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E-Book

Moralische Integrität

Kritik eines Konstrukts

AutorHans Bernhard Schmid
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl307 Seiten
ISBN9783518764305
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Die meisten Menschen sind ohne weiteres dazu bereit, andere Menschen zu töten, wenn es ihnen befohlen wird. Das ist die Lehre aus Stanley Milgrams berühmten Experimenten, die ein halbes Jahrhundert nach ihrer Durchführung zum Gegenstand einer wichtigen philosophischen Debatte geworden sind. Im Zentrum steht dabei der Begriff der moralischen Integrität, demzufolge das Verhalten einer Person wesentlich von Faktoren wie Charakter, moralischen Grundsätzen und persönlichen Werten festgelegt wird. Aber wie realistisch ist diese Vorstellung, wenn sich Menschen im entscheidenden Moment offenbar weitgehend von der Situation bestimmen lassen? Hans Bernhard Schmid verteidigt am Beispiel Milgramscher Versuchspersonen die These, daß es jenseits der traditionellen Alternative von Innen- und Außensteuerung die komplexen intersubjektiven Beziehungen sind, die in den jeweiligen Situationen menschliches Handeln bestimmen.

<p>Hans Bernhard Schmid ist SNF-F&ouml;rderungsprofessor f&uuml;r Philosophie an der Universit&auml;t Basel.</p>

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Leseprobe

171. Spektakuläre Desintegration


»Elinor Rosenblum« ist ein Pseudonym; der Name der Person, um die es im Folgenden geht, ist ebenso wenig bekannt wie die Eckdaten ihrer Biographie. Wenn Elinor die Jahrtausendwende noch erlebt haben sollte, dann jedenfalls in weit fortgeschrittenem Alter. Vielleicht wird einmal mehr über sie zu erfahren sein; es gibt Akten und Aufzeichnungen, die nach einer systematischen Aufarbeitung der Ereignisse das derzeit reichlich vage Bild dereinst vielleicht vervollständigen mögen. Aber Elinors Individualität, das Eigene ihrer Person und ihres Lebens ist nach allgemeiner Ansicht für das, worum es in ihrem Fall geht, völlig irrelevant. Elinor interessiert bloß als Normalmensch, als Durchschnittstypus. Wichtig ist, dass sie »eine von uns« ist, das heißt eine Person, die ein Leben lebt, das wir – mutatis mutandis – alle führen oder führen könnten: ein alltägliches, unauffälliges, ja, ein banales Leben. Elinors Banalität ist freilich – mit Hannah Arendts wirkmächtigem Wort ausgedrückt – die Banalität des Bösen. Aus der Normalität ihres Lebens, aus der Durchschnittlichkeit ihrer Persönlichkeit, ihrer Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen und Pläne heraus hat Elinor etwas wahrhaft Schockierendes getan; und dass jemand wie sie dazu fähig und bereit sein würde, eine derart abscheuliche Tat zu begehen, hat ihr die Bekanntheit verschafft, die ihr bei aller Unkenntnis ihrer Person und allem Desinteresse an ihrer Eigenart doch zukommt.

Wir wissen über Elinor, dass sie – wohl in den späten Dreißiger- und frühen Vierzigerjahren – ein College-Studium an der Universität Wisconsin absolviert und danach einen Filmverleiher geheiratet hat. Von Elinors Mann ist überliefert, dass er das Darthmouth College besucht hat, ein renommiertes Liberal-arts-College in New Hampshire. Elinor und ihr Mann dürften, soziologisch gesprochen, der soliden, gebildeten Mittelschicht zuzuordnen sein. Später – in der Zeit, um die es im Folgenden geht – führt Elinor zusammen mit ihrem Ehemann ein ruhiges Leben als Hausfrau in New Haven (Connecticut), einer Stadt mit damals etwa 300 000 Einwohnern. Elinor hat jetzt eine Tochter, die als Schülerin ganz besondere Leistungen erbringt, welche ihr schließlich die Aufnahme in die National Honour Society eingetragen haben; für Elinor 18ein – wie sie sagt – »wundervolles Kind« und ganz offensichtlich eine Quelle von großem Stolz. Wohl über ihre Tochter ist Elinor auch stark in der Vereinigung von Eltern und Lehrern (Parent-Teacher-Association) engagiert, welche im Grundschulsystem der Vereinigten Staaten eine wichtige organisatorische Rolle spielt. Die Jugendarbeit liegt Elinor auch dann am Herzen, wenn es nicht um die Förderung von Eliteschülerinnen wie ihrer Tochter geht. Elinor gibt zu Protokoll, einmal wöchentlich mit jugendlichen Delinquenten und Schulverweigerern zu arbeiten – »leatherjacket guys«, »Halbstarke«, wie diese im Jargon ihres Milieus und ihrer Zeit heißen. Nebenbei ist sie auch noch in der örtlichen Pfadfinderinnen- und der Frauenorganisation aktiv.

Das ist bereits alles, was den veröffentlichten Unterlagen über Elinor zu entnehmen ist. Die allgemeine Kenntnis ihrer persönlichen Verhältnisse beschränkt sich somit fast ganz auf ihre vielzähligen Vereinsengagements. Aus der Länge dieser Liste darf wohl darauf geschlossen werden, dass Elinors Leben dasjenige eines uramerikanisch-demokratischen joiners ist – ein Leben, das der zivilgesellschaftlichen, selbstorganisierten Tätigkeit verschrieben ist, wie sie Alexis de Tocqueville bereits gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in seiner Beschreibung der Demokratie in Amerika als Motor und Träger gesellschaftlicher Selbstorganisation gelobt hatte (Tocqueville ?[1835/40] 1955). Leute wie Elinor, die sich aus Eigeninitiative und freiem Entschluss zum Vereinsengagement und damit zum gemeinsamen Verfolgen gesellschaftlicher Anliegen bereitfinden, bilden Substanz und Rückgrat der Zivilgesellschaft, jener Instanz sozialer Integration, auf deren (zumindest vermeintliches) allmähliches Verschwinden der Kommunitarismus der letzten zwanzig Jahre einen so melancholischen Blick geworfen hat (vgl. etwa Putnam 2000). Elinor steht exemplarisch für zivilgesellschaftliches Engagement, für ein Leben im Zeichen des Bürgersinns – einer Haltung, die nicht auf den Staat warten mag, sich aber trotzdem auch nicht einfach ins eigene Privatleben zurückzieht, sondern sich gemeinsam mit anderen selbständig organisiert und Belange von öffentlichem Interesse in die eigene Hand nimmt.

So war Elinors Leben – zumindest vor den Geschehnissen, um die es im Folgenden gehen soll und in deren Verlauf Elinor die Bereitschaft gezeigt hat, etwas zu tun, was man aus juristischer Sicht wohl als Totschlag oder vorsätzliche Tötung, zumindest aber als 19fahrlässige Tötung werten müsste. Denn ihr Opfer hätte, wenn es denn nach Elinors Kopf gegangen und alles wirklich so gewesen wäre, wie Elinor dachte, sehr leicht ums Leben kommen können. Sie hat den Tod einer unschuldigen Person ohne jede Notlage und im vollen Bewusstsein der möglichen Folgen aus nichtigem Anlass in Kauf genommen. Zum Glück für sie (und für ihr potenzielles Opfer) war die ganze Szenerie bloß gestellt. Nichts war so, wie Elinor es glaubte; niemand wurde verletzt; alles war lediglich eine abgekartete Sache mit dem Ziel, Elinors moralische Stärke zu testen, und zwar in Bezug auf den elementaren moralischen Sachverhalt, dass das unnötige Töten Unschuldiger falsch ist. Bei diesem Test hat Elinor kläglich versagt. Elinor war eine der Versuchspersonen in den Experimenten von Stanley Milgram, dem Sozialpsychologen der Yale University, der in insgesamt neun Versuchsreihen in den Jahren 1961 und 1962 die Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität erforschte.

Zunächst eine Darstellung der Ereignisse:?[1] Elinor hatte entweder wie die Mehrzahl von Milgrams Versuchspersonen auf eine harmlos anmutende Annonce in der Lokalzeitung geantwortet oder aber – in diesem Fall ist das viel wahrscheinlicher – auf ein persönlich adressiertes Anschreiben reagiert;?[2] in der Annonce bzw. im Anschreiben gab der Unterzeichner Stanley Milgram vor, gegen ein angemessenes Entgelt – vier Dollar plus fünfzig Cent Fahrkosten – Teilnehmer an einem Lernexperiment zu suchen, welches lediglich eine knappe Stunde ihrer Zeit beanspruchen würde.

Am Ort des Geschehens – dem »eleganten Psychologie-Laboratorium der Yale-Universität« – wurde Elinor von John Williams begrüßt, einem 31-jährigen Biologielehrer in einem grauen Labormantel, einem Menschen mit einem – wie Milgram berichtet – kühl distanzierten Auftreten und einer etwas steifen Art: »Während 20des gesamten Experiments verhielt er sich leidenschaftslos, seine Erscheinung wirkte ein wenig streng« (Milgram 1974, 33?[3]). Williams’ Name war übrigens eins der wenigen Details, über welches Elinor im Verlauf des Experiments nicht getäuscht wurde; das Übrige waren Pseudonyme, falsche Behauptungen, gestellte Szenen, vorgetäuschte Projekte, vom Band gespielte »spontane« Reaktionen. Die Täuschung reichte bis hin zu den Gerätschaften des Laboratoriums, die bloße Attrappen waren.

Williams machte Elinor mit einer weiteren Person bekannt, »Mr. Wallace«, einem etwas rundlichen, jovialen Mann mittleren Alters. »Wallace« habe sich, so wurde Elinor gesagt, wie sie selbst zur Teilnahme gemeldet und sei ebenfalls zu diesem Termin einbestellt worden, weil die Versuchsanordnung des Experiments zwei Testpersonen verlange. »Wallace« wurde von James McDonough gespielt, einem 47-jährigen Laienschauspieler, der sonst als Buchhalter eines Eisenbahnunternehmens tätig war. Milgram berichtet im Buch, die meisten Beobachter hätten ihn als »freundlich und liebenswürdig« wahrgenommen. In seinen privaten Notizen geht Milgram sogar noch weiter: »Dieser Mann eignet sich hervorragend als Opfer – er ist so sanft im Umgang und submissiv; kein bisschen akademisch« (Milgram in Blass 2004, 214). James McDonough war die tatsächliche Natur des Experiments natürlich bekannt, und er war wie John Williams von Milgram genauestens instruiert worden, wie er seine Rolle zu spielen habe. Das Verhalten der beiden war in aufwendigen Vorbereitungssitzungen und Testdurchläufen genauestens einstudiert worden.

Zunächst schilderte nun Williams den vorgeblichen Zweck der ganzen Veranstaltung; es gelte, eine bestehende Theorie – Williams nannte Autoren – über die Rolle von Bestrafung im Lernen einer Überprüfung zu unterziehen: Welchen Effekt haben Strafen und deren Intensität auf die Lernleistung? In den üblichen Darstellungen des Milgram-Experiments wird dieser Punkt bloß beiläufig behandelt; gar zu kulissenhaft erscheint er angesichts der wahren Natur des Experiments. Aber es ist wichtig, ihn aus der Perspektive der Versuchsperson zur Kenntnis zu nehmen, denn er beschreibt 21nicht weniger als das Ziel, der Sinn und Zweck des Ganzen, der Elinor von nun an vor Augen stand und auf welches sie sich gemeinsam mit den anderen Beteiligten festgelegt zu haben glaubte. Elinor sieht sich selbst, wie sie in ihren Bemerkungen nach dem Experiment eindringlich beteuerte, als eine vehemente Gegnerin eines straforientierten Erziehungsstils; in ihren eigenen pädagogischen Bemühungen – sowohl mit den jugendlichen Straftätern als auch gegenüber ihrer eigenen Tochter – setzt sie, wie sie sagt, stets eher auf Liebe und Zuwendung (100 f.), und sie sagt nach dem Experiment...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Vorwort8
1. Spektakuläre Desintegration18
2. Grenzen des Gehorsams73
3. »Ich hab’s nicht tun wollen!«105
4. Mythos der Freiwilligkeit136
5. Elinors Gesinnung179
6. Mitmachen – weitermachen?211
7. Rekonstruktion und Kritik247
Nachwort293
Literatur297

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