2 Schlechte Gedanken
»Es wäre ganz einfach für mich, ihm das Küchenmesser in den Leib zu rammen.« Die meisten Menschen haben derlei Gedanken. Man nennt sie unerwünschte, aufdringliche oder auch intrusive Gedanken. Die meisten Menschen sprechen nicht über ihre intrusiven Gedanken.
Zumindest so lange nicht, bis Psychologen sich die Mühe machen, sie danach zu fragen. Wenn sie befragt werden, dann stellt sich, wie diverse Studien zeigen, heraus, dass neun von zehn Menschen zugeben, solche aufdringlichen Gedanken zu haben, die sie quälen, verwirren und schockieren. Die meisten kennen den Gedanken, den Wagen von der Straße zu lenken. Ein Drittel sagt, sie würden daran denken, Geld an sich zu raffen. Statistisch gesehen verspüren mehr als vier von zehn Menschen den Drang, aus großer Höhe nach unten zu springen, ein Impuls, der so verbreitet ist, dass er seinen eigenen wissenschaftlichen Namen hat: High Place Phenomenon. Die Hälfte aller Frauen und acht von zehn Männern stellen sich Fremde nackt vor, während die Hälfte aller Menschen an Geschlechtsakte denkt, die sie eigentlich für »ekelhaft« halten. Aufdringliche Gedanken hat so gut wie jeder. Doch erst Ende der 1970er-Jahre fiel dies überhaupt jemandem auf. Damals machten der in Südafrika geborene Psychologe Stanley Rachman und sein srilankischer Kollege Padmal de Silva eine erstaunliche Entdeckung. Die beiden hatten sich vorgenommen, das Wesen von Zwangsgedanken zu ergründen. Dabei stellten sie fest, dass anscheinend viele normale Menschen dieselben seltsamen Gedanken und Impulse hatten wie Patienten mit einer Zwangsstörung.
Diese Patienten verspürten den Drang, andere Menschen zu beleidigen und körperlich anzugreifen. Wie sich herausstellte, galt dasselbe auch für ihre eigenen Freunde. Die Patienten berichteten davon, dass sie den Impuls hatten, Menschen unter Züge und Busse zu stoßen, aus großer Höhe nach unten zu springen und absichtlich ihr Auto zu Schrott zu fahren. Dasselbe galt für die eigenen Kollegen. Beide Gruppen hatten Vorstellungen von Gewalt während des Sex, dachten, sie könnten ein Verbrechen begangen haben, von dem sie in den Nachrichten gehört hatten, und hegten irrationale Ängste, sie könnten kontaminiert worden sein, z. B. durch Strahlung oder Asbest.
Die Psychologen hielten die seltsamen Gedanken der an Zwangsstörungen leidenden Patienten und der »normalen« Mitarbeiter auf Karteikarten fest. Als sie dann die Karten mischten, konnten selbst die Kollegen mit der größten klinischen Erfahrung nicht mehr korrekt unterscheiden, welche Gedanken dem verstörten Geist der als geistig krank eingestuften Patienten entsprungen waren und welche von den hoch angesehenen Menschen stammten, mit denen sie zusammenarbeiteten und gesellschaftlich verkehrten.
Meine Zwangsstörung begann mit einem intrusiven Gedanken, einer Schneeflocke, die vom Sommerhimmel fiel. »Sollen wir nach oben gehen?«, hatte das Mädchen mich gefragt. Sie war hübsch mit ihrem langen, dunklen Haar, das sie sich aus den Augen streichen musste, als wir uns küssten. Die Haut ihrer Arme war weich und ihre Hände kamen mir so klein vor. Sie war älter als ich, was sie jedoch nicht wusste. Ihre Frage: »Du bist nicht im ersten Jahr, oder?«, ließ mir nicht viel Spielraum für meine Antwort. Ich hatte auch in puncto Studiengang gelogen. Ich wusste wenig über die Französische Revolution, doch das kam bei ihr besser an als Chemieingenieurwesen. Auch vom Chemieingenieurwesen wusste ich wenig, aber ich studierte es ja auch erst seit ein paar Monaten.
Ich war 18 und ein glücklicher Hochschulstudent. Das wirkliche Leben lag auf Eis und die Zeit war ausgefüllt mit Nächten voller Spaß und Tagen mit Vorlesungen über Strömungsmechanik und Mathematik. Ich hatte wenig Ahnung, was ein Chemieingenieur tut, aber das war mir egal. Das betraf die Zukunft. Und im Moment fühlte es sich gut an, nur über den nächsten Tag nachzudenken.
Es war im November 1990 im Norden Englands. Sie trug ein schlabbriges weißes T-Shirt zu einem lila Rock, schwarzen Leggings und Doc-Martens-Stiefeln. Ich freute mich über meine neu gewachsenen Koteletten und hoffte, sie würde sie erwähnen. Doch als wir schließlich vom Campus der Universität auf das benachbarte Labyrinth von Reihenhäusern zusteuerten, wurde mir klar, dass sie es nicht tun würde. Wir redeten und redeten, über Musik und unsere Freunde. Wir erreichten ihr Haus, und als sie mich einlud, mit hereinzukommen, und die Haustür hinter uns schloss, winkte mir eine neue Welt.
Es war eine dieser eiskalten Nächte, die so typisch sind für Leeds und auf die man in Yorkshire so stolz ist. Der Gasofen in ihrer Küche erzeugte mehr Licht als Wärme und die Kälte zog in alle Knochen. Nach oben zu gehen klang gut.
»Hattest du Sex mit diesem Mädchen?«, fragte mein Freund Noel am nächsten Tag.
»Ja«, log ich.
»Hast du ein Kondom benutzt?«
»Nein.«
»Du könntest Aids haben.«
»Du spinnst doch!«
Hatte ich Sex mit diesem Mädchen gehabt? Nein. Hatten wir ein Kondom benutzt? Nein. Hatte ich mich mit Aids infizieren können? Unsinn! Doch ich hatte noch nicht einmal über die Gefahr nachgedacht, trotz aller Warnungen. Beim nächsten Mal sollte ich vorsichtiger sein, dachte ich, als ich Noel an jenem Abend einen ausgab. Ich hätte vorsichtiger sein sollen. In den nächsten Monaten kam mir eben dieser Gedanke – du könntest Aids haben – von Zeit zu Zeit wieder in den Sinn, doch jedes Mal gelang es mir, ihn zu vertreiben. Du spinnst doch! Bis zu jener warmen Nacht im August 1991.
Ich hatte Semesterferien und war unterwegs zum Haus meiner Eltern, als der Gedanke ohne Vorwarnung wieder auftauchte. Du könntest Aids haben. Nur, dass ich den Gedanken dieses Mal nicht beiseiteschieben und auch nicht die Panik unterdrücken konnte, die er auslöste. »Du spinnst doch« erschien mir plötzlich eine unangemessene Reaktion auf das Ausmaß der Gefahr, die möglichen Konsequenzen. Ich könnte Aids haben. Und wenn ich es hatte, war ich verloren. Mein Leben war vorbei, noch bevor es richtig begonnen hatte. Schlimmer noch: Egal was ich tat, egal was andere auch sagten, ich konnte es nicht ändern. Sie konnten mich nicht davon befreien. Ich hatte die Macht über mein eigenes Schicksal verloren. Als ich versuchte, den Gedanken – die Schneeflocke – zu vertreiben, entwand sie sich meinem mentalen Griff und setzte sich fest. Schon bald gesellte sich zu ihr noch eine und noch eine und noch eine. Der Schneesturm, der dann folgte, blies in jeden Winkel meines Gehirns und legte über alles eine Decke.
Ich rang nach Luft, als ich das Fenster in meinem stickigen Schlafzimmer öffnete. Ich hörte das Summen von Insekten, als ich das Licht löschte. Ich sah die rote Leuchte der Stereoanlage, die noch lief, seit ich sie am Nachmittag, als ich auf demselben Bett lag, eingeschaltet hatte – was jetzt eine Ewigkeit her zu sein schien. In panischer Angst riss ich die Poster mit den Eselsohren von der Wand. Warum ich? Ich hatte so große Angst, dass meine Fingerspitzen kribbelten. Ich erinnere mich, dass ich mir sagte, alles würde in Ordnung sein, wenn ich am nächsten Morgen aufwachte. So war das Leben nun mal – jeder hatte Nachtängste und jeder sah die Dinge am nächsten Tag in einem anderen Licht.
Die Sonne ging auf und die Fenster und Vorhänge waren immer noch weit geöffnet. Der Gedanke war immer noch da. Du könntest Aids haben. Ich ging nach unten in die Küche und frühstückte in der neuen Welt, die ich von diesem Tag an bewohnen sollte, dem ersten vom Rest meines Lebens. Ich beobachtete, wie meine Eltern am Küchentisch etwas aneinandergerieten, und dachte, wie traurig sie sein würden, wenn ich tatsächlich Aids hatte. Ich beschloss dann, es ihnen nicht zu sagen. Ich ging wieder nach oben in mein Schlafzimmer, vergrub das Gesicht im Kopfkissen und weinte. Ich könnte Aids haben.
Die zwanghaften Gedanken bei einer Zwangsstörung unterscheiden sich von jenen, die für andere Seelenqualen typisch sind. Bei wiederkehrenden, quälenden Gedanken handelt es sich nicht immer um Zwangsgedanken – zumindest nicht im klinischen Sinn. Unser Verstand kann zum Beispiel von übertriebenen, quälenden Gedanken darüber beherrscht werden, ob unser Kind überleben und es in dieser Welt zu etwas bringen wird, oder von lähmenden Ängsten vor einem Examen oder der Fahrprüfung, doch Gedanken wie diese stehen im Einklang mit den Regeln und Rhythmen unseres Lebens. Wir wollen, dass unser Kind glücklich ist. Wir wollen Prüfungen bestehen. Wir können uns nonstop Sorgen darüber machen, ob wir vielleicht unseren Job verlieren, tun dies aber nur, weil wir wissen, dass wir das Geld, das wir damit verdienen, brauchen, um unsere Familie zu ernähren, etwas, was wir instinktiv als richtig empfinden.
Gedanken wie diese sind »egosyntonisch« (völlig akzeptabel/nicht krankhaft). Sie stehen im Einklang mit dem, was uns antreibt und motiviert. Egosyntonische Gedanken können uns unglücklich machen, doch wenn sie dies tun, liegt dies nicht an den Gedanken selbst, sondern an ihrem Inhalt. Wir fragen uns nicht, wieso wir sie haben. Zuweilen nehmen wir es anderen sogar übel, dass sie nicht so intensive egosyntonische Gedanken haben wie wir. »Ich kann nicht glauben, dass du das bis zur letzten Minute hinausgeschoben hast.« »Es ist erst einen Monat her. Natürlich vermisse ich ihn noch immer.«
Im Extremfall können solche egosyntonische Gedanken psychische Störungen verursachen, normalerweise Angstzustände. Doch in ihrem Kern sind die meisten Ängste rational. Ebenso die dunklen Gedanken der Depression: das endlose Grübeln über externe Ereignisse, das...