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Literaturtheorie. Eine kurze Einführung

Culler, Jonathan - Literatur verstehen; das geschriebene Wort; Theorien; Erläuterungen - 17684 - 6. Auflage 2022

AutorJonathan Culler
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2014
ReiheReclams Universal-Bibliothek 
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783159604275
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,49 EUR
2002 erschien die Einführung des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Jonathan Culler in erster Auflage. Seither hat sie sich an den Universitäten etabliert. Anhand einfacher Fragen gibt sie Einblick in die wichtigsten Aspekte der Literaturtheorie: Was ist und will Theorie? Was ist ein Text? Was ist ein Autor? Was unterscheidet Lyrik von Prosa? Auch die verschiedenen Theorie-Strömungen werden vorgestellt: Von der Hermeneutik über Dekonstruktion und Gender-Studies bis zur postkolonialen Literaturbetrachtung. Jetzt erscheint der Band in zweiter Auflage: vollständig überarbeitet und auf den neuesten Stand der Forschung gebracht und um ein neues Kapitel 'Ethik und Ästhetik' ergänzt. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Jonathan Culler war u. a. Gastdozent für Französisch und Komparatistik in Yale und ist heute Professor für Englische und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Cornell University. (New York)

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Leseprobe

[32] 2 Was ist Literatur und ist sie wichtig?

Was ist Literatur? Man sollte meinen, dies sei eine zentrale Frage der Literaturtheorie, doch scheint sie in Wirklichkeit keine große Rolle zu spielen. Was sind die Gründe hierfür?

Im Wesentlichen sind es wohl zwei: Zum einen stellt sich angesichts der Tatsache, dass theoriebewusstes Arbeiten selbst Ideen aus der Philosophie, Sprach-, Geschichts- und Politikwissenschaft sowie der Psychoanalyse vermischt, die Frage, warum sich Theoretiker eigentlich darüber Gedanken machen sollten, ob die von ihnen gelesenen Texte literarisch sind oder nicht. Für Literaturstudierende wie Literaturprofessoren gibt es heutzutage eine ganze Reihe wissenschaftlicher Projekte, also Themen, über die man lesen und schreiben kann – wie z. B. ›Frauenbilder im frühen 20. Jahrhundert‹ –, bei deren Bearbeitung man sich sowohl mit literarischen als auch mit nicht-literarischen Texten beschäftigen kann. Man kann die Romane von Virginia Woolf oder Freuds Fallstudien oder beides untersuchen; eine Unterscheidung zwischen beiden Feldern scheint dabei aus methodischer Sicht nicht bedeutsam. Dies heißt nicht, dass alle Texte irgendwie gleich sind: Aus dem einen oder anderen Grund werden manche Texte für reichhaltiger, einflussreicher, beispielhafter, kontroverser, zentraler als andere gehalten. Aber es heißt, dass man sehr wohl literarische und nicht-literarische Texte gemeinsam und nach ähnlichen Vorgehensweisen untersuchen kann.

[33] Literarizität außerhalb von Literatur

Zum anderen schien die Unterscheidung lange Zeit deshalb nicht zentral, weil theoretische Arbeiten ihrerseits etwas entdeckt haben, was man am einfachsten als ›Literarizität‹ nicht-literarischer Phänomene bezeichnen kann. Dabei zeigt sich, dass Texteigenschaften, die man oftmals für literarisch gehalten hat, auch in nicht-literarischen Diskursen und Zusammenhängen eine entscheidende Rolle spielen. So hat man etwa bei der Erörterung des Wesens historischer Verstehensprozesse die beim Verstehen von Geschichten beteiligten Vorgänge als Modell herangezogen.1 Üblicherweise liefern Historiker keine Erklärungen, die so aussehen wie die auf Vorhersagen ausgerichteten Erklärungsmuster der exakten Wissenschaften: Sie können nicht zeigen, dass dann, wenn X und Y gegeben sind, Z notwendigerweise eintritt. Vielmehr zeigen sie, wie ein Ereignis zum anderen führt, wie es also dazu kam, dass der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist, und nicht, warum er sich notwendigerweise ereignen musste. Das Modell historischer Erklärung beruht demnach auf der Logik von Geschichten, also auf der Art, in der eine Geschichte zeigt, wie es zu einem bestimmten Ereignis kommt, indem sie Ausgangssituation, Entwicklung und Ergebnis sinnvoll verknüpft.

Das Modell für die Verstehbarkeit von Geschichte ist, kurz gesagt, das des literarischen Erzählens. Wir, die wir Geschichten hören und lesen, können sehr wohl entscheiden, ob eine Geschichte in sich stimmig ist, logisch zusammenhängt oder ob ihr etwa das Ende fehlt. Wenn die gleichen Modelle dafür, was stimmig und logisch ist und was als Geschichte gilt, sowohl literarische als auch historische Erzählungen charakterisieren, dann scheint die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen beiden kein dringendes [34] theoretisches Anliegen zu sein. In ganz ähnlicher Weise ist von theoretischer Seite auf die Wichtigkeit rhetorischer Verfahren wie etwa der Metapher in nicht-literarischen Texten hingewiesen worden – ob in Freuds Darstellungen seiner psychoanalytischen Fälle oder in philosophischen Argumentationen –, die man für Literatur als wesentlich, aber in anderen Diskurstypen oft nur als reinen Schmuck angesehen hat. Über den Nachweis, wie sehr rhetorische Verfahren auch in anderen Diskursen die Gedanken bestimmen, lässt sich zeigen, dass auch in vermeintlich nicht-literarischen Texten ein hohes Maß an Literarizität am Werk ist, und das macht die Unterscheidung zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten noch komplizierter.

Zugleich weist jedoch die Tatsache, dass ich die Situation beschreiben kann, indem ich von der Entdeckung der ›Literarizität‹ nicht-literarischer Phänomene spreche, darauf hin, dass das Konzept Literatur immer noch eine Rolle spielt und deshalb diskutiert werden muss.

Welcher Typ von Frage?

Wir sind also nochmals bei der entscheidenden Frage: »Was ist Literatur?« – einer Frage, die sich nicht so leicht übergehen lässt. Doch was ist das überhaupt für eine Frage? Wenn ein Fünfjähriger sie stellt, ist es einfach. »Literatur«, so kann man antworten, »das sind Geschichten, Gedichte und Theaterstücke«. Wenn aber ein Literaturtheoretiker die Frage stellt, ist es schwieriger zu sagen, wie sie gemeint ist. Es könnte eine Frage nach dem allgemeinen Wesen dieses dem Fragenden wie dem Befragten wohlvertrauten Gegenstandes, der Literatur, sein. Um was für eine Art von Gegenstand oder auch Tätigkeit handelt es sich? Was macht sie, welchem Zweck dient sie? So verstanden, ist die Frage »Was [35] ist Literatur?« nicht mit der Erwartung einer definitorischen Erklärung verbunden, sondern mit der Erwartung einer Analyse, vielleicht sogar einer längeren Argumentation, warum man sich überhaupt mit Literatur beschäftigen sollte.

Genauso gut aber könnte »Was ist Literatur?« auch die Frage nach den spezifischen Merkmalen von Texten stellen, die man als Literatur kennt: Was unterscheidet sie von nicht-literarischen Texten? Was grenzt Literatur von anderen menschlichen Tätigkeiten oder Vergnügungen ab? Dabei ist es durchaus denkbar, dass man dies fragt, um herauszufinden, welche Bücher Literatur sind und welche nicht, doch ist es wahrscheinlicher, dass man bereits eine Vorstellung von Literatur hat und etwas anderes wissen will, nämlich: Gibt es spezifische Differenzmerkmale, die allen literarischen Texten gemein sind?

Das ist eine schwierige Frage. Viele Theoretiker haben sich mit ihr auseinandergesetzt, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Nach den Gründen muss man nicht lange suchen. Literarische Werke gibt es in allen möglichen Formen, und die meisten scheinen mehr mit Texten gemein zu haben, die man landläufig nicht als Literatur bezeichnet, als mit deutlich als solcher erkennbarer Literatur. So ähnelt beispielsweise Charlotte Brontës Jane Eyre viel stärker einer Autobiographie als einem Sonett, und ein Gedicht wie My love is like a red, red rose von Robert Burns ist einem Volkslied deutlich ähnlicher als Shakespeares Hamlet. Haben Gedichte, Dramen und Romane überhaupt Merkmale gemein, die sie beispielsweise von Liedern, Transkriptionen von Gesprächen und Autobiographien unterscheiden?

[36] Historische Variationen

Nimmt man auch nur ein klein wenig eine historische Perspektive ein, wird diese Frage noch komplexer. Fünfundzwanzig Jahrhunderte lang haben Menschen Texte geschrieben, die wir heute als Literatur bezeichnen, doch ist die heutige Bedeutung des Wortes ›Literatur‹ kaum 200 Jahre alt. Vor 1800 bedeutete ›Literatur‹ wie auch analoge Begriffe in den anderen europäischen Sprachen so etwas wie ›Schrifttum‹ bzw. ›Buchwissen‹. Selbst heute will ein Wissenschaftler, der behauptet: »Die Literatur zur Evolution ist immens«, damit nicht sagen, dass es viele Gedichte und Romane zu diesem Thema gibt, sondern dass viel darüber geschrieben worden ist. Auch sind Texte, die heutzutage im Deutsch- oder Lateinunterricht an Schulen und Universitäten als Literatur gelesen werden, früher nicht als etwas Besonderes behandelt worden, sondern dienten als einprägsame Demonstrationsobjekte für guten Sprachgebrauch und Rhetorik. Sie galten als Beispiele einer umfassenderen Kategorie exemplarischen Schreibens und Denkens, die auch Reden, Predigten, Geschichtsschreibung und philosophische Essays mit einschloss. Dabei verlangte man von den Schülern nicht, diese Texte so zu interpretieren, wie wir heute Literatur interpretieren, nämlich mit dem Ziel, zu erklären, worum es in ihnen ›eigentlich‹ geht. Im Gegenteil, sie lernten die Texte auswendig, analysierten ihre grammatische Struktur und fanden ihre rhetorischen Figuren sowie den Aufbau bzw. das Argument heraus. Ein Werk wie etwa Vergils Aeneis, das man heute als Literatur analysiert, wurde vor 1850 in den Schulen ganz anders behandelt.

Die moderne westliche Vorstellung von der Literatur als imaginationsbestimmtem Schreiben lässt sich auf die Theoretiker der deutschen Frühromantik zurückführen, und wenn wir eine Einzelquelle nennen wollen, auf ein 1800 von einer französischen Baronin veröffentlichtes Buch, nämlich [37] Madame de Staëls Über Literatur, in ihren Verhältnissen mit den gesellschaftlichen Einrichtungen und dem Geist der Zeit. Doch selbst wenn wir uns auf die beiden letzten Jahrhunderte beschränken, wird die Kategorie Literatur unscharf: Wären beispielsweise Werke, die heute als Literatur gelten – also etwa Gedichte, die wie Schnipsel aus Alltagskonversationen erscheinen, ohne Reim oder wahrnehmbares Metrum –, auch von Madame de Staël als...

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