Vorwort
Dieses Buch gibt es aus einem einfachen Grund. Die Freundschaft zwischen dem Komponisten Johannes Brahms und dem Dichter Klaus Groth ist bedeutsam, weil aus ihr unsterbliche Meisterwerke der Musik hervorgingen: einige von Brahms’ besten Liedern und Sätze in zwei seiner drei Violinsonaten.
Von den fünfzehn Romanzen aus Ludwig Tiecks Bearbeitung der Schönen Magelone abgesehen, inspirierte nur die Dichtung von Georg Friedrich Daumer mehr Sololieder von Brahms als die Dichtung Groths (elf Sololieder, zwei Duette, ein Chorlied). Dies war auch Brahms’ einzige Freundschaft, die ungetrübt bis zu seinem Tode andauerte. Tief erschüttert von seinem Verlust, beklagte Groth, daß die Nachrufe zeigten, wie wenig man über Brahms, seine Persönlichkeit und sein inneres Wesen Bescheid wisse: „[…] es kommt mir so vor, als wäre ich selbst vielleicht einer der wenigen, denen er rücksichtslos sein Inneres aufgeschlossen haben mag.“ (S. 179)1 Brahms’ zurückhaltende Natur war legendär. Gerade weil Groth seinen Anspruch so bescheiden ausdrückt („es kommt mir so vor“, „als wäre“, „vielleicht“, „aufgeschlossen haben mag“), sollte man diesen ernstnehmen. Darüber hinaus vermitteln zahlreiche Briefe Groths den Eindruck, daß er recht hatte. Dennoch gehört Brahms’ Freundschaft mit Groth nicht zu den bekanntesten Beziehungen des Komponisten. Der Brahms-Forscher liest eher seine Briefwechsel mit Freunden wie Clara Schumann, Joseph Joachim, Theodor Billroth oder Elisabet von Herzogenberg. Obwohl Brahms behauptete, er schreibe nicht gern Briefe – „Ich schreibe keine Briefe, ich beantworte sie.“ – umfaßt seine gesamte veröffentlichte Korrespondenz mit diesen und anderen Bekannten viele Bände2 und birgt einen wahren Schatz an Informationen über ihn. Der Briefwechsel mit Klaus Groth ist in der Standardreihe jedoch nicht enthalten. Die Briefe beider (die in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel aufbewahrt werden), wurden 1956 von Volquart Pauls erstmals gesammelt und veröffentlicht, ein kleiner Band, der in der Westholsteinischen Verlagsanstalt Boyens & Co. in Heide erschien, der Heimatstadt Klaus Groths.3 1997 erschien im selben Verlag eine ausführlichere Neuausgabe mit ergänzendem dokumentarischem Material sowie detaillierten Anmerkungen von Dieter Lohmeier, ein Muster an Gelehrsamkeit.4 Nur wenige dieser Briefe sind außerhalb des deutschen Sprachraums bekannt. Als im gleichen Jahr von der Oxford University Press eine Auswahl von 564 Briefen von und an Brahms in englischer Übersetzung veröffentlicht wurde, enthielt diese nur zwei Briefe von Brahms an Groth und einen von Groth an Brahms.5 Doch insgesamt gibt es 89 Briefe. 87 sind in der Sammlung von 1997 veröffentlicht, und zwei weitere wurden seither außerdem noch entdeckt. Zusammen mit anderen dokumentarischen Quellen liefern sie den Beweis für eine faszinierende Beziehung, die unter Brahms’ Freundschaften einzigartig war.
Natürlich sind nicht alle Briefe interessant oder durchgängig interessant. Ihnen fehlen die persönliche Unmittelbarkeit und das emotionale Tempo der Briefe an Clara Schumann. Statt dessen spiegeln sie eine nüchterne, freundliche Beziehung. Auch weisen sie nicht den anregenden musikalischen Anspruch des Briefwechsels mit Freunden wie Theodor Billroth oder Elisabet von Herzogenberg auf. Die Briefe selbst geben außerdem frustrierenden Aufschluß darüber, daß Groth und Brahms am spontansten und ergiebigsten in ihren Gesprächen kommunizierten: Wiederholt beziehen sich die Briefe mit Begeisterung auf ihre gemeinsamen Unterhaltungen, Dialoge, die für die Nachwelt verloren sind.
Die beiden Männer hatten ihre Wurzeln in demselben Teil Deutschlands, Dithmarschen im westlichen Holstein. Obwohl Brahms in Hamburg geboren war, stammte sein Vater aus derselben kleinen Stadt wie Groth, und die Elternhäuser lagen in derselben Straße, nur wenige Häuser voneinander entfernt. Heutzutage kann der Besucher Heides in weniger als einer Minute vom ehemaligen Grothschen Elternhaus – dem heutigen Klaus-Groth-Museum – zum Brahms-Haus an der Ecke wandern. Obwohl Brahms’ Vater im Alter von 19 Jahren nach Hamburg gegangen war, um eine Laufbahn als Musiker zu beginnen, fühlte sich Brahms tief mit Dithmarschen verbunden und teilte mit Klaus Groth die Liebe zum Plattdeutschen, das die Landbevölkerung und die Ungebildeten in Norddeutschland sprachen. Sein Vater war einer von ihnen: Er behielt lebenslang seine norddeutschen Sprachgewohnheiten. Brahms liebte ihn sehr. Während Groth in Holstein blieb und der führende plattdeutsche Dichter seiner Zeit wurde, ging Brahms nach Wien – sprach aber bis zum Lebensende davon, daß er im Exil lebe.
Ihre Freundschaft dauerte vierzig Jahre und war, wie schon bemerkt, die einzige von Brahms’ Freundschaften, die von Spannungen ungetrübt blieb. Im Gegenteil, sie wurde nur noch herzlicher. (Groth starb 1899, zwei Jahre nach Brahms, obwohl er vierzehn Jahre älter war.) Selbst wenn man berücksichtigt, daß einige von Brahms’ bedeutendsten Freunden wie Clara Schumann, Theodor Billroth und Elisabet von Herzogenberg vor ihm starben, ist es bezeichnend, daß dieser schwierige, leicht zu verärgernde Mann, dessen manchmal schroffe Ausdrucksweise so manche seiner engen Freunde befremdete, sich nie mit Klaus Groth zerstritt. Diesen Umstand könnte man als Hinweis darauf deuten, daß die ihre Freundschaft weniger eng, weniger intensiv war als andere Freundschaften von Brahms oder daß Groth eine Engelsgeduld hatte. Das ist nicht der Fall. Ihre Beziehung war vielmehr darin einzigartig unter Brahms’ engen Freundschaften, daß die beiden Männer durch ein gemeinsames Erbe und wegen dieses Erbes durch ein tiefes gegenseitiges Verständnis verbunden waren, das die Unterschiede in ihren Persönlichkeiten überwog und ihre Freundschaft bis zum Ende erhielt. Vor allem verstand Groth, daß Brahms’ schroffe Tiraden, die andere (und mehr als einmal auch ihn selbst) verletzten, aus dem Bestreben herrührten, die eigene emotionale Verwundbarkeit abzuschirmen. Die Stabilität ihrer Freundschaft lag in der gemeinsamen Liebe zur Heimat, in einer gegenseitigen Loyalität und einer von beiden akzeptierten Selbstbeherrschung. Der geographische Abstand voneinander muß ebenfalls seinen Teil dazu beigetragen haben.
Sie hatten bestimmte Charaktereigenschaften gemeinsam. Brahms-Autoren betrachten einige von ihnen als typisch norddeutsch: Selbstbeobachtung, eine Neigung zum Grübeln, einen philosophischen und methodischen Zugang zum Leben, Strenge, Ernsthaftigkeit, Skepsis, Stoizismus, emotionale Zurückhaltung.6 Genauer gesagt, die beiden teilten eine Melancholie des Charakters und einen Hang zur Sehnsucht nach vergangenem Glück, besonders nach dem verlorenen Idyll der Kindheit. Ihre Werke zeigen, daß beide sich ungewöhnlich intensiv mit den Themen Verlust, Vergänglichkeit und Tod auseinandersetzten. Der Schmerz unerwiderter Liebe spielt in beider Werken eine große Rolle, oft in Verbindung mit Melancholie, die manchmal zur Depression wurde. Für die Nachwelt von größter Bedeutung ist wahrscheinlich, daß beide in ihrer Kunst eine besondere Art von Subjektivität teilten, eine lyrische Nach-Innen-Gekehrtheit, die Brahms, den Liedkomponisten, zu Groths Dichtung hinzog.
Auch in anderer Hinsicht bestanden zwischen ihnen als Künstlern Gemeinsamkeiten. In ihrer Jugend waren beide Einzelgänger, die unermüdlich studierten und in ihren schöpferischen Bemühungen größtenteils Autodidakten waren. Beide wurden Künstler mit Leib und Seele, überzeugt von der absoluten Bedeutung der Kunst. Beide waren auch künstlerische Konservative in dem Sinn, daß jeder das erhalten wollte, was er als ein wertvolles Erbe betrachtete – Groth eine Sprache und Kultur und Brahms die Wiener Musiktradition –, indem er demonstrierte, welche großartigen neuen Dinge sich in ihr tun ließen. Daher kann man bei beiden von der schöpferischen Aufnahme der Tradition sprechen. Beide liebten das Volkslied, nicht auf eine sentimentale, sondern auf eine realitätsbezogene und praktische Weise. Die Volkslieder, die Groth während seiner Kindheit in Dithmarschen um sich herum gehört hatte, wie er in seinem Aufsatz Musikalische Erlebnisse berichtete (S. 157), inspirierten ihn zu eigener Dichtung. Brahms hingegen, ein passionierter Sammler von Volksliedern, erklärte bekanntermaßen in einem Brief an Clara Schumann, daß das Volkslied sein stilistisches Ideal sei und das Vorbild, dem das deutsche Lied allgemein nacheifern solle.7 Aber beide lasen auch mit Hingabe literarische Werke und erwarben sich als Autodidakten eine breitgefächerte Kenntnis verschiedener intellektueller und künstlerischer Sphären, über die sie gern mit anderen diskutierten. Beide hatten eine Begabung für die Freundschaft.
All dies erweckt den Anschein, daß zwischen den beiden Männern eine innere Verwandtschaft bestand, die sie zueinander hinzog und in Brahms’ Schaffen Früchte trug. Aber eben diese eine Behauptung „und in Brahms’ Schaffen Früchte trug“ weist auf den Aspekt ihrer Freundschaft hin, in dem sie sich am meisten unterschieden. Groth war, obwohl er zu Lebzeiten sehr gefeiert wurde, ein gewöhnlicherer Sterblicher als sein Freund. Er war fähig, die Beschäftigung mit seiner Kunst mit den Anforderungen des Ehelebens und der Kindererziehung zu vereinen. Brahms hingegen war, wie Groth selbst früh erkannte, kein gewöhnlicher Sterblicher. Mit der Zielstrebigkeit des Genies und einer beharrlichen Selbstdisziplin, die diejenige der meisten Genies übertraf, konzentrierte Brahms sein Leben auf die Musik und lenkte seine intellektuellen und emotionalen Kräfte schonungslos in das Komponieren. Der menschliche Preis waren ein innerer Konflikt und Aufruhr...