Teil I: Für Eltern, Erzieher und Therapeuten (S. 9-10)
In Teil I wird auf die Erscheinung und Diagnostik der Zwangsstörung, ihre Besonderheiten, Risikofaktoren, die Entwicklung der Störung, ihre Therapie und den Therapieverlauf eingegangen.
1 Erscheinungsbild und Besonderheiten von Zwängen
1.1 Harmlose Marotten und zwanghafte Gewohnheiten
Marotten, das sind Anflüge von zwanghaft erscheinendem, ritualisiertem Verhalten, die jeder kennt: Mal wird das Zimmer penibel aufgeräumt, mal klopfen wir auf Holz und sagen dabei Toi-toi-toi. Viele Kinder versuchen, nicht auf die Fugen von Platten zu treten, weil sie glauben, damit Unglück zu verhindern. Einige setzen auf glückbringende Zahlen oder wiederholen Reime und Beschwörungsformeln. Um Glück herauf zu beschwören, zupfen sie Blütenblätter eines Gänseblümchens ab und skandieren dabei „sie liebt mich, sie liebt mich nicht, sie liebt mich ...“. Manchmal geht einem eine bestimmte Melodie, ein Gedanke oder eine Redewendung den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf.
Jeder hat bisweilen besorgte Gedanken, die zu Schreckreaktionen führen, etwa beim Fliegen „Luftlöcher – wir stürzen gleich ab!“ oder auf der Autobahn „Der Laster vor uns schert aus!“ oder beim Blick auf den Kalender „Morgen ist Freitag, der 13.!“ Die meisten Menschen schrecken auf bei dem plötzlichen Gedanken, die Wohnungstür sei noch offen, das Bügeleisen an oder der Computer nicht ausgeschaltet.
Normalerweise werden solche Gedanken sofort als überzogen erkannt. Manchmal sind es spielerische Gewohnheiten, zumindest ist den Betroffenen dabei klar, dass in Wirklichkeit nichts Ernsthaftes geschieht. Sie können die vorgestellte Katastrophe eínfach abschütteln, mit einem Seufzer der Erleichterung quittieren oder schmunzelnd beenden. Damit ist für sie die Sache erledigt. Bei Personen mit einer Zwangsstörung ist das anders: Sie fühlen sich weiterhin bedroht. Infolgedessen müssen sie sich immer wieder rückversichern, dass auch wirklich nichts Schlimmes passiert.
Neben Marotten und sorgenvollen Gedanken gibt es noch gewohnheitsmäßige Abläufe oder Rituale, die Zwängen scheinbar ähneln. Rituale oder lieb gewordene Gewohnheiten sind wichtige Bestandteile des Lebens. Oft mildern sie unsere Alltagsängste ab. Gute-Nacht-Rituale – mit Vorlesen, Geschichtenerzählen oder Beten – vermitteln Kindern ein Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Zugehörigkeit. Bei geregelten Mahlzeiten nach dem Kindergarten oder der Schule erzählen Kinder ihre besonders bewegenden Erlebnisse, erfahren dabei Anteilnahme und werden gefühlsmäßig entlastet.
Das abendliche Zubettgeh-Ritual wird mit Duschen und Zähneputzen eingeleitet. Mit einem Ritual beginnt auch der nächste Tag. Alltägliche Rituale strukturieren den Tag und geben somit Orientierung und Halt. Zahllose festliche Rituale – an Geburtstagen, Weihnachten, Ostern, bei der Einschulung, Kommunion, Konfirmation, Eheschließung und Beerdigung – sind Gelegenheiten für reichhaltige emotionale Erlebnisse und binden den Einzelnen enger in das Gemeinschaftsleben ein.
Demgegenüber sind zwanghafte Gedanken, Verhaltensweisen und Rituale höchst unangenehm und belastend. Alltägliche Rituale, Verhaltensweisen und Gedanken gehen in zwanghafte Gewohnheiten über, sobald Kinder oder Jugendliche einen inneren Drang verspüren, unbedingt und immer wieder auf eine bestimmte Art und Weise zu reagieren. Andernfalls fühlen sie sich unwohl, befürchten Unheil und geraten in einen Erregungszustand. Aus diesem Grund werden Zwänge zu den Angststörungen gerechnet.