1. Scham, Schuld und Wut
1.1 Scham, Schuld und Wut
„Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen lösen,
die zu seiner Entstehung beigetragen haben.“
Albert Einstein
Mein Interesse an Wut, Schuld und Scham wurde geweckt, als ich Folgendes bemerkte: Dass es oft herausfordernd ist, mit diesen Gefühlen umzugehen, liegt an einer bestimmten Art zu denken. Diese Denkweise findet sich in den meisten heutigen Kulturen und kann daher als eine übergreifende „Kultur innerhalb der Kulturen“ angesehen werden. Hinter diesem Denken verstecken sich Gefühle und Bedürfnisse, die wir manchmal vergessen, da wir eher damit beschäftigt sind, die Dinge in „richtig“ und „falsch“ einzuteilen, als darauf zu achten, was wir tatsächlich brauchen. Das Ermutigende daran ist: Wenn wir uns diese Zusammenhänge bewusst machen, können wir neue Denk- und Verhaltensweisen entwickeln.
Die Annahmen, auf denen dieses Buch begründet ist, sind folgende:
Scham, Schuld und Wut sind im Grunde lebensdienliche Signale.
Wir haben diese Signale bislang missverstanden.
Wir müssen sie neu interpretieren, um sie konstruktiv nutzen zu können.
Solange wir nach jemandem suchen, dem wir die Verantwortung für unsere eigenen Gefühle aufbürden können, wird uns die wichtige Botschaft dieser Gefühle entgehen. Daher sollten wir uns klarmachen, dass wir Scham, Schuld und Wut bislang falsch interpretiert haben und nun nach neuen Deutungen suchen. Wenn wir die Bedürfnisse hinter diesen Gefühlszuständen wahrnehmen, wird es leichter werden, mit unserer Wut, unserer Schuld und unserer Scham umzugehen. Denn haben wir einmal den Kontakt zu unseren Bedürfnissen hergestellt, werden belastende Gefühle plötzlich zu Wegweisern, die uns dabei unterstützen, Kontakt mit uns selbst und anderen aufzunehmen.
Was das Erforschen von Wut, Schuld und Scham so interessant macht, ist die enge Verknüpfung dieser Gefühle mit unseren gelernten Urteilen darüber, was richtig und was falsch, was passend und was unpassend, was unnormal und was normal ist. Man kann diese Gefühlszustände als „Restprodukte“ einer Lebensweise bezeichnen, die nicht an unsere tatsächlichen Lebensumstände angepasst ist. Im Kern dieser Restprodukte finden sich natürliche Gefühle und Bedürfnisse.
Wut, Scham und Schuld sind nützliche Signale dafür, dass wir uns Denkmuster zu eigen gemacht haben, die nicht lebensdienlich sind und daher unvermeidlich diese Restprodukte hervorbringen. Wir profitieren also davon, diese Gefühle ganz bewusst wahrzunehmen, denn sie machen uns darauf aufmerksam, auf welchem System sie basieren, und zeigen uns, wie wir von den Glaubenssätzen dieses Systems beeinflusst werden.
Vielleicht sind wir der Ansicht, dass jeder Einzelne lernen muss, mit seiner Wut, Schuld und Scham umzugehen. Oder aber wir machen das System für diese Gefühle verantwortlich. Viel interessanter ist jedoch, dass diese Gefühle uns verraten können, wie wir Veränderungen bewirken und unsere Lebensweise umstellen können, damit uns diese „Restprodukte“ weniger zu schaffen machen. Wie können wir in unserem eigenen Inneren, aber auch in Familien, Schulen und anderen Gesellschaftsstrukturen, ein lebensdienlicheres Klima gestalten? Ein erster Schritt wäre es, eine Sprache zu entwickeln, die uns eher auf die inneren Prozesse von Menschen aufmerksam macht, statt auf „richtig“ und „falsch“ zu pochen. So könnten wir beginnen, auf eine Weise zu leben, die die Bedürfnisse aller im Blick behält.
1.2 Wie unsere Denkmuster Probleme hervorrufen
Im Kern jeden Ärgers findet sich ein Bedürfnis, das nicht erfüllt ist.So kann Ärger sehr wertvoll sein,
wenn wir ihn als Wecker nehmen, der uns aufweckt – um zu realisieren, dass wir ein unerfülltes
Bedürfnis haben und dass unsere Art zu denken dessen Erfüllung unwahrscheinlich macht.
Marshall Rosenberg[1]
Immer wieder begegnen uns Ärger, Scham und Schuld als Probleme, als etwas Unangenehmes, dem wir lieber ausweichen möchten. Stellen Sie sich jemanden vor, der es sich zur Gewohnheit gemacht hat, im Bett zu rauchen. Jedes Mal wenn das Bett brennt und der Rauchmelder losgeht, zieht diese Person völlig entnervt in ein neues Haus. Genau das tun wir, wenn wir Ärger, Scham und Schuld um jeden Preis vermeiden wollen. Statt unsere Energie darauf zu verwenden, diese Gefühle loszuwerden, können wir sie als einen inneren Feuermelder betrachten, der uns mitteilt, dass es irgendwo „brennt“. Sie signalisieren, dass wir besonders aufmerksam sein sollten – und zwar nicht gegenüber den Gefühlen selbst oder dem Wunsch, sie loszuwerden, sondern gegenüber dem, was sie uns mitteilen wollen.
Ärger, Scham und Schuld signalisieren, dass unerfüllte Bedürfnisse in uns schlummern. Die Denkmuster, die diese Gefühle hervorrufen, helfen uns jedoch selten dabei, auch die dahintersteckenden Bedürfnisse wahrzunehmen und zu erfüllen. Im Gegenteil, sie lenken uns sogar davon ab, denn meist suchen wir fieberhaft nach einem Schuldigen, statt zu ergründen, was wir in diesem Moment tatsächlich brauchen.
Scham und Schuld leben von Denkmustern, die uns sagen, dass wir „schlecht“ sind, dass wir etwas „falsch“ gemacht haben und uns eigentlich anders verhalten sollten. Und wenn wir es leid sind, uns selbst die Schuld zu geben, wechseln wir einfach die Perspektive und suchen nun den Fehler bei anderen. Dann werden wir wütend, Adrenalin strömt durch unseren Körper, wir fühlen uns vital und lebendig. Dieses pulsierende Gefühl kann uns zu dem Irrglauben verleiten, wir seien ganz nah am Leben selbst, dabei sind wir nicht einmal in Kontakt mit unseren innersten, lebensbejahenden Bedürfnissen. Da wir unsere tatsächlichen Bedürfnisse nicht wahrnehmen, laufen wir Gefahr, auf eine Weise zu handeln, die weder uns noch anderen auf Dauer zugutekommt.
Waren wir eine Weile ärgerlich, pendeln wir häufig wieder zurück zu Schuld- oder Schamgefühlen – besonders wenn wir verinnerlicht haben, dass es falsch ist, Wut zu empfinden. Haben wir gedroht, beschuldigt, Forderungen gestellt oder unserem Gegenüber auf andere Art gezeigt, was wir an seinem oder ihrem Verhalten falsch finden, schämen wir uns häufig, suchen die Fehler wieder bei uns selbst – und finden sie auch. Wir glauben dann, uns unpassend, unreif und unvorsichtig verhalten zu haben oder nehmen an, wir seien dumm und egoistisch.
Haben wir uns wiederum lange genug selbst traktiert und sind nicht länger in der Lage, uns für schlecht zu halten, schlägt das Pendel erneut in die andere Richtung aus. Wieder richten wir unsere Wut durch Urteile und Forderungen nach außen. Dieses Hin und Her wird schließlich zu einem Teufelskreis, aus dem wir nur schwer wieder herausfinden.
Eine Studie zur Scham von United Minds zeigt, dass wir uns am stärksten schämen, wenn wir zuvor wütend waren[2] – besonders wenn der Ärger gegen unsere Kinder gerichtet war. Der Wissenschaftler Alfie Kohn bringt diese Pendelbewegung auf den Punkt, wenn er ein Elternteil folgendermaßen zitiert: „Ich erlaube meinen Kindern alles, bis ich sie nicht mehr ausstehen kann; dann werde ich so autoritär, dass ich mich selbst nicht ausstehen kann.“[3]
Wenn sie untersuchen würden, in welchem Ausmaß Gewalt zwischen Menschen mit Ärger beginnt, wären die meisten Menschen über das Ergebnis erstaunt. Sie würden nämlich entdecken, dass Wut trotz der ihr innewohnenden Explosivität und entgegen allen Vermutungen gar nicht der Gefühlszustand ist, der am häufigsten zu Gewalt führt. Ich behaupte, dass hinter den Gewalttaten der Menschen immer ein demütigendes Erlebnis steckt und dass einige der allen Menschen gemeinsamen Bedürfnisse (meist Respekt oder Akzeptanz) nicht erfüllt worden sind. Niemand dreht durch und wird gewalttätig, ohne sich zuvor auf irgendeine Art und Weise gekränkt gefühlt zu haben. Wir wissen nicht, wie wir die Scham und die Demütigung aushalten sollen, sodass sogar Gewalt zur Option wird. Ein Krieg ist kein Ausdruck explosiver Wut, sondern wurde meist zuvor strategisch durchdacht. Offiziere, die in Kriegssituationen aus einer starken Wut heraus agieren, werden hinterher häufig degradiert oder auf andere Weise bestraft. Männer, die ihre Lebenspartnerinnen schlagen, planen häufig genau, wann und wie sie das tun werden. Selten resultiert diese Gewalt aus einem plötzlichen Wutausbruch.[4]
1.3 Probleme oder Möglichkeiten
Du sollst deinen Göttern danken
für den harten Zwang,
da du ohne Fußspur
irrst auf deinem Gang.
Du sollst deinen Göttern danken
für den schweren Schlag[5],
da du keine Zuflucht
hast bei Nacht und Tag.
Du sollst deinen Göttern danken
für die zersprengende Qual.
Wirklichkeit und Kern
bleibt dir nur zur Wahl.
Karin Boye[6]
Kleine Kinder sind sehr sensibel; ich sehe diese angeborene Verletzlichkeit als eine Art feinkalibrierte Scham an. Wie ein „Bedürfnis-Thermostat“, der auf unsere Umwelt reagiert, uns auf innere und äußere Zustände aufmerksam macht und uns an lebenswichtige Bedürfnisse wie gegenseitigen Respekt, Integrität und Gemeinschaft erinnert. So hilft uns die Verletzlichkeit zu lernen, wie wir in Einklang mit anderen Menschen leben können.
Erst wenn unsere natürliche Verletzlichkeit auf kulturell geprägte Denkmuster trifft, führt sie zu einem unangenehmen Schamgefühl. Vielleicht ist es an der...