücksichtigten die Disziplinen Wirtschaft, Anästhesiologie, Anthropologie, Endokrinologie,...