Man kann die Lebensbedingungen des Majors in der einsamen Bergwelt von Chitral etwas seltsam finden. Man kann sich fragen, warum er sich eine so harte, schwer zu erreichende Heimat ausgesucht hat, die so unsicher und dürftig ist im Vergleich zu seinem früheren Leben in Pakistans elegantester und freizügigster Großstadt Lahore. Dabei war der Wechsel in Wahrheit noch viel härter. Denn vom elitären Aitchison College ging der Major zunächst in eine Gegend, gegen die Chitral ein Paradies ist. Jene Gegend unterscheidet sich vom Rest Pakistans radikal. Vermutlich ist sie mit keiner anderen Region der Erde vergleichbar, einzigartig als politisches, rechtliches und militärisches Niemandsland: Nord-Wasiristan.
Wenn amerikanische Politiker und pakistanische Generäle miteinander in Streit geraten, dann fällt dabei ganz sicher irgendwann der Name dieses Gebietes an der Grenze zu Afghanistan, etwa 350 Kilometer südwestlich von Chitral. Denn Nord-Wasiristan ist das wichtigste Rückzugsgebiet von Taliban, al-Qaida und den mit ihnen kooperierenden Gruppen auf pakistanischem Boden. Auch deutsche Terroristen wie Eric Breininger und Mitglieder der Sauerland-Gruppe wurden dort ausgebildet. Während die pakistanische Armee die Extremisten seit 2009 in mehreren großen Offensiven aus vielen Gebieten an der Grenze vertrieben hat, lässt sie Nord-Wasiristan?– trotz nachdrücklicher Forderungen aus Washington?– bislang unangetastet. Über die Gründe dafür gibt es unterschiedliche Spekulationen. Den Generälen, die auch heute, in halbwegs demokratischen Zeiten, die Außen- und Sicherheitspolitik Pakistans bestimmen, passe diese Insel des Terrors als Druckmittel gegen Afghanistan gut ins Konzept und außerdem wollten sie ihre Kontakte zu den Militanten nicht beschädigen, meinen die einen. Die Armee sei vielleicht gar nicht in der Lage, in Nord-Wasiristan Ordnung zu schaffen, vermuten die anderen, und eine Offensive hätte schreckliche Folgen für die Zivilbevölkerung. Natürlich können durchaus beide Versionen zutreffen. Sicher ist nur: In Nord-Wasiristan konnten sich noch nie staatliche Strukturen etablieren. Jeder Versuch scheiterte bislang am Freiheitsethos der paschtunischen Bewohner oder an der waffenstarrenden Todfeindschaft zwischen den einzelnen Stämmen. Die Briten mussten die Aussichtslosigkeit ihrer Domestizierungsversuche in dieser Gegend recht schmerzhaft erfahren, und in der Folge institutionalisierten sie dort ein Macht- und Rechtsvakuum, das die Pakistaner geerbt und erhalten haben.
Major Langlands landete 1979 in einem Brennpunkt dieser historischen Absurdität: dem Armeelager Razmak, das kurz zuvor teilweise in eine Kadettenschule umgewandelt worden war. »Die Briten haben Razmak gegründet«, sagt der Major nicht ohne Stolz, und wenn er von den Tagen des Empire erzählt, klingt das freundlich und relativ vernünftig. Der Grund für die Errichtung des Camps sei der andauernde Krieg zwischen dem Stamm der Wasir aus Nord- und dem Stamm der Mehsud aus Süd-Wasiristan gewesen: »Damals, so ungefähr 1920, beklagten sich die Wasirs, weil sich die Mehsuds immer weiter in ihr Gebiet ausbreiteten. Also haben die Briten angeboten, zwischen den beiden Stämmen ein Armeelager einzurichten. Da stand dann durchgängig ein Kontingent von etwa zehntausend britischen Soldaten, die das Lager fast nie verließen.«
»Klein London« habe man Razmak damals genannt, weil es tatsächlich eine kleine britische Stadt mitten in der Einöde gewesen sei. »Allerdings war es auch das größte Kloster der Welt«, fügt der Major amüsiert hinzu, »denn in Razmak durfte es keine Frauen geben, das wäre viel zu gefährlich gewesen. Nur der Postmeister des Lagers soll angeblich seine Gattin mitgenommen haben. Er war jedoch gezwungen, sie die ganze Zeit versteckt zu halten.«
In Razmak müsse es damals ziemlich langweilig gewesen sein, die Soldaten hätten dort oben nicht viel zu tun gehabt. »Nur wenn es mal ernsthafteren Ärger unter den Stämmen gab, zog die gesamte Truppe aus. Dann wurde drei oder vier Tage lang geschossen, auf beiden Seiten fiel eine begrenzte Anzahl von Männern, und am Ende waren alle zufrieden. Eigentlich war es ein leichtes Leben.«
Richtig ist, dass die Stämme in Wasiristan und anderen Teilen des Grenzgebiets die Briten zwar unablässig bekämpften, sie aber auch häufig zu Hilfe riefen, wenn sie in internen Streitigkeiten zu unterliegen drohten. Das Chaos an der Nordwest-Grenze Britisch-Indiens war eine der Hauptsorgen des Empire. Spätestens als 1842 eine britische Armee während des Rückzugs aus Kabul fast vollständig vernichtet worden war?– Theodor Fontane widmete diesem Ereignis seine Ballade »Das Trauerspiel von Afghanistan« mit dem berühmten Schlussvers »Mit dreizehntausend der Zug begann, / Einer kam heim aus Afghanistan«?–, setzte sich in London die Erkenntnis durch, dass man die Afghanen niemals würde direkt beherrschen können. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte, zweier weiterer Kriege und zahlloser Scharmützel waren die Briten daher lediglich bestrebt, ihre reichen nordindischen Besitzungen gegen die Überfälle paschtunischer Stämme aus Afghanistan und dem Hindukusch zu schützen. 1893 einigten sie sich mit dem Emir in Kabul auf eine nach dem britischen Verhandlungsführer Sir Mortimer Henry Durand benannte Demarkationslinie, die bis heute die Staaten Afghanistan und Pakistan trennt.
Auf ihrer Seite der Durand-Linie errichteten die Briten die sogenannte Nordwest-Grenzprovinz. Dass sie neben dieser eher technischen Bezeichnung keinen richtigen Namen hatte und meist nur »die Grenze« genannt wurde, spiegelt die geringe Zuneigung der Briten zu diesem als Pufferzone gedachten Gebiet wider. Das Recht des britischen Kaiserreiches Indien galt in dieser Gegend nicht. Hier ging es vielmehr darum, die Stämme mit Subventionen ruhig zu halten und im Konfliktfall mit blutigen Strafexpeditionen niederzuwerfen. Das Regelwerk, nach dem dieser Unruhezustand verwaltet wurde, die »Frontiers Crime Regulation« oder kurz FCR, hat den Untergang des britischen Weltreiches überlebt. Denn nach der Gründung Pakistans wurde ein Teil der Grenzprovinz (zu der auch Chitral gehört) abgespalten und auch weiterhin nicht nach dem allgemeinen Recht regiert, sondern nach der FCR. Dieses Gebiet, in dem die Taliban später ihre Heimat fanden, wurde als Federally Administered Tribal Areas bezeichnet, kurz Fata.
Gemäß der Verfassung unterstehen die Fata (die vier Buchstaben werden wie ein Wort ausgesprochen) direkt dem pakistanischen Präsidenten. Faktisch konnte jedoch auch Pakistan die Region nie wirklich kontrollieren. Also führte man die Mischung aus Gesetzlosigkeit und Kriegsrecht weiter, die die Briten erfunden hatten. Die Fata sind in sieben »Agenturen« und sechs Grenzregionen unterteilt. Die Stämme und Unterstämme regeln ihre Angelegenheiten weitgehend selbstständig, sie folgen dabei ihren Sitten und dem allgemeinen Stammesrecht des Paschtunwali. Zwar können die etwa drei Millionen Bewohner der Fata zwölf Abgeordnete in die insgesamt 342 Parlamentarier umfassende pakistanische Nationalversammlung entsenden, die rudimentäre örtliche Verwaltung und das Stammessystem sind jedoch nicht der Kontrolle demokratischer Institutionen unterworfen. Die Stammesoberhäupter, die ihre Würde meist geerbt haben, werden von der pakistanischen Regierung weiterhin subventioniert, und bis 1997 waren sie die Einzigen in den Fata, die überhaupt Wahlrecht besaßen. Politische Parteien durften sich dort bis vor Kurzem nicht betätigen.
Bei schweren Gewaltverbrechen, Landstreitigkeiten und im Fall von Aufständen und Stammesfehden wird die FCR in der Fassung von 1901 angewandt. Durchgesetzt wird dieses einzigartige Sonderrecht von einer speziellen Instanz, die ebenfalls auf die Zeit des Empire zurückgeht: dem sogenannten Politischen Agenten. Sein eigenartiger Name deutet seine chimärenhafte Rolle an, die Elemente eines Richters, eines Feldherrn und eines Diplomaten verbindet. Vom Agenten ist die Bezeichnung Agentur für sein Wirkungsgebiet abgeleitet, also für die einzelnen Gebietseinheiten der Fata. Dabei gibt es im Englischen keinen anderen Fall, in dem das Wort Agency die Bedeutung einer geografischen Einheit hat. Es scheint fast, als diene diese exzentrische Begrifflichkeit dazu, die Unmöglichkeit der Sache zu treffen: Die Fata sind kein Ort, sondern ein Umstand, der behandelt werden muss.
Derjenige, der hier agiert, vertritt die Regierung eines Landes, dessen Rechtsgrundlage in seinem Zuständigkeitsbereich gar nicht gilt. Darum sind die Stammesversammlungen in die Ausübung der FCR einbezogen. So sitzen etwa Stammesälteste über Angeklagte zu Gericht. Doch wenn sie einen Schuldspruch fällen, ist es der Agent, der die Strafe bestimmt. Er kann Stammesversammlungen einberufen und auflösen. Gegen eine Verfügung des Agenten gibt es grundsätzlich keine Berufungsmöglichkeit vor Gericht. Wenn er jemanden verdächtigt, einen Mord oder Totschlag auch nur zu beabsichtigen oder politischen Aufruhr zu planen, kann er ihn vorbeugend bis zu drei Jahren in Haft nehmen, mit der Möglichkeit, diese um weitere drei Jahre zu verlängern. Er kann das Dorf oder auch den ganzen Stamm eines Schuldigen für dessen Vergehen haftbar machen. Er kann Blockaden über Gebiete und kollektive Geldstrafen verhängen, die nötigenfalls mit militärischen Mitteln zu vollstrecken sind. Aber gerade weil seine Aktionsmöglichkeiten letztlich immer auf militärische Strafaktionen hinauslaufen, hängt die tatsächliche Macht des Agenten?– und damit der Regierung?– auch von den inneren Machtverhältnissen der jeweiligen Agentur ab.
Eine dauerhafte Präsenz normaler staatlicher...