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E-Book

Der Fall Scholl

Das tödliche Ende einer Ehe

AutorAnja Reich
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783843707046
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR

Eine Frau wird brutal ermordet und im Wald verscharrt. Der Verdacht fällt auf ihren Ehemann - den ehemaligen Bürgermeister von Ludwigsfelde, einer Kleinstadt im Süden von Berlin. Sie waren fast fünfzig Jahre miteinander verheiratet. Und galten als perfektes Paar ...
Anja Reich hat den Gerichtsprozess begleitet. Sie sprach mit Verwandten und Freunden des Opfers und des Angeklagten - und mit Heinrich Scholl selbst, der die Tat bis heute bestreitet.



Anja Reich wurde in Ostberlin geboren. Sie arbeitete als Redakteurin für Die Welt und die Berliner Zeitung. 1999 ging sie gemeinsam mit ihrem Mann, Alexander Osang, und ihren Kindern für sieben Jahre nach New York, wo sie heute wieder lebt. 2012 wurde sie mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet.

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Leseprobe

Der letzte Tag


Brigitte Scholl verschwand am 29. Dezember des Jahres 2011, einen Tag nach ihrem siebenundvierzigsten Hochzeitstag. Die Blumen, die ihr Mann ihr geschenkt hatte, rote Rosen, standen noch auf dem Wohnzimmertisch, in der Ecke der Weihnachtsbaum, gerade gewachsen, üppig geschmückt. Alles musste stimmen.

Es sollte perfekt sein, bis zum Schluss.

Brigitte Scholl war siebenundsechzig Jahre alt und Kosmetikerin von Beruf. Ihr Studio befand sich im Erdgeschoss ihrer Wohnung. Nie war sie unpünktlich, nie unfreundlich, nie hörte man ein lautes Wort im Hause Scholl. Ihre Ehe galt als tadellos. Wenn um acht Uhr morgens die erste Kundin klingelte, stand Brigitte Scholl im weißen Kittel in der Tür, die Haare zurückgebunden. Aus der Küche grüßte ihr Mann, der Bürgermeister a. D.

Heinrich Scholl war eine Legende in Ludwigsfelde. Er hatte nach dem Mauerfall die Sozialdemokratie im Ort mitbegründet, war bei der ersten freien Wahl seit Kriegsende zum Bürgermeister gewählt worden und hatte seiner Stadt einen einzigartigen wirtschaftlichen Aufschwung beschert. Er holte Daimler-Benz, Thyssen sowie Deutschlands führenden Triebwerkshersteller MTU nach Ludwigsfelde. Er schuf Tausende von Arbeitsplätzen und galt als der erfolgreichste Bürgermeister der neuen Länder, der Beweis, dass der Aufschwung Ost funktionierte, ein Symbol für die deutsche Einheit.

Seit drei Jahren war er Rentner, aber er konnte nicht aufhören zu arbeiten, genauso wenig wie seine Frau. Sie hatte heute eigentlich frei, ihr Salon war zwischen Weihnachten und Silvester geschlossen. Es war einer dieser Tage zwischen den Jahren, an denen die Zeit stillzustehen scheint. Aber Brigitte Scholl konnte nicht stillstehen, sie musste immer etwas machen, sich immer um irgendetwas kümmern, immer jemandem helfen. Im Ort nannte man sie die Lady Di von Ludwigsfelde. Ihr Mann war Napoleon. Er war ein Meter fünfundsechzig groß und trug gerne Schuhe mit hohen Absätzen.

Heinrich Scholl schlief noch, als seine Frau wie jeden Morgen um halb sechs aufstand, um mit ihrem Hund vor die Tür zu gehen. Es handelte sich um den vierzehnjährigen Ursus, einen Cockerspaniel, der jeden anknurrte, seit er im vergangenen September bei einem Spaziergang auf dem Friedhof von einem anderen Hund ins Ohr gebissen worden war. Brigitte Scholl versorgte ihren Hund rund um die Uhr mit Hundekeksen, während der Kosmetik durfte Ursus unterm Behandlungsstuhl liegen. Ihm zuliebe hatte Brigitte Scholl in diesem Jahr sogar auf den Weihnachtsbesuch bei ihrem Sohn in Wiesbaden* verzichtet. Brigitte Scholl wollte Ursus die lange Fahrt nicht zumuten, und ihn ins Tierheim zu stecken kam für sie nicht in Frage.

Alles drehte sich um Ursus. Neuerdings übernachtete er sogar im Ehebett. Links neben ihr, da, wo früher ihr Mann gelegen hatte.

Es war noch dunkel, als Brigitte Scholl vor die Tür trat, ungeschminkt und unfrisiert, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. So wagte sie sich nur um diese Tageszeit auf die Straße. Sie war allein.

Die Luft fühlte sich kühl und feucht an, genau wie in den letzten Tagen. Sie hatten keine weiße Weihnacht gehabt, und für Neujahr war das gleiche graue Wetter vorausgesagt. Sie lief einmal die Walther-Rathenau-Straße hoch und wieder runter. Links und rechts reihten sich Holzhäuser aneinander, die alle gleich aussahen. Dunkle Fassaden, spitze Giebel, kleine Dachluken, Vorgärten, Beete, Rasen, Zäune, Garagen, Hecken. Die Holzhaussiedlung war kurz vor Kriegsende gebaut worden, 1944, genau in dem Jahr, in dem Brigitte Scholl auf die Welt kam. Sie war ein Kriegskind, das in einem Kriegshaus wohnte. Auf dem Dachboden hatten sie Zettel in kyrillischer Schrift gefunden. Sie stammten von den sowjetischen Kriegsgefangenen, die diese Häuser für die Arbeiter des Daimler-Werkes bauten. Das Daimler-Werk in Ludwigsfelde war im Zweiten Weltkrieg das größte und modernste Flugmotorenwerk Europas gewesen. Hier wurden dreitausend-PS-starke Motoren für deutsche Jagdbomber gebaut, die Montagehallen lagen gut versteckt im märkischen Kiefernwald und verfügten über einen direkten Anschluss an Hitlers Reichsautobahn. 1937 wurde der erste Motor gebaut, fünf Jahre später war aus dem Zweihundert-Seelen-Dorf eine Fünftausend-Einwohner-Stadt geworden, ein gesichtsloser Ort ohne Zentrum, ohne Rathaus, ohne Kirche. Ludwigsfelde war als Feldlager für Adolf Hitler und seine Welteroberungspläne geplant worden. Und so richtig hatte sich die Stadt nie davon erholt.

Nach dem Krieg wurden hier DDR-Lastkraftwagen hergestellt, heute befand sich in Ludwigsfelde das größte FKK-Thermalbad Deutschlands. Die Straßen, Bürgersteige und Radwege waren breit, die Autobahn inzwischen sechsspurig. Es gab Autohäuser, Tankstellen und Kreisverkehre, Schulen, Sportplätze, Einkaufszentren, Bahnhöfe, Parkplätze, Tennisplätze, ein Rathaus, ein Kulturhaus, ein Museum und eine Bibliothek. Wie ein Legomodell war die Stadt aus vielen kleinen Bausteinen zusammengesetzt worden. Hier noch ein Haus, hier ein Restaurant, hier eine Sparkasse, hier ein Altenheim, und immer wenn man dachte, es ginge nicht mehr weiter, begann ein neuer Gewerbepark. Große Schilder wiesen die Wege zum Friedhof, zum Bahnhof, Krankenhaus oder Preußenpark. An den Straßen warteten die Leute, bis die Ampel auf Grün sprang, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen war. Für Hundehalter standen Plastiktütenspender zur Entfernung der Hundehaufen zur Verfügung. Alles war ordentlich, sauber und zweckmäßig in Ludwigsfelde. Genau wie im Haushalt von Brigitte und Heinrich Scholl.

Sie waren in den siebziger Jahren in die Holzhaussiedlung gezogen. Ihre Doppelhaushälfte lag an einem kleinen Platz mit Klettergerüst und Blumenbeeten und sah nicht mehr wie ein Kriegshaus aus. Heinrich Scholl hatte Wände rausgerissen, Fliesen verlegt und zwei Kamine gebaut. Die Fenster waren neu, das Dach auch und der Garten ein Kunstwerk. Es kam vor, dass Besucher fragten, ob sie ihre Schuhe ausziehen sollten, bevor sie den Rasen betraten. Auch ihre Hecke wurde oft bewundert. So gerade gewachsen. Brigitte Scholl war vor allem wichtig, dass die Hecke hoch war. Es ging keinen was an, was sie so machte, ob sie alleine zu Hause war, ob es ihr gut oder schlecht ging. Sie war immer noch die Bürgermeisterfrau, eine Autorität im Ort. Nicht einmal ihren besten Freundinnen im Ort erzählte sie von ihren Problemen. Nur ihr Sohn Frank*, der seit zwanzig Jahren in Wiesbaden wohnte, und ihre Freundin Inge*, die 1961 aus Ludwigsfelde nach Anklam gezogen war, wussten Bescheid. Ihnen hatte sie auch erzählt, dass sie vor ein paar Jahren beim Beerdigungsinstitut Klotz ihr Grab bestellt hatte. Auch das gehörte zum Ordnungsverständnis der Bürgermeisterfrau. Um bestimmte Dinge sollte man sich nicht erst kümmern, wenn es zu spät ist.

Brigitte Scholl lief zum Haus zurück. Es war halb sieben, im Zimmer ihres Mannes unterm Dach brannte kein Licht, offenbar schlief er noch, was ihr die Möglichkeit gab, in Ruhe zu duschen, sich anzuziehen, aufzuräumen, Frühstück zu machen und ein paar Telefonate zu erledigen. Heinrich Scholl war im Gegensatz zu seiner Frau ein Langschläfer und blieb gerne lange auf. Bis weit nach Mitternacht konnte er im Wohnzimmer sitzen, Rotwein trinken und an irgendwelchen Papieren arbeiten, während sie schon lange schlief. Wenn sie gemeinsam zu Geburtstagen gingen, kam es vor, dass sie sich nach dem Abendbrot verabschiedete und er noch weiterfeierte. Sie waren sehr unterschiedlich. Sie liebte Hunde, er Katzen, er trank gerne Wein, sie verabscheute Alkohol, er kletterte auf sechstausend Meter hohe Berge, sie lag lieber am Ostseestrand, und am liebsten blieb sie zu Hause.

Man fragte sich, wie die beiden es so lange miteinander ausgehalten hatten, aber das fragte man sich ja bei vielen Paaren, die so lange wie die Scholls miteinander verheiratet waren und deren Ehe inzwischen weniger an eine Liebes- als an eine Geschäftsbeziehung zweier Menschen erinnerte, die sich miteinander arrangiert hatten. Zu den Arrangements des Ehepaares Scholl gehörte es, gemeinsam zu frühstücken, den Tag abzusprechen, Aufgaben zu verteilen, und danach ging jeder seiner eigenen Wege, bis man sich irgendwann wieder zu Hause traf.

So war es auch heute, an jenem Donnerstag im Dezember. Heinrich Scholl stand auf, trank Kaffee, las Zeitung. Sein Termin um neun Uhr war abgesagt worden, sein nächster erst um dreizehn Uhr in Berlin, ein Mittagessen mit einem alten Geschäftsfreund. So hatte er Zeit, für seine Frau ein paar Einkäufe zu erledigen, zur Sparkasse zu gehen und das Auto vollzutanken, bevor er bei der Therme nach dem Rechten sehen würde.

Die Therme war sein letztes großes Projekt als Bürgermeister gewesen, ein Zwanzig-Millionen-Bau, der ihn kurz vor Ende seiner Amtszeit fast noch den Kopf gekostet hätte. Zu groß, zu teuer, und dann noch FKK. Ein Luxusnacktbad in der Arbeiterstadt Ludwigsfelde. Sogar seine Genossen fürchteten, Heinrich Scholl habe den Verstand verloren. Aber sie hatten sich geirrt. Das Bad brummte, der Betreiber plante sogar einen Erweiterungsbau. Ein später Triumph für den ehemaligen Bürgermeister Heinrich Scholl, und deshalb wollte er sein Lieblingsprojekt nicht aus den Augen verlieren und beim Erweiterungsbau ein bisschen mithelfen. Er brauchte – genau wie seine Frau – eine Aufgabe im Leben. In dieser Beziehung verstanden sie sich prächtig.

Brigitte Scholl wollte heute das Haus und den Partykeller für die Silvesterfeier aufräumen, nachdem sie gestern, an ihrem Hochzeitstag, zur Kosmetik und zur Fußpflege gegangen war. Sie hatte vorgehabt, sich selbst einmal etwas Gutes...

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