2. Kapitel
Die internationale Expansion der Bruderschaft
Die Beatles und die Hells Angels
Ausgerechnet den Beatles wird ein großer Anteil an der Entstehung des ersten Hells-Angels-Charters in Europa zugeschrieben. Durch reißerische Presseberichterstattung und von Hollywood-Filmen inspiriert, eiferten viele junge Männer in europäischen Metropolen den Höllenengeln nach und wünschten sich, ein offizieller Hells Angel zu werden. Doch zwischen San Francisco und London liegen über 8000 Kilometer.
George Harrison lud 1969 Mitglieder des Hells Angels Motorcycle Club San Francisco nach London ein und ermöglichte so den ersten direkten transatlantischen Kontakt. Zwei Londoner Aspiranten auf eine Anwärterschaft besuchten daraufhin die kalifornischen Charter und erhielten am 30. Juli 1969 die Erlaubnis, die beiden Charter East London und South London zu gründen, welche 1973 zu einem Charter zusammengeführt wurden. Die Londoner Angels traten als Sicherheitskräfte bei britischen Underground-Festivals auf.
Auf dem europäischen Festland donnerten die Harleys mit dem Deathhead zuerst durch die Straßen von Zürich. Maßgeblichen Anteil daran hatte Martin »Tino« Schippert, eine schillernde Szenefigur der Schweizer 68er-Bewegung und gleichzeitig Bandenchef im Züricher Kriminellenmilieu. Seine Gangkarriere begann mit der Gründung einer Halbstarken-Bande, der »Rächer Basel«, bis er schließlich Anführer der »Rächer« in Zürich wurde, die sich später »Revengers« nannten und ihren Namen nach einiger Zeit in »Lone-Stars« abänderten. Die Gruppe strebte den amerikanischen Höllenengeln nach und nähte ohne Absprache den Schriftzug der Hells Angels zusätzlich zu ihrem eigentlichen Namen auf ihre Kutten. Als Cisco Valderrama, einer der führenden Männer des Charters Oakland, dies erfuhr, intervenierte er angesichts dieser Markenrechtsverletzung. Daraufhin entsandten die Schweizer eine Abordnung in die USA und absolvierten eine Zeit als Prospects, um sich als würdig zu erweisen, den Totenkopf mit Flügeln offiziell zu tragen. Dies bescheinigten ihnen die Amerikaner am 20. Dezember 1970. Zürich wurde somit offizielles Charter des Hells Angels MC und Tino Schippert wurde sein erster Präsident.
Tino verkehrte mit dem Schweizer Autor und Publizisten Sergius Golowin ebenso wie mit dem Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, der in den »Wilden auf den Motorrädern« die Sehnsucht nach dem Unbürgerlichen ausgedrückt sah.
Die Behörden warfen Tino im Lauf seines Werdeganges vor, in Drogen-, Waffen- und Diamantenhandel sowie in illegale Goldgeschäfte verwickelt gewesen zu sein. Nach staatsanwaltlichen Ermittlungen setzte er sich in den Nahen Osten ab, wurde inhaftiert, ausgeliefert und floh erneut. Zu dieser Zeit brach er mit den Hells Angels und verstarb im Alter von nur 35 Jahren unter ungeklärten Umständen in dem abgelegenen südamerikanischen Dorf Tutilimundi bei bolivianischen Indios.
Der geflügelte Totenkopf erreicht Deutschland
Ende der 50er- und Anfang der 60er-Jahre entstand in Deutschland in Anlehnung an britische und US-amerikanische Vorbilder eine neue Jugendsubkultur mit verschiedensten Ausprägungen: Teds, Mods, Hippies und etwas später Punks und Rocker. Schlägereien untereinander und mit Unbeteiligten, Vandalismus und Rabaukentum verunsicherten Politik und Öffentlichkeit, die diese Phänomene als »Halbstarken-Krawalle« brandmarkten. Fast jede Jugendbewegung verschwand über kurz oder lang wieder, doch die Rocker überdauerten und bewiesen, dass sie keine bloße Modeerscheinung waren.
Viele Rocker schlossen sich in den ersten Motorcycle Clubs zusammen, die sich überall in Deutschland gründeten. Bei vielen Clubs der ersten Stunde waren auch in Deutschland stationierte US-Soldaten aktiv, andere gaben sich möglichst martialisch klingende amerikanische Namen. So zum Beispiel einige Jungs in Hamburg, die unter dem Color »Bloody Devils« die Region unsicher machten und schon bald im gesamten norddeutschen Raum dafür berüchtigt waren, Wirtschaften zu demolieren und Passanten zu überfallen. Wie ihre amerikanischen Vorbilder traten die Rocker aus der Hansestadt in einem Film auf: Klaus Lemke gelang mit Die Rocker ein Kultfilm im Deutschland der 70er-Jahre.
Die Hamburger Bloody Devils strebten jedoch nach Höherem und wollten unbedingt den Deathhead auf ihrer Kutte tragen. Drei Hamburger reisten 1972 nach Kalifornien, um bei der Keimzelle der Bruderschaft, dem Oaklander Charter unter Sonny Barger, vorstellig zu werden. Erst am 16. März 1973 erhielten sie die Erlaubnis, das vollständige Color mit Deathhead, Top Rocker und Bottom Rocker zu tragen.
Die ersten Toten auf deutschem Boden
Das Hamburger Charter der Hells Angels benötigte dann nicht einmal mehr einen Monat, um bundesweit traurige Berühmtheit zu erlangen. Am 14. April 1973 gerieten einige von ihnen in Streit mit einem 20-jährigen Gemeindehelfer. Dessen Vergehen bestand darin, dass er dabei geholfen hatte, drei Rocker aus dem Jugendkeller der Apostelkirche zu verweisen. Diese kehrten mit Verstärkung zurück und ließen ihre Wut an dem Gemeindehelfer aus. Er brach unter Schlägen und Messerstichen zusammen und verstarb. Neun Höllenengel wurden später wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu Strafen zwischen 3,5 und 4,5 Jahren Gefängnis verurteilt.
Die Hamburger Hells Angels nahmen sich unterdessen in ihrer Heimatstadt, was ihnen ihrer Ansicht nach zustand – die Polizeibehörden sprachen von Schutzgelderpressungen. Ihr Gebietsanspruch reichte von der Sternschanze bis zur Reeperbahn und waren einzelne Betreiber von dem gewalttätigen Ruf, der den Hells Angels vorauseilte, noch nicht genügend eingeschüchtert, halfen diese erfindungsreich nach.
Der Inhaber des damaligen In-Lokals »Pickenpack« schilderte ihr Auftreten folgendermaßen: »Sie erbrachen sich am Tresen, warfen mit Lebensmitteln und zwangen eine Frau, ihnen die schmutzigen Stiefel zu lecken. Als ein hoher Verwaltungsrichter versuchte, die Rocker zu stoppen, wurde er verprügelt.« Der Wirt und andere Gastronomen der Schanzenstraße, in der die Rocker auch ihr Clubheim »Angels Place« eingerichtet hatten, zahlten bis zu 10 000 DM monatlich, um von den Aufmerksamkeiten der Höllenengel verschont zu werden.
Die Hamburger Hells Angels trieben auch die Expansion und Internationalisierung der Vereinigung voran. Nach einer Schlägerei gegen die Kopenhagener Rockergruppe Galloping Gooses waren sie von deren Schlagkraft so beeindruckt, dass sie die Männer den amerikanischen Höllenengeln als erstes skandinavisches Charter empfahlen. So entstand aus ehemals feindlichen Kämpfern am 31. Dezember 1980 die erste dänische Dependance der Angels, die später in den 90er-Jahren in dem blutigen skandinavischen Rockerkrieg eine entscheidende Rolle spielen sollte.
Auch ein Amsterdamer Motorcycle Club verdankt seinen Aufstieg in das Netzwerk der Protektion des Hamburger Charters. Die Niederländer empfingen bereits im Oktober 1978 das offizielle Patch.
Dann ereignete sich ein weiterer folgenreicher Gewaltexzess. Auf der Insel Sylt feierte zu Ostern 1980 der dortige MC Storm Rider sein zweijähriges Bestehen. Unter den Gästen befand sich auch eine Abordnung des Hamburger Hells-Angels-Charters. Der Ärger begann am Ostersamstag in der »Rainbow-Bar« mit Pöbeleien und demoliertem Mobiliar. Solches Verhalten wollte sich der Geschäftsführer der nächsten Saufstation auf der Insel nicht bieten lassen. Der 37-jährige Mann schmiss kurzerhand zwei angetrunkene Angels aus der Diskothek »Riverboat«. Gegen 5.20 Uhr kehrte das Rollkommando zurück und nahm Rache für das Hausverbot. Ein zu Hilfe kommender 27-jähriger Kellner überlebte den folgenden Gewaltausbruch schwer verletzt, der Geschäftsführer dagegen verblutete infolge von Messerstichen in Leber und Nieren.
Dieser Tote würde nun zumindest das Ende des offiziellen Hamburger MC bedeuten, dessen war man sich in der Stadt sicher.
Natürlich rückte die Bluttat das Hamburger Charter nicht nur in den Fokus der Öffentlichkeit, sondern auch der Strafverfolgungsbehörden, und die ermittelten sorgfältig und umfangreich. Die hanseatischen Beamten brauchten bis zum 11. August 1983, um genügend Beweise gegen die Hells Angels zu sammeln.
Für den größten Polizeieinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg bot die Hamburger Polizei über 500 Beamte auf. Sie durchsuchten 80 Lokale, Bordelle und Wohnungen in und um die Stadt – darunter auch das »Angels Place« auf der Sternschanze – und verhafteten 24 Mitglieder. Die polizeiliche Aktion reichte sogar bis in die Schweiz und zog dort 14 Durchsuchungen und sechs weitere Festnahmen nach sich.
Das folgende Gerichtsverfahren, bei dem auch etliche hochrangige Mitglieder beschuldigt wurden, bezog sich auf den Totschlag in Sylt ebenso wie auf die andauernden Schutzgelderpressungen. Es dauerte bis zum Jahr 1986, bis ein Deal zwischen der Justiz und den 28 Rechtsanwälten der Gegenseite das Mammutverfahren plötzlich beendete. Ergebnis: 13 relativ milde Schuldsprüche mit Haftstrafen von sechs Monaten auf Bewährung bis zu sieben Jahren Gefängnis.
Für ein Verbot der Gruppe nach § 129 Strafgesetzbuch (»Bildung einer kriminellen Vereinigung«) reichten die Beweise laut Gericht nicht aus. Da das Hamburger Charter jedoch als eingetragener Verein registriert war, sprachen die Behörden ein Verbot gemäß dem Vereinsgesetz aus. Das Verbot wurde 1988 höchstrichterlich vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt und hat nach wie vor Bestand. Es bezieht sich aber allein auf das Tragen des Color der Hells Angels,...