Anmut
Auf einer Photographie von August Sander aus dem Jahr 1914 sieht man drei junge Männer über einen Feldweg gehen. Alle drei tragen Anzug, Hut und Krawatte und in der Rechten einen Spazierstock. Auf ihrem Weg halten sie inne, den linken Fuß nach vorne geschoben, den Körper kerzengerade. Über die rechte Schulter blickend, wenden sie sich dem Betrachter zu. Der dritte von ihnen, eine Zigarette zwischen den Lippen, hält ein wenig Abstand zu seinen Begleitern. Unter seinem Hut, der schräg auf dem Kopf sitzt, quillt eine Locke hervor.
Niemand, der die Photographie einmal gesehen hat, wird sie wieder vergessen. Eine zauberhafte Anmut liegt in der Haltung der drei Männer und ihren Gesichtern. Jungbauern im Sonntagsstaat ist das Bild betitelt, oder auch Bauern aus dem Westerwald auf dem Weg zum Tanz. Die allermeisten, die es heute sehen, würden nicht auf den Gedanken kommen, dass es sich bei den drei jungen Männern um Bauern handeln könnte. Bauern mit Anzug, Stock und Hut – das mutet heutzutage exotisch an. Wenn ich das schöne Wort Anmut höre, denke ich an dieses Bild.
Als Francesco Petrarca im Jahr 1333 auf seiner Reise durch Deutschland nach Köln kam, damals eine der größten Städte Europas, zeigte er sich überrascht von der Anmut der Menschen, denen er hier begegnete: «Erstaunlich für eine Stadt der Barbaren, welche Kultiviertheit, welch städtisches Gepräge, welcher Ernst der Männer, welch gepflegtes Äußere der Frauen», schrieb er an den befreundeten Kardinal Colonna in Avignon. «Denn das ganze Ufer bedeckte ein herrlicher und überaus großer Zug von Frauen. Ich wurde ganz still: Gute Götter, welch eine Schönheit der Gestalt, welch eine Vollkommenheit der Haltung!»
Wer sich heute in den Straßen deutscher Städte auf die Suche nach der Anmut macht, muss sich schon ein wenig umschauen, bis er sie findet zwischen unförmigen Anoraks, Leggins in Bonbonfarben, Jogginghosen und Turnschuhen. Höchst ungern stimme ich in den Chor der Menschen ein, die ständig rufen: «Früher war alles besser», und doch empfinde ich es als beklagenswert, dass sich die Sorge um das eigene Erscheinungsbild derart verflüchtigt hat. Robert Gernhardt hat die Anmut in den Fußgängerzonen von Nürtingen, Lübeck und Metzingen vergeblich gesucht und ihr Verschwinden bedichtet: «Wie sie kauend durch die Straßen schieben! Du musst diese Menschen nicht lieben …» Die Bequemlichkeit, heißt es, ist der größte Feind der Anmut. Und doch erscheint es mir als ein großes Missverständnis, wenn man meint, dass sich Bequemlichkeit und ein gepflegtes Aussehen per se ausschließen. Coco Chanel hat dies bereits in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts widerlegt.
Maintaining standards – dies galt lange Zeit keineswegs nur für britische Generaloffiziere in den Kolonien, die sich noch in der tropischsten Hitze nachmittags umzogen und einen Smoking anlegten, selbst wenn weit und breit kein Mensch zu sehen war. Die Aufmerksamkeit für sich selbst, das Bewahren von Haltung, wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegt – das war noch bis vor kurzem in Deutschland gar keine Frage des Standes oder des Geldes, es war für Angehörige aller Schichten eine schiere Selbstverständlichkeit. Auf Bildern aus der Weimarer Republik sieht man die Arbeiter in Zylinder und Frack demonstrieren, und in Tübingen und Frankfurt habe ich es in den Jahren 1968 und danach noch selbst erlebt: Die Studenten, die sich auf der Straße unterhakten und Auge in Auge mit der Kette der ihnen gegenüberstehenden behelmten Polizisten ihre Protestrufe skandierten, trugen selbstverständlich Anzug und Krawatte. Und am Tag des Herrn legten Arbeiter und Bauern Sonntagsstaat an.
Die Anmut darf nicht verwechselt werden mit der Schönheit, allenfalls lässt sie sich als «innere Schönheit» beschreiben. Für Friedrich Schiller war sie der Ausdruck der «schönen Seele». Denn man kann durchaus ohne einen wohlproportionierten Körper eine bella figura machen. Maria Callas – ich hatte das Glück, sie in London Ende der sechziger Jahre noch singen zu hören – erfüllte mit ihrer Stimme, ihrem Charme und ihrem Charisma jeden Saal. Sie besaß Anmut und Majestät, obwohl sie keine Schönheit im geläufigen Sinne war.
Anmut ist zeitlos und hat nichts mit Jugend zu tun. Unter den großen deutschen Schauspielerinnen und Schauspielern haben mich besonders Elisabeth Flickenschildt und Curd Jürgens beeindruckt, die gerade im Alter eine besondere Anmut ausstrahlten. Aber auch in der Politik kann man auf sie stoßen – ich denke etwa an die Grande Dame der FDP Hildegard Hamm-Brücher oder den alten Konrad Adenauer. Eine majestätische Anmut ging auch vom letzten Kaiser Äthiopiens aus, der trotz seiner Körpergröße von nur einem Meter sechzig bei seinen Staatsbesuchen zwischen de Gaulle und Nasser herausragte. Und mit jedem neuen Jahr auf dem Thron wächst die Anmut von Queen Elisabeth, die gerade auf junge Menschen überall auf der Welt eine wohl einzigartige Faszination ausübt.
In der griechischen Mythologie trägt Aphrodite, die Göttin der Schönheit, einen Gürtel, der die Kraft besitzt, dem, der ihn trägt, Anmut zu verleihen. Zu ihrer Huldigung kamen die drei Grazien. Der Gürtel der Anmut verliert auch bei den weniger Schönen nicht seine magische Wirkung. Das heißt aber auch: Man kann zwar ein wenig nachhelfen, sich schön anziehen und sich herausputzen, aber die Anmut stellt sich nicht zwangsläufig oder gar auf Befehl ein. Erst recht nicht, wenn man des Guten zu viel tut. Magie ist im Spiel. Anmutig ist ein Mensch, der sich seiner Schönheit überhaupt nicht bewusst ist. Zur Anmut gehören Beiläufigkeit, Ungekünsteltheit, Nonchalance, Sprezzatura; und wenn sie in Begleitung ihrer Schwester, der Demut, auftritt, ist sie unbesiegbar.
Kein Wunder, dass die Italiener fest davon überzeugt sind, dass die Anmut bei ihnen beheimatet ist, ein jedes Kind kennt dort das Lied von der Mücke im Abendkleid: Era una zanzara in abito da sera/se l’era messo per far bella figura/e se ne volava intorno ad una culla/una culla bella con un fiocco rosa … (Es war einmal eine Mücke im Abendkleid, sie hatte es angezogen, um guten Eindruck zu machen, und sie schwirrte beständig um eine Wiege herum, eine hübsche Wiege mit einer rosa Schleife …). Und doch hat sie sich schon Petrarca im 14. Jahrhundert jenseits der Alpen offenbart, wo er nur «Barbaren» vermutete. Lässt sie sich vielleicht gar als eine deutsche Tugend betrachten? Jedenfalls findet man in der deutschen Geschichte zahlreiche Beispiele für ihr Wirken, ganz gleich, in welcher Epoche man sich um schaut.
Im Jahr 1826 begann der bayerische Hofmaler Josef Stieler im Auftrag König Ludwigs I. mit den ersten Gemälden für dessen berühmte «Schönheitengalerie», die bis heute Schloss Nymphenburg schmückt. Inmitten der sechsunddreißig Münchner Schönheiten – darunter Gräfinnen und Prinzessinnen, aber auch Münchner Bürgerstöchter höheren und einfacheren Standes und die berühmt-berüchtigte Lola Montez, die dem König später zum Verhängnis wurde – ragt besonders eine hervor: die aus dem Chiemgau gebürtige Schusterstochter Helene Sedlmayr. Als Fünfzehnjährige kam sie nach München, wo sie eine Anstellung als Dienstbotin im Spielwarengeschäft des Kaufmanns Auracher fand. Sie lieferte das Spielzeug für die Königskinder an den bayerischen Hof, und dort stach ihre Schönheit König Ludwig I. ins Auge. Der König persönlich besorgte die Altmünchner Tracht, in der Stieler die inzwischen Siebzehnjährige porträtierte. Geschmückt mit einer silbernen Riegelhaube und geschnürt in ein Mieder mit silbernen Ketten, den Blick leicht nach oben am Betrachter vorbei gerichtet – in ihrer vollkommenen Anmut wurde sie zum Inbegriff der schönen Münchnerin.
Wer von deutscher Anmut spricht, kommt an dem größten Dichter der Deutschen nicht vorbei: Als der zweiundzwanzigjährige Goethe im Mai 1772 nach Wetzlar kam, um am dortigen Reichskammergericht – der obersten zivilen Gerichtsbehörde des Heiligen Römischen Reiches – sein Praktikum anzutreten, lernte er die neunzehnjährige Charlotte Buff kennen. Ihr war wahrhaft kein leichtes Leben beschieden. Nach dem frühen Tod der Mutter führte sie den Haushalt und sorgte für ihre Geschwister, zehn an der Zahl, und den Vater, der die Geschäfte des Deutschen Ordens führte. Als Goethe zum ersten Mal das Haus der Buffs betrat, war es sogleich um ihn geschehen – Goethe hat die Szene später in seinem Werther verewigt:
«Da ich in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blassroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab’s jedem mit...