Einleitung
Jeder sollte ihn haben. Zumindest jeder, der es wert ist. Ohne Wenn. Ohne Aber. Ohne Leistung.
Das hat die Politik erkannt und will handeln. »Abgeordnete von CDU und CSU sowie Vertreter der derzeit außerparlamentarisch agierenden FDP haben heute einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorgestellt, der einen bedingungslosen Doktortitel für Politiker vorsieht«, war im Oktober 2012 in den Nachrichten zu lesen. »Damit sollen peinliche und volksvertreterunwürdige Doktortitelentzüge in Zukunft verhindert werden. Das Bildungsministerium signalisierte bereits grünes Licht für den sogenannten Dr. pseud.«
Das Gesetz sehe die Abschaffung unerfüllbarer Bedingungen vor – etwa der, eine Dissertation einzureichen. Der ehemals promovierte FDP-Politiker Jorgo Chatzimarkakis, einer der Initiatoren des Gesetzentwurfes, bringt die Idee auf den Punkt: »Gerade in der heutigen Leistungsgesellschaft brauchen wir ein solidarisches Prinzip bei der Verteilung von intellektuellen Graden für Politiker.«
Leider ist dies nur die Meldung einer Satireseite.1 Aber eine, die der Wahrheit in vielem erschreckend nahe kommt. Eines ist klar: Deutschlands Elite hat ein Titelproblem.
Man könnte das fiktive Szenario weiterdenken: Führende Wirtschaftsvertreter, so könnte man bald die Forderung nach einem bedingungslosen Doktor für Politiker in den Zeitungen lesen, bringen eine Promoviertenquote für Vorstände und Aufsichtsräte ins Gespräch – als Alternative zur unerreichbaren, aber von der Politik derzeit favorisierten Frauenquote. »Eine Promoviertenquote in den Vorständen käme unseren Bedürfnissen entgegen und wäre eine sichtbare Förderung der Wissenschaft«, so ein Sprecher des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. Sie wäre vor allem nach jetzigem Stand schnell zu erreichen.
Und sogar das Wirtschaftsministerium würde Entgegenkommen signalisieren: Zuwendungen zur Doktorandenausbildung sollten steuerlich absetzbar sein, um das Titelbedürfnis der Spitzenmanager zu fördern. Jede Stütze der Gesellschaft braucht den Doktor zur Stütze des eigenen Ego.
Willkommen in der Welt des Titelwahns und im Land der Doktoren. Im Jahr 2012 schlossen in Deutschland 26807 Menschen die Hochschule mit der Promotion ab.2 Schätzungsweise 200000 Menschen arbeiten derzeit an ihrer Dissertation.3 Beim Promovieren erreicht Deutschland internationale Spitzenwerte. In kaum einem Land wird der Doktorgrad häufiger verliehen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD hat ermittelt: Einer von zwanzig Studenten in Deutschland entschließt sich nach seinem Studium zu einer Promotion. Das entspricht 5,2 Prozent eines Altersjahrgangs. Im OECD-Schnitt streben dagegen nur 2,7 Prozent nach dem Doktorgrad.4
Doktor – das ist doch was. Doktor – das klingt nach Gelehrsamkeit, nach Kompetenz und Anstand und nach einer großen bildungsbürgerlichen Tradition. Die Wirklichkeit trifft das nicht unbedingt. Dass für den Titel überhaupt Leistungen verlangt werden, ist eine noch junge Erfindung in der jahrhundertealten Geschichte des Wissenschaftsbetriebs. Die ruhmreiche Tradition der Universitäten ist, wenn man genau hinschaut, gar nicht einmal so ruhmreich. Und ihre Gegenwart ist auch alles andere als perfekt. Auch heute noch vergeben Universitäten Titel für Menschen, die wissenschaftlich nicht unbedingt etwas geleistet, dafür aber Macht und Einfluss haben. Was findet man überhaupt an diesem akademischen Grad?
Deutschland betreibt einen Kult um den Titel, über den sich das Ausland wundert. Niemand könne genau sagen, wann es begann, aber dieses Land habe eine Obsession mit dem Doktortitel, schreibt der Deutschlandkorrespondent der britischen »Times«. Den Adelstitel lasse man eher beschämt beiseite, der Doktor vor dem Namen aber sei so etwas wie das »Sesam, öffne dich!« zur Welt der Erfolgreichen und Mächtigen.5 Dr. Seltsam, der durchgeknallte Wissenschaftler aus dem gleichnamigen Filmklassiker von Stanley Kubrick, ist nicht nur äußerst promoviert, er ist vor allem – ein Deutscher.
Mit dem Doktordiplom in der Hand kann man sogar in die Meldeämter spazieren und sich die zwei Buchstaben in die Dokumente eintragen lassen. Seit der Einführung des laminierten Personalausweises in den 80er Jahren beteiligen sich die Ämter offiziell am Hype um den Titel – damit werde eine langjährige »Verwaltungspraxis« gesetzlich verankert, hieß es damals in der Gesetzesbegründung: »Der Doktorgrad wird im täglichen Leben in der Regel neben dem Namen verwendet.«6
Dieses amtliche Faktum lässt mittlerweile tatsächlich viele glauben, der Doktor sei ein Titel wie Freiherr oder Graf, König oder Kaiser. Und die Meldeämter lässt es mitunter verzweifeln. Sie müssen aufwendig Einzelfälle prüfen, wenn Bürger mit Urkunden aus Costa Rica, der Slowakei oder Zypern kommen.
Oder mit irgendeinem kirchlichen Ehrendoktor, der im Internet angeboten wird.
Bei Passkontrollen soll sich bereits der eine oder andere Grenzbeamte gefragt haben, welchen Vornamen die Buchstaben Dr. abkürzen.
Dracula?
Von Helmut Kohl, den einige für einen großen Kanzler halten, aber wenige für einen großen Geschichtswissenschafter, ist folgender Ausfall überliefert. Auf einer Pressekonferenz pöbelte er einen Journalisten, der freundlich eine Frage stellen wollte, vor laufenden Kameras an, weil der das akademische Gewicht des Kanzlers nicht ausreichend gewürdigt hatte. »Für Sie bin ich nicht der Herr Kohl.«
Der Journalist berichtigte sich umgehend. »Herr Dr. Kohl, …«
»So«, sagte daraufhin der Herr Dr. Bundeskanzler. »Wir wollen ein bisschen Ordnung zwischen uns reinbringen.«7
Das Finanzamt fragt die Bürger nicht nur nach den Verdiensten, sondern auch nach dem Doktortitel, anzugeben in Zeile zehn der Einkommenssteuererklärung. Selbst wer Opernkarten vorbestellt, kann dabei neben seinem Namen auch den Titel hinterlegen. Und auf die Anrede »Doktor« muss man auch dann nicht verzichten, wenn man eine Reise mit der Deutschen Bahn bucht. Das Registrierungsformular auf der Website fragt explizit nach dem »Titel« und hält zur Auswahl bereit: Dr., Prof., Prof. Dr. Wofür ein Schaffner solche Informationen über die Fahrgäste benötigt, bleibt fraglich.
Stellen wir uns einen jungen Unternehmensberater vor – nennen wir ihn Marius Berghold – der für uns das reale Märchen vom mächtigen Doktor ausloten wird und der berufsbedingt viel Zeit im Zug verbringt. Unser fiktiver, aufstrebender Consultant hat zwar Ambitionen, aber bislang keinen Titel, und wundert sich über die Praxis der Deutschen Bahn, die nur ein Beispiel für den Titelwahn hierzulande ist. So viel Aufhebens um den Doktor – aber was tut man, wenn man ihn nicht hat? Der Bahn einen Beschwerdebrief schreiben?
»Im Registrierungsformular kann ich zwar als Titel Dr., Prof. und Prof. Dr. wählen, jedoch nicht meinen Studienabschluss Diplom-Betriebswirt«, schreibt Berghold dem Kundenservice der Bahn. »Ich fände es unschön, wenn Sie weiterhin Fahrgäste ohne Promotion benachteiligen würden.«
Die Sonderbehandlung für den Doktor ist eine Diskriminierung aller anderen Akademiker, die ihren Abschluss nicht auf dem Ticket vermerken lassen können. Eigentlich ist es eine Demütigung aller anderen Fahrgäste, auch der nichtstudierten. Warum macht die Bahn das? Reicht es nicht schon, dass sie ihre Passagiere in zwei Klassen einteilt?
Die Antwort kommt umgehend: »Vielen Dank für Ihre E-Mail und den Verbesserungsvorschlag zum Thema Erweiterung der Auswahlmöglichkeiten bei Titeln im Registrierungsformular auf dem Reiseportal der Bahn, zum Beispiel Diplom-Betriebswirt«, schreibt die Servicemitarbeiterin. »Wir versichern Ihnen: Ihren Vorschlag wertet der zuständige Fachbereich zur Information und für weitere Maßnahmen aus.«
Wollte der zuständige Fachbereich allen potenziellen Begehrlichkeiten nachgehen, hätte er viel zu tun. Aller Wahrscheinlichkeit nach fahren hin und wieder auch Diplom-Trophologen, Diplom-Schauspieler und Diplom-Forstwirte Bahn, ebenso der eine oder andere Bachelor of Education, manch ein Master of Engineering und sogar noch der altmodische Magister Artium mit Byzantinistik im Nebenfach. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Marius Berghold weist die Servicemitarbeiterin darauf hin. »Vielleicht macht es zu viel Aufwand, sämtliche Grade, die es gibt, mit in die Auswahl aufzunehmen. Sie könnten doch auch ganz darauf verzichten«, schreibt er. »Mich würde interessieren, wie Sie auf die Idee gekommen sind, dass ein Doktorgrad für die Reise mit der Bahn überhaupt relevant ist.«
Die Antwort kommt wieder umgehend. »Sehr geehrter Herr Berghold, wie bereits erwähnt, haben wir Ihren Vorschlag weitergegeben«, schreibt die Bahn-Mitarbeiterin. »Generell folgen wir hier allgemeiner Praxis. So ist beispielsweise auch in Ausweisen eine Aufnahme des Doktortitels vorgesehen. Auch folgt die Anrede mit dem Titel den allgemeinen Konventionen der Höflichkeit.«
Die allgemeine Praxis also.
Marius Berghold wird den Titel brauchen, wenn er auf besondere Konventionen der Höflichkeit hoffen möchte. Irgendwie muss doch an den Doktor heranzukommen sein. Ohne zu viel Aufwand. Was ist mit Promotionsberatern? Mit Ghostwritern? Er wird es versuchen.
Man könnte den Fetisch um den Titel als merkwürdigen Spleen abtun – wenn er nicht so...