2. Das Problem der Angststörung verstehen
Die Angst ging mit mir durch
Die Angst ging mit mir durch
Und machte kurzen Prozess mit meinen Träumen
Und stahl meinen Schatz
Sie fegte diesen Moment einfach weg.
Denis Kucharski (2008)
Unser ganzes Leben hindurch sind kleinere oder größere Stressoren unvermeidlich, unausweichlich und, für manche Leute, chronisch. Sorgen, Stress, Angst und vielleicht sogar Furcht oder Entsetzen sind im täglichen Leben allgegenwärtig. Kinder können den Druck verspüren, mit schulischen oder sportlichen Leistungen glänzen zu müssen. Sie können in Armut oder in Wohngegenden mit hoher Kriminalität leben. In allen psychologischen Modellen der Angst tragen solche Stressoren zur Entwicklung und Aufrechterhaltung von Angststörungen bei (siehe beispielsweise Kessler & Greenberg, 2002; Spielberger & Sarason, 1978; Watson, Mineka, Clark & Starcevic, 1999). Kinder können vage, generalisierte Besorgnis fühlen, spezifische Befürchtungen und Ängste entwickeln, stressbezogene physische Symptome erleben oder Belastungen auf der Verhaltensebene ausagieren. An einer Angststörung zu erkranken wird für Kinder wahrscheinlicher, wenn ein Elternteil ebenfalls an einer Angststörung leidet (Merikangas & Low, 2005). Die geschätzten Heritabilitätsraten bewegen sich im kompletten Spektrum an Angststörungen zwischen 30 und 40 Prozent (Hettema, Neale & Kendler, 2001). Genetische Einflüsse, das individuelle Temperament, das familiäre Umfeld und persönliche Erfahrungen werden zu interagierenden Faktoren, die zu Angststörungen beitragen. Das Gefühl der Hilflosigkeit in Bezug auf die Bewältigung von Stressoren verstärkt die Ängste eines Kindes mit hoher Wahrscheinlichkeit noch weiter. Als klinische Psychologen können wir die genetischen Risikofaktoren nicht verändern, ebenso wenig, wie wir (üblicherweise) die Familie oder das Umfeld eines Kindes verändern können. Achtsamkeitsbasierte Interventionen bieten einen alternativen Ansatz, der dem Kind dabei helfen kann, eine intrinsische Resilienz gegenüber Stress zu kultivieren. Eine bessere Selbstbewusstheit kann eine Steigerung der Fähigkeit zum effektiven Umgang mit schwierigen Situationen und Umständen herbeiführen.
2.1 Ist Angst etwas Gutes?
Angst bereitet uns darauf vor, den gewöhnlichen und außergewöhnlichen Herausforderungen des Alltagslebens zu begegnen. Es ist ein gut dokumentierter Forschungsbefund, dass ein moderates Maß an Angst die physische und kognitive Leistungsfähigkeit verbessert (Broadbent, 1971). Sportler „scheuchen sich mental auf“, bevor sie in einen Wettkampf gehen. Studenten lernen vor Prüfungen intensiver; bei einem zu geringen Maß an Angst sind sie nicht motiviert, ihr Bestes zu geben. Angst ist für uns auch ein eingebautes Warnsystem, das uns auf Gefahren und potenzielle Bedrohungen aufmerksam macht.
Die Physiologie der Angst ist in der Arbeit mit Kindern besonders relevant. Für viele Kinder sind die somatischen Komponenten der Angst präsenter als die kognitiven oder affektiven Symptome. Betrachten wir nun die Physiologie der Angst und wie sie funktioniert, um uns zu schützen.
2.2 Die Physiologie der Angst: Zu viel von einer guten Sache
Menschen sind so konstruiert, dass sie Angst empfinden. Angst ermöglichte es unseren in Höhlen lebenden Urahnen, lange genug zu leben, um sich fortzupflanzen – wenn ein Bär auftauchte, sind nur die ängstlichen Höhlenmenschen schnell genug gerannt, haben hart genug gekämpft oder sich gut genug versteckt, um zu überleben. Angst hilft uns dabei, uns selbst oder uns nahestehende Menschen vor Gefahr zu schützen. Wir alle haben schon Geschichten von übermenschlichen Taten gehört, die unter lebensbedrohenden Umständen vollbracht wurden. Angst ist eine gute Sache – außer, wenn wir zu viel davon haben.
Die „Kampf- / Fluchtreaktion“, die erstmals von Walter Cannon (1975) beschrieben wurde, entwickelte sich als ein System, das unsere Sicherheit und unser Überleben sicherstellen sollte. Sie bereitet unseren Körper darauf vor, sich zu mobilisieren, eine wahrgenommene Bedrohung zu bewältigen und dann auf das Ausgangsniveau zurückzukehren. Das sympathische Nervensystem (SNS) spielt eine zentrale Rolle bei der Aktivierung der akuten Stressreaktion, und die hypothalamisch-hypophysär-adrenale-Achse (HHAA) ist eine Hauptkomponente dieses Reaktionssystems. Wenn Gefahr antizipiert wird, sendet das Gehirn Warnsignale an den Hypothalamus und setzt so eine Abfolge von Prozessen in Gang, die Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark freisetzt. Adrenalin und Noradrenalin führen dazu, dass das Herz schneller schlägt, die Lungen rascher atmen, die Muskeln sich anspannen, das Verdauungssystem sich herabregelt, der Körper schwitzt und Wärme produziert und die Aufmerksamkeit sich auf die potenzielle Bedrohung ausrichtet. Die gesamte HHAA-Aktivierungssequenz spielt sich innerhalb von nur einer Sekunde ab. Extreme HHAA-Aktivierung kann Panikattacken auslösen. Chronische Muskelanspannung, Hypervigilanz und starke Gefühle von Besorgnis sind häufig bei Kindern, die weniger akute oder generalisierte Angst erleben.
In der Forschung bevorzugt man heute den Begriff „Allostase“ zur Beschreibung der Stressreaktion (McEwen, 2002). Allostase bezieht sich auf die Fähigkeit des Körpers, sich an Veränderungen oder Stressoren anzupassen, ob diese nun lebensbedrohlich sind oder nicht. In der heutigen modernen Welt begegnen wir nur selten einem Bären von Angesicht zu Angesicht, aber wir finden uns häufig in weniger lebensbedrohlichen Situationen wieder, die die Stressreaktion auslösen können. Wir können unter Stress verursachenden Bedingungen arbeiten, einen notleidenden Familienangehörigen pflegen oder uns in sonstigen Umständen befinden, bei denen weder Kampf noch Flucht angemessen ist. In der Folge werden unsere Systeme überbeansprucht, was Verschleißerscheinungen an unseren Körpern hervorruft und den Weg für physische Erkrankungen bereitet. Bruce McEwen (2002) beschrieb diese Stresssituation als „allostatische Belastung“. Hier kann aufgrund der starken Verbindung zwischen Wahrnehmung und Physiologie auch die Erwartung eine wichtige Rolle spielen. In Abwesenheit einer realen Bedrohung kann die bloße Vorstellung, sich in einer bedrohlichen Situation zu befinden, bereits die Stressreaktion auslösen. Unser Verstand kann mit seiner Macht unsere allostatischen Systeme bis hin zu Erschöpfung und Krankheit überbeanspruchen.
Wenn wir mit einem Modell der Achtsamkeit arbeiten, müssen wir dabei die Aufmerksamkeitsverzerrung bedenken, die im Zusammenhang mit einer akuten Stressreaktion oft auftritt. Aufmerksamkeit kann so sehr auf eine wahrgenommene Bedrohung fokussiert werden, dass andere, ebenso relevante Informationen in der Umwelt fehlinterpretiert oder völlig ausgeblendet werden. Wenn ein Kind belastende physische Symptome erlebt, wie etwa Panikattacken, ist Psychoedukation angezeigt. Als Vertreter der achtsamkeitsbasierten Therapie ist es jedoch nicht Ihre Aufgabe, die Erfahrung des Kindes zu verändern. Stattdessen helfen Sie dem Kind dabei, sich der ganzen Erfahrung so bewusst wie möglich zu bleiben, seine Aufmerksamkeit von der wahrgenommenen Bedrohung wegzulenken und sich stattdessen auf die Erfahrungen des gegebenen Moments zu konzentrieren. Beispielsweise kann die Aufforderung, einzelne körperliche Empfindungen zu beschreiben, dem Kind dabei helfen, eine gegenwartsfokussierte Bewusstheit aufrechtzuerhalten. Achtsamkeit ist eine Praxis, in jedem Moment auf einzelne körperliche Empfindungen zu achten, und selbst die starken physiologischen Reaktionen einer Panikattacke bieten Gelegenheiten zum Kultivieren von Achtsamkeit.
2.3 Das biopsychosoziale Modell der Angst
Angst ist eine grundlegende universelle Emotion, die wir alle zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichem Ausmaß erleben. Angst erfüllt eine Reihe adaptiver Zwecke. So verbessert Angst unsere Fähigkeit, für die Zukunft zu planen. Angst kann herannahende Bedrohungen oder Gefahren signalisieren und uns darauf aufmerksam machen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um diese potenzielle Gefahr zu vermeiden oder sie zu bewältigen. Darüber hinaus haben Philosophen argumentiert, dass existenzielle Angst universell ist und dass die Konfrontation mit dieser tief sitzenden spirituellen Angst die Selbstaktualisierung verbessert (Kierkegaard, 1844 / 1960).
2.3.1 Biologische Beiträge zur Angst
Etwa 20 Prozent aller Kinder scheinen mit einer bestimmten temperamentsbedingten Neigung geboren zu werden, die sie dafür prädisponiert, übermäßig reaktiv und vermeidend in Bezug auf unvertraute Ereignisse und Personen zu sein (Kagan & Snidman, 1999). Kinder, die infolge genetischer oder biologischer Faktoren ein Risiko für die Entwicklung von Angststörungen aufweisen, zeigen Steigerungen hinsichtlich ihrer Schreckreflexe, ihrer autonomen Reaktivität sowie ihrer Stressreaktivität (Kagan & Snidman, 1999; Merikangas, Avenevoli, Dierker & Grillon, 1999). Diese Faktoren können unter Umständen den frühen Beginn und chronischen Verlauf von Angststörungen bei vielen Kindern erklären helfen.
2.3.2 Kognitive Beiträge zur Angst
Eine akute Stressreaktion erfordert, dass zwei Ereignisse gemeinsam auftreten. Das erste Ereignis ist, dass eine ernsthafte Bedrohung oder Gefahr auftritt oder unmittelbar bevorzustehen scheint. Die bloße Antizipation eines stressbehafteten Ereignisses ist oft bereits ausreichend, um allostatische Prozesse zu aktivieren. Das zweite Ereignis ist, dass das Individuum der Überzeugung ist, nur über unzureichende Fertigkeiten oder Ressourcen im Umgang mit der...