Einleitung: Rechtsstaat auf dem Rückzug – oder: Wer ist der Hüter der Demokratie in Europa?
Kann es innerhalb der Europäischen Union eine Diktatur geben? Vor ein paar Jahren wäre solch eine Frage noch als interessante Gedankenspielerei von politischen Theoretikern abgetan worden. Angesichts der dramatischen Entwicklungen in einigen Mitgliedsländern sind wir jedoch ernsthaft mit einem Szenario konfrontiert, das in Brüssel bislang nie öffentlich thematisiert wurde: nämlich dass die Demokratisierungsprozesse in den (relativ) neuen EU-Staaten vielleicht doch umkehrbar sein könnten. Man denke an Rumänien, wo im Sommer 2012 ein vom Parlament initiierter »kalter Coup« nur knapp scheiterte, und vor allem an Ungarn, wo die Regierung des national-populistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán den Rechtsstaat seit 2010 immer weiter aushöhlt und – so viele Kritiker im In- und Ausland – dabei ist, eine illiberale oder »gelenkte« Demokratie zu errichten.1 Mit anderen Worten: Die Vorstellung, wer einmal im exklusiven Club der EU angekommen sei, wer es auf die von Frieden, Freiheit und Wohlstand gekennzeichnete Insel der Seligen geschafft habe, könne sich doch unmöglich wieder unseligen Formen von Politik zuwenden, scheint falsch. Die EU ist nicht – oder zumindest nicht mehr – automatisch ein Garant für liberale Demokratie oder gar, wie Ulrich Beck dies einmal formulierte, ein »Synonym« für Demokratie.2
Doch sind es nicht nur die relativ jungen EU-Mitglieder, die zu Sorgenkindern der EU-Familie geworden sind: In Griechenland ist die rechtsextreme Partei »Goldene Morgendämmerung« auf dem Vormarsch; manche Beobachter sehen Athen bereits weit fortgeschritten auf dem Weg nach Weimar: Der griechische Staat büßt tagtäglich an Autorität ein, paramilitärische Organisationen machen die Straßen unsicher (auch wenn sie natürlich mit dem Anspruch auftreten, die Straßen vor »illegalen Immigranten« sicher zu machen). Die Mitglieder und Anhänger von »Chrysi Avgi« – so der griechische Name der Rechtsextremen – nennen ganz offen Ioannis Metaxas, den Diktator der dreißiger Jahre, als ihr Vorbild; man stellt sich bewusst als »Bewegung« dar; und die Symbolik ihrer Werbespots lässt keinen Zweifel am faschistischen Charakter der Partei.3
Wie soll sich der Rest Europas zu solchen Entwicklungen verhalten? Und vor allem: Soll Brüssel etwas tun? Darf Brüssel etwas tun? Anders gefragt: Sollte die EU heute als Hüterin der Demokratie agieren und die europäischen Völker sozusagen vor sich selbst (oder wenigstens vor ihren eigenen Regierungen) schützen? Oder wird Brüssel dadurch zu einem paneuropäischen Polit-Polizisten, der Bürgern von Lappland bis Lampedusa das einzig wahre Demokratieverständnis vorschreibt? Ist Brüssel nicht vielleicht selbst zumindest teilweise die Ursache für Entwicklungen wie in Griechenland? Ist die »Goldene Morgendämmerung« nicht auch die Folge der eisigen, harten Polarnacht der scheinbar nie enden wollenden Eurokrise?
Die Gefahr eines supranationalen Paternalismus sollte man ernst nehmen. Und die politische Situation in den einzelnen EU-Ländern darf in der Tat nicht isoliert betrachtet werden, ganz so, als seien alle Probleme hausgemacht. Nichtsdestotrotz: Prinzipiell, so die These dieses Essays, ist die EU legitimiert, zum Schutz nationaler Demokratien in Mitgliedsländern zu intervenieren. Und sie sollte auch intervenieren – nach sorgfältiger Urteilsbildung und anhand von Kriterien, welche im zweiten und dritten Kapitel dieses Buches entwickelt werden. Brüssel ist nicht der einzige institutionalisierte Hüter der liberalen Demokratie in Europa (nationale Verfassungsgerichte und der Europarat sind es beispielsweise auch) – aber die Union ist potenziell ein besonders effektiver Akteur nicht nur der Demokratieförderung, wie man es in Beitrittsstaaten regelmäßig beobachten kann, sondern auch des Demokratieschutzes auf dem Kontinent.
Gegen diesen Gedanken wird immer wieder eine Reihe von Einwänden vorgebracht – nicht zuletzt im Namen dezidiert demokratischer Werte. So heißt es beispielsweise: Da die EU selbst an einem eklatanten Demokratiedefizit leide, könne sie auch nicht in Mitgliedsstaaten als Protektor der Demokratie auftreten. Oder es wird moniert, dass es ein gemeinsames europäisches Demokratieverständnis eigentlich gar nicht gebe. In Sonntagsreden würden die »europäischen Werte« unverdrossen bemüht – wer aber genauer hinschaue, werde im Detail doch sehr divergierende Auffassungen beispielsweise von parlamentarischer Souveränität und individuellen Rechten finden. Und auch wer nicht prinzipiell gegen EU-Interventionen zur Demokratiesicherung ist, kritisiert, dass die Union bei derartigen Interventionen heuchlerisch auftrete: Gegen Jörg Haiders Österreich habe man im Jahre 2000 schweres Sanktionsgeschütz aufgefahren (nur um dem Alpenland am Ende eine Art demokratischen Persilschein auszustellen), auch Orbán habe die Europäische Kommission mehrmals gedroht – aber Silvio Berlusconi habe man jahrelang gewähren lassen, obwohl dieser doch ganz klar Medien und Justiz unter seine Fittiche zu bringen versuchte. Kurz gesagt: An kleinen Mitgliedsstaaten würden demokratische Exempel statuiert; große EU-Gründungsstaaten wie Italien könnten sich so viel politisches Bunga Bunga leisten, wie sie wollten.
Diese Einwände – und noch weitere – werden im zweiten Kapitel dieses Buches ausführlich diskutiert. Ich werde zeigen, dass es plausible Grundlagen für eine Rolle Brüssels als Hüter der liberalen Demokratie gibt. Diese Grundlagen lassen sich auf verschiedenen Wegen rechtfertigen, und man muss sich nicht für eine hochspezifische Interpretation der bekanntlich hochkomplexen Europäischen Union – die vom früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors einmal als »unbekanntes politisches Objekt« bezeichnet wurde – entscheiden, um diese Grundlagen zu teilen. Darüber hinaus werde ich eine Reihe von Kriterien dafür entwickeln, wann und unter welchen Umständen demokratieschützende Maßnahmen seitens der Union gerechtfertigt sind. Zum Teil rekapitulieren diese Kriterien nur gutes altes liberales Gedankengut; zum Teil leiten sie sich aber auch direkt aus dem Charakter des unvollendeten politischen Projekts Europa ab.
Im dritten Kapitel kommen wir zum eigentlichen Problem. Und das ist ein eher praktisches: Bis heute gibt es keine überzeugenden politischen oder rechtlichen Instrumente für Eingriffe zum Schutz der Demokratie. Einige der Strategien, welche die EU jüngst gegenüber Ungarn und Rumänien angewandt hat, können leicht als opportunistisch erscheinen, auch wenn sie kurzfristig erfolgreich sein sollten. Insbesondere besteht ein Missverhältnis zwischen den politischen Herausforderungen in einzelnen Ländern und den konkret von der EU ergriffenen Maßnahmen, vor allem Vertragsverletzungsverfahren. Ein Beispiel: Die ungarische Regierung setzt 2011 das Pensionsalter für Richter urplötzlich auf 62 herab – mit der Folge, dass alle damit bereits 2012 frei werdenden Ämter nun von einer einzelnen Person – Tünde Handó, der Ehefrau eines Mitbegründers und Europaabgeordneten der Regierungspartei – besetzt werden können. Und wie reagiert die EU auf diese Enthauptung des Justizsystems? Sie verklagt Ungarn vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg wegen der Diskriminierung älterer Menschen.4
Wirklich drastische Sanktionen bis hin zur Suspendierung der Stimmrechte eines Mitgliedsstaats im Europäischen Rat scheinen derzeit aus politischen Gründen – sprich: aufgrund der Eigeninteressen der Nationalstaaten – ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Wie der Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, in seiner Ansprache zur Lage der EU im September 2012 selbst zugab, fehlt es Brüssel an einem differenzierten Instrumentarium zwischen dem Gutzureden auf der einen und dem von Barroso als »Nuklearoption« bezeichneten Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union auf der anderen Seite (dieser Artikel erlaubt die Suspendierung der Stimmrechte eines Mitgliedsstaates; offiziell aus der Union ausgeschlossen werden darf ein Land überhaupt nicht, man kann nur freiwillig gehen; ein Umstand, der einmal mehr den Optimismus – oder einfach die Selbstzufriedenheit – europäischer Eliten widerspiegelt, die sich ein Abdriften eines Mitgliedsstaates ins Autoritäre offenbar gar nicht vorstellen konnten, als sie die entsprechenden Verträge formulierten).5
Deshalb sollen im dritten Teil konkrete Vorschläge für neue Instrumente (und Institutionen) entwickelt werden, die dabei helfen könnten, aus der Europäischen Union eine wehrhafte Demokratie zu machen. Dabei sind der institutionellen Imagination allerdings in zweierlei Hinsicht Grenzen gesetzt: Zum einen lässt sich das, worum es letztlich geht – nämlich eine Art Institutionalisierung politischer Urteilskraft –, nicht am Reißbrett entwerfen. Zum anderen gilt: Wünschbar ist vieles, politisch machbar vielleicht sehr wenig in einer Ära, in der die europäischen Eliten schon viel politisches Kapital – und Vertrauen – verschleudert haben, aber immer noch sehr viel für die Lösung der Eurokrise investieren müssen. In einer solchen Situation scheint es besonders problematisch, den europäischen Völkern nicht nur Vorschriften in Bezug auf ihre nationalen Budgets machen zu wollen (inklusive eines »Durchgriffsrechts« für die Kommission und zu allem fähige oder zumindest zu vielem ermächtigte »Superwährungskommissare«), sondern sie aus Brüssel auch noch über das richtige Demokratieverständnis zu belehren. Allerdings kann man dieses Argument auch umkehren: Mal angenommen, es wäre so – scheitert der Euro, scheitert Europa; mal...