Lebensgrundlage Kindheit
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen – und die persönliche Erfahrung jedes einzelnen älteren Lesers wird das bestätigen –, dass die ersten 18 Lebensjahre subjektiv als ebenso lang empfunden werden wie der gesamte Rest des späteren Lebens. In der ersten Klasse Volksschule erscheinen Hauptschule oder Gymnasium fast unerreichbar weit entfernt zu sein. Und ich erinnere mich noch sehr gut an die ersten Jahre im Gymnasium, als das Ziel der Matura nicht und nicht näher kommen wollte. Ich dachte, dass eher mein Leben vergehen würde, als dass ich je die Reifeprüfung ablegen würde können – vielleicht lag das auch daran, dass ich ein schlechter Schüler war. Wenn ich heute an meine damaligen Gedanken und die unendliche Langsamkeit zurückdenke, mit der die Zeit damals verstrichen ist, dann denke ich mir oft: Es wäre schön, das Wissen des gereiften Menschen mit dem langsamen Zeitempfinden eines Kindes kombinieren zu können.
Man sagt, dass alte Menschen oft in der Vergangenheit leben. Und meine medizinische Erfahrung bestätigt, dass demente Patienten, sofern sie noch ein Erinnerungsvermögen haben, sich am ehesten in ihrer Kindheit und Jugend zurechtfinden. So kann es durchaus vorkommen, dass ein 87-jähriger Patient nicht mehr weiß, wo er sich befindet und welches Datum geschrieben wird, er sich aber genau an ein Geschenk zu seinem sechsten Geburtstag erinnern kann. Der Schenker z.B. eines hölzernen blauen Autos ist zwar längst verstorben, das Spielzeug längst verschwunden, aber das Erlebnis war offensichtlich so intensiv, dass es selbst im schwerkranken, längst nicht mehr richtig funktionierenden Gehirn immer noch präsent ist. Und doch hat ein Vater in den 1920er Jahren das Spielzeugauto seinem Sohn lediglich zum sechsten Geburtstag geschenkt und nicht zur späteren Erinnerung im 87. Lebensjahr.
Dieses Beispiel zeigt zum einen, wie wichtig die Kindheitsereignisse für ein ganzes Leben bleiben. Zum anderen aber auch, wie wenig erwachsene Menschen an die Langzeitfolgen ihrer Handlungen gegenüber kleinen Kindern denken. So staunen Eltern bei Konflikten mit ihrem pubertierenden Nachwuchs oft nicht schlecht, welch ungeheuer detaillierte Erinnerung Jugendliche an ihre Kindheit haben und wie präzise sie ihren Eltern bestimmte Ereignisse und Aussagen auch viele Jahre später noch vorhalten können. Und jeder erwachsene Mensch entdeckt in seiner persönlichen Lebenserinnerung immer wieder wegweisende und einschneidende Momente in seiner Kindheit, deren Bedeutung für das spätere Leben zum damaligen Zeitpunkt nicht absehbar war.
Welche Bedeutung die erste Lebensphase eines Menschen hat, erkennt man auch, wenn man die Entwicklung von Gehirn und Nervensystem betrachtet. Zum Zeitpunkt der Geburt ist zwar der Großteil der ca. 100 Milliarden Nervenfasern im Gehirn angelegt, die Verknüpfung untereinander, die Reifung der Nervenscheiden und die Herstellung der Funktionsfähigkeit zu einem vollwertigen menschlichen Gehirn finden aber großteils erst in den nächsten zwei bis drei Jahren statt. Dabei enthält das Gehirn eines zweijährigen Kindes ebenso viele Synapsen (also Verknüpfungen von zwei oder mehreren Nervenzellen) wie das eines Erwachsenen. Der Höhepunkt der Vernetzung von Nervenfasern wird im dritten Lebensjahr erreicht, zu diesem Zeitpunkt ist die Zahl der Synapsen ca. doppelt so hoch wie später beim erwachsenen Menschen. Während bei einem Neugeborenen noch die angeborenen Reflexe für die Stillung von grundlegenden Bedürfnissen verantwortlich sind, entwickeln sich Nervensystem und Gehirn bis zum Alter von ca. zwei Jahren so weit, dass das Kind menschliche Bedürfnisse bewusst und gezielt wahrnehmen und artikulieren oder in die Tat umsetzen kann.
Das bedeutet, dass das Gehirn eines Säuglings und Kleinkindes enormen Veränderungen unterliegt, während das Erwachsenengehirn sich anatomisch-physiologisch kaum noch verändert. Während der ersten zwei bis drei Lebensjahre finden also kontinuierlich und sukzessiv die Vernetzung von Nervenfasern, ihre Reifung und die Ausbildung jenes Nervensystems statt, das die Gattung Mensch so einzigartig macht.
Ein besonderes Kennzeichen des neuen menschlichen Lebens (sowohl im Mutterleib als auch in den ersten Jahren nach der Geburt) ist eine sehr hohe Zellteilungsrate, nicht nur in Bezug auf Gehirn und Nervenzellen, sondern in Bezug auf den gesamten menschlichen Körper. Diese häufige Zellteilung ist die Grundlage für das körperlich-organische Wachstum und die kontinuierliche psychische Reifung, bedeutet auf der anderen Seite aber auch eine hohe Anfälligkeit für Störungen und Missbildungen sowohl im körperlichen als aber auch im psychischen Bereich. Schon längst wissen wir, dass erste und frühe, ja selbst intrauterine Prägungen ein ganzes Leben lang Grundlage und Fundament für die weitere psychische Entwicklung bilden.
Besondere Bedeutung kommt dabei wiederum den Nervenzellen zu. Die Nervenzellen des heranwachsenden Fötus reagieren aufgrund ihrer hohen Teilungsrate besonders empfindlich auf Schädigungen. Neurotoxisch, also giftig für Nervenzellen, wirken insbesondere der Genuss von Alkohol, die unkontrollierte Einnahme von Schmerzmitteln und anderen Medikamenten sowie das Rauchen von Tabakprodukten.
Wenn man also davon ausgeht, dass sein hochentwickeltes Gehirn das Besondere am Menschen darstellt und ihn letztlich vom Tier unterscheidet, gewinnt die Tatsache, dass es sich bereits beim Embryo (Entwicklung der Leibesfrucht bis zur neunten Schwangerschaftswoche) und später beim Fötus (Embryo nach der Ausbildung der inneren Organe ab der neunten Schwangerschaftswoche bis zur Geburt) im Mutterleib entwickelt und Informationen aufnimmt, wesentlich an Bedeutung. In diesen ersten Lebenstagen, -wochen und -monaten fällt die rasante Entwicklung des Gehirns mit den ersten Wahrnehmungen und Erfahrungen zusammen, die der noch ungeborene Mensch macht. Das Wort „Impression“ beschreibt diesen neurochemischen Prozess im wahrsten Sinne des Wortes perfekt: Gefühle, Stimmungen, Bedürfnisse und Ängste werden dem Menschen zwar später nicht mehr erinnerlich sein, prägen sich aber dennoch ein und werden in Form von neuronalen Strukturen und biochemischen Prozessen abgespeichert.
Wesentliche Bedeutung in der Phase der frühkindlichen Prägung haben sowohl visuelle als auch akustische Signale. Im Innenohr werden akustische Signale, die in Form von Schallwellen auf das Trommelfell auftreffen, in elektrische Nervenimpulse umgewandelt. Erst diese können vom Gehirn wahrgenommen werden. Dabei geht es aber nicht nur um die Lokalisierung einer Schallquelle, sondern auch um die Beschaffenheit des Gehörten und um die Zuordnung eines entsprechenden Gefühls. Während ein Pressluftbohrer die Ausschüttung von Stresshormonen bewirkt, wird die Vorlesestimme der Mutter oder des Vaters vom Kind als beruhigend und sehr oft auch einschläfernd aufgenommen. Unsere Sprache hat für diese neurologischen Tatsachen das sehr passende Wort „Stimmung“ gefunden: Das bedeutet, dass die Stimmen von Mutter und Vater eine jeweilige Stimmung beim Kind erzeugen, die je nach Intensität und Stimmlage unterschiedlich ausfallen. Je früher also ein Kind möglichst viele Stimm- und Stimmungslagen seiner Eltern kennenlernt, umso besser wird es mit verschiedenen Stimmungen umgehen können.
Vereinfacht könnte man zusammenfassen: Die emotionalen und menschlichen Erlebnisse, die ein Kleinkind an seinem ersten Lebenstag macht, sind doppelt so bedeutend für seine persönliche Entwicklung wie die des zweiten. Und die des zweiten Lebenstages wiederum wiegen doppelt so schwer wie die des dritten usw.
Gleichzeitig bedeutet das auch: Die Verantwortung der Eltern für die Entwicklung ihres Kindes ist umso bedeutender, je jünger das Kind ist. Würde man die elterliche Verantwortung in eine mathematische Funktionskurve übersetzen, so würde diese im zeitlichen Verlauf von einem Maximum zu Beginn des Lebens ausgehen und dann laufend abflachen, bis sie zum Zeitpunkt des Todes der Eltern die Nulllinie erreicht.
Ein altes Sprichwort lautet: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
Aber betrachten wir einmal den Umkehrschluss, nämlich: Was Hänschen lernt, verlernt Hans nimmermehr. Dann sollte uns bewusst werden, welche Tragweite unser Verhalten den uns anvertrauten Kindern gegenüber hat.
Meine Mutter hatte eine panische Angst vor Hornissen. Wann immer ein solches Insekt in unserer Nähe auftauchte, mussten wir Kinder im Kinderzimmer verschwinden, die Tür wurde sorgfältig von außen geschlossen. Drei Hornissen könnten ein Pferd töten, und schon ein einziger Hornissenstich könnte ein Menschenleben beenden – so hat es meine Mutter offensichtlich gelernt, und so hat sie es an uns Kinder weitergegeben. Auch heute noch, als 58-jähriger Arzt, der um die Harmlosigkeit des Hornissengiftes Bescheid weiß, fällt es mir schwer, ruhig zu bleiben, wenn eine Hornisse an mir vorbeifliegt. Es scheint also sehr schwer zu sein, in der Kindheit gelernte Verhaltensmuster später zu korrigieren, selbst wenn man sie als falsch oder unangemessen erkannt hat. Nicht einmal ein Psychologe könnte mir meine tiefsitzende Angst vor Hornissen nehmen.
Der logische Schluss dieser Überlegungen lautet: Eltern und Erziehungsberechtigte müssen sehr vorsichtig sein, wie sie mit den ihnen überantworteten Kindern umgehen, wie sie den Nachwuchs erziehen, was sie Kindern sagen, wie sie es sagen und was nicht. Aber gleichzeitig dürfen sie auch nicht in die gegenteilige Falle tappen: nämlich dass sie vor lauter Panik, was sie alles anrichten und falsch machen könnten, überängstlich werden, einen Erziehungsperfektionismus an den Tag legen, an dem sie nur scheitern, und nicht mehr authentisch als...