462 Intentionalität
Unser Ziel ist es, die Sozialontologie des Menschen zu erklären. Da diese Ontologie ein Produkt des menschlichen Geistes ist, müssen wir bei der Eigenschaft des Geistes ansetzen, von der die Realität, die wir zu analysieren versuchen, hervorgebracht wird. Wir müssen bei der Intentionalität ansetzen.
Diese Richtung der Analyse erfüllt auch unsere Grundforderung: Es soll gezeigt werden, inwiefern die höherstufigen geistigen und gesellschaftlichen Phänomene von den Phänomenen der niedrigeren Stufen (Physik und Biologie) abhängig sind. Biologie beruht auf Physik. Neurobiologie ist ein Zweig der Biologie. Bewußtsein und Intentionalität werden von neurobiologischen Phänomenen verursacht und im Bereich der Neurobiologie realisiert. Die kollektive Intentionalität ist eine Form von Intentionalität, und die Gesellschaft ist ein Produkt der kollektiven Intentionalität.
I. Intentionalität. Grundbegriffe
Das Wort »Intentionalität« ist ein ambitionierter Philosophenausdruck für jene Fähigkeit des Geistes, die es ermöglicht, ihn auf Gegenstände und Sachverhalte in der Welt zu richten – die es also ermöglicht, daß er von diesen im Regelfall geistunabhängigen Gegenständen und Sachverhalten handelt. Wenn ich glaube, daß es regnet, einen Anstieg des Zinssatzes befürchte, ins Kino gehen möchte oder lieber Cabernet Sauvignon als Spätburgunder trinke, befinde ich mich in jedem dieser Fälle in einem intentionalen Zustand. 47Intentionale Zustände sind immer derart, daß sie von etwas handeln, das heißt: sich auf etwas beziehen. In einem gewöhnlichen Fall – beispielsweise dann, wenn ich ins Kino zu gehen beabsichtige – ist das Intendieren (Beabsichtigen) nur eine Art von intentionalem Zustand unter vielen, wie zum Beispiel: Glauben, Wünschen, Hoffen und Fürchten.[1]
Bei der Intentionalität müssen wir deshalb ansetzen, weil man, um die Gesellschaft zu verstehen, kollektives menschliches Verhalten verstehen muß. Kollektives menschliches Verhalten wiederum ist eine Äußerung kollektiver Intentionalität; und um diese zu verstehen, muß man begreifen, was es mit der individuellen Intentionalität auf sich hat. Ja, um überhaupt etwas von alledem zu verstehen, muß man sich ein Bild vom Bewußtsein machen; und um das Bewußtsein durch und durch zu begreifen, müßte man erfassen, wie das Bewußtsein von Gehirnstrukturen verursacht wird und in diesen Strukturen realisiert ist. Zur Zeit kennt niemand die Antworten auf Fragen wie diese: Wie wird das Bewußtsein von Gehirnvorgängen hervorgebracht? Wie ist es im Gehirn realisiert? Über die philosophischen Aspekte des Bewußtseins wissen wir meines Erachtens ganz gut Bescheid, doch damit werde ich mich an dieser Stelle allenfalls insoweit befassen, als diese Aspekte mein Hauptthema – also die Intentionalität – betreffen. In diesem Kapitel werde ich in Umrissen eine Theorie der Intentionalität darlegen, welche die wesentliche Voraussetzung für ein Verständnis der Sozialontologie bildet. Die Hauptaufgabe besteht darin, eine Handvoll von Grundbegriffen zu erklären. Dieser Aufgabe, die ich in recht nüchterner und 48konventioneller Weise zu erfüllen gedenke, wende ich mich jetzt zu.[2]
Intentionalität und Bewußtsein
Intentionalität ist, wie gesagt, ein Name für die Gerichtetheit oder Bezüglichkeit mentaler Zustände. Nicht alle mentalen Zustände sind intentionaler Art. Ich kann etwa in einem Zustand der Besorgtheit oder der Nervosität sein, ohne daß ich wüßte, worüber ich mir Sorgen mache oder worauf sich meine Nervosität bezieht. Besorgtheit und Nervosität brauchen keinen Bezug auf irgend etwas zu haben. Solange ich wach bin, bin ich mir zu jedem gegebenen Zeitpunkt einiger meiner intentionalen Zustände bewußt. Im jetzigen Augenblick etwa bin ich mir dessen bewußt, daß ich hungrig bin, aber viele meiner mentalen Zustände sind mir meistens gar nicht bewußt. Daß George Washington der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war, glaube ich auch dann, wenn ich nicht daran denke, ja sogar dann, wenn ich schlafe. Die Unterscheidung zwischen Bewußtheit und Unbewußtheit und die Unterscheidung zwischen dem Intentionalen und dem Nichtintentionalen kreuzen sich demnach in einer Weise, die uns vier logisch mögliche Formen an die Hand gibt: bewußte intentionale Zustände, unbewußte intentionale Zustände, bewußte nichtintentionale Zustände und unbewußte nichtintentionale Zustände. Daß es Beispiele für die ersten drei Kategorien gibt, liegt auf der Hand. Über die Frage, ob wirklich Fälle vorkommen, die unter die vierte Rubrik – die unbewußten nichtintentionalen mentalen Zu49stände – fallen, bin ich mir nicht im klaren. Vielleicht wäre die unbewußte ungerichtete Besorgheit ein Beispiel für einen solchen Zustand. Darüber, ob es wirklich solche Beispiele gibt, bin ich mir zwar nicht sicher, aber zumindest wird die Möglichkeit ihres Vorkommens von der Taxonomie berücksichtigt.
Die Struktur intentionaler Zustände
Jeder intentionale Zustand läßt sich in zwei Komponenten teilen: in den Typus des jeweiligen Zustands und dessen Inhalt, im Regelfall einen propositionalen Inhalt. Die Unterscheidung zwischen intentionalem Typus und propositionalem Inhalt läßt sich mit Hilfe der Notation »S(p)« darstellen. So kann ich zum Beispiel glauben, daß es regnet, befürchten, daß es regnet, oder wünschen, daß es regnet. In jedem dieser Fälle habe ich es mit demselben propositionalen Inhalt – nämlich p (daß es regnet) – zu tun, aber der intentionale Typus ist jeweils ein anderer. Das heißt, es handelt sich um verschiedene psychische Modi: Glauben, Befürchten, Wünschen und so weiter, und für diese Modi steht das »S«. Viele intentionale Zustände kommen in Gestalt ganzer Propositionen daher, und deshalb werden die Zustände, für die das gilt, von Philosophen häufig als »propositionale Einstellungen« bezeichnet. Das ist eine ungeeignete Terminologie, denn sie legt den Gedanken nahe, der intentionale Zustand sei eine Einstellung zu einer Proposition. Im allgemeinen ist es jedoch so, daß Überzeugungen, Wünsche und so weiter keine Einstellungen zu Propositionen sind. Wenn ich glaube, Washington sei der erste Präsident gewesen, bezieht sich meine Einstellung nicht auf die Proposition, sondern auf Washington. Nur sehr wenige unserer intentionalen Zustände sind auf Propositionen gerichtet. Die meisten richten sich, unabhängig von jeder Proposition, auf Gegenstände und Sachverhalte in der Welt. 50Manchmal kann es allerdings vorkommen, daß ein intentionaler Zustand auf eine Proposition gerichtet ist. Wenn ich beispielsweise glaube, das Gesetz von Bernoulli sei trivial, ist der Gegenstand meines Glaubens eine Proposition, nämlich das Gesetz von Bernoulli. Wenn man den Satz »Andreas glaubt, daß Washington der erste Präsident war« betrachtet, sieht es so aus, als sei die Proposition, daß Washington der erste Präsident war, der Gegenstand des Glaubens. Das ist jedoch eine grammatische Täuschung. Die Proposition ist nicht das Objekt, sondern der Inhalt des Glaubens. In diesem Fall ist Washington der Gegenstand des Glaubens. Die verfehlte Auffassung, »glauben« und sonstige intentionale Verben bezeichneten Relationen zwischen Subjekten des Glaubens und Propositionen, haben in der Philosophie und in der Kognitionswissenschaft einen Schaden angerichtet, dessen Ausmaß zu überschätzen ein Ding der Unmöglichkeit ist.
Es gibt intentionale Zustände, deren Inhalt keine ganze Proposition ist. Man kann zum Beispiel in Käthe verliebt sein, Willi hassen oder Thomas Jefferson bewundern. In diesen Fällen umfaßt der intentionale Zustand keinen ganzen propositionalen Inhalt, sondern die Repräsentation eines Gegenstands. Das läßt sich nach dem Muster S(n) darstellen, etwa so: »Lieben (Käthe)«, »Hassen (Willi)« oder »Bewundern (Jefferson)«.
Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, geht die Repräsentation der Wirklichkeit durch Sprechakte mit unterschiedlichen Paßrichtungen einher; und ebendieser Begriff der Paßrichtung läßt sich auch auf intentionale Zustände anwenden. Der Glaube etwa hat das Ziel, wahr zu sein; und wenn er falsch ist, verfehlt er sein Ziel. Insofern der Glaube wahr ist, kann man sagen, daß er der Welt entspricht oder sie richtig wiedergibt. Der Glaube, die Überzeugung, hat die Paßrichtung Geist-nach-Welt ?. Wünsche und Absichten hingegen sollen nicht darstellen, wie die Welt ist, sondern wie man sie gern hätte (im Fall der Wünsche) oder wie man sie zu for51men beabsichtigt (im Fall der Absichten). In solchen Fällen kann man sagen, daß die Absicht und der Wunsch die Paßrichtung ? haben. Ein besserer Ausdruck als das Wort »Richtung« wäre vielleicht der Ausdruck »Verantwortung«, die im Hinblick auf das Passen getragen werde. Denn die Überzeugung soll wahr sein und ist daher dafür verantwortlich, daß sie der Welt entspricht. Sie hat die Paßrichtung Geist-nach-Welt. Wenn es der Überzeugung gelingt, dieser Paßrichtung gerecht zu werden, ist sie wahr; sonst ist sie falsch. Doch wenn der Wunsch oder die Absicht fehlschlägt, trägt nicht der Wunsch oder die Absicht die Schuld, sondern es ist die Welt, der man sozusagen den Fehler ankreidet. Aus diesem Grund kann man sagen, daß Wünsche und Absichten die Paßrichtung Welt-nach-Geist haben beziehungsweise die entsprechende Verantwortung für das Passen tragen. Diese Unterscheidung ist hoffentlich intuitiv einleuchtend. Folgendes ist ein nützlicher Anhaltspunkt: Wenn man von einem mentalen...