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E-Book

Atención

Die besten Reportagen aus Lateinamerika

VerlagCzernin Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783707605051
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Preisgekrönte Journalisten zeigen die Realität von Lateinamerika heute: Jugendliche Drogenbanden übernehmen die Herrschaft über ganze Stadtviertel, illegale Migranten machen sich auf ihre lebensgefährliche Reise in Richtung USA, Mädchen tragen Kalaschnikows und lernwillige Schüler nehmen mehrstündige Schulwege auf sich. Lateinamerika ist nach wie vor ein weißer Fleck auf der Landkarte, wenn es um neue Autorinnen und Autoren jenseits von Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa geht. Die ungeheuren Veränderungen, die Kolumbien, Brasilien oder Chile in den letzte Jahren und Jahrzehnten geprägt haben, gehen an uns weitgehend unbemerkt vorbei. Der Lateinamerika-Experte Erhard Stackl versammelt in seinem spannenden Band die besten Reportagen des hervorragenden investigativen Journalismus, den diese Länder zu bieten haben. Die jungen Stimmen, die in 'Atención' zu Wort kommen, sind allesamt hochinteressante Neuentdeckungen und mehr als wert, auch in Europa gelesen zu werden.

Erhard Stackl, geboren 1948 in Mödling bei Wien. Studien an der Hochschule für Welthandel und an der Universität Wien. Freier Mitarbeiter beim Rundfunk, Gründungsmitglied beim 'profil'. Ressortleiter Außenpolitik und stellvertretender 'profil'-Chefredakteur, Recherchereisen nach Lateinamerika, Osteuropa und Asien. Ab 1991 bei 'Der Standard', dort Chef vom Dienst. Seit 2010 freier Journalist und Autor. Ausgezeichnet mit dem Humanitätspreis des österreichischen Roten Kreuzes und mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch.

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Leseprobe

DIE ENTFÜHRUNG VON CRISTIÁN EDWARDS UND IHRE GEHEIMNISSE


PEDRO RAMÍREZ UND CRISTÓBAL PEÑA (CHILE)


»In meinen Träumen bin ich ein paar Mal geflüchtet«, sagte Cristián Edwards. Aber sobald er aufwachte, stieß er hart mit der Realität zusammen: Er war noch immer ein Gefangener. Fünf Monate blieb er in einer drei mal zwei Meter großen Kiste eingesperrt. Seine Kidnapper waren eine Fraktion der Guerillagruppe »Frente Patriótico Manuel Rodríguez« (FPMR). Erst viele Jahre nach der Entführung von Edwards, dem Sohn des Eigentümers von Chiles ältester Tageszeitung El Mercurio, kamen die Details ans Licht. Es war ein Härtetest für den chilenischen Staat, der damals gerade dabei war, zur Demokratie zurückzukehren. Es kam zu zähen Verhandlungen um Edwards’ Befreiung, bei denen die Entführer via Zeitungsannoncen kontaktiert wurden und an denen sich ein chilenischer Jesuit und ein ehemaliger britischer Geheimagent beteiligten. Gleichzeitig wetteiferten rivalisierende Polizeiabteilungen darum, wer das Geheimnis um das Verschwinden des Erben von Agustín Edwards, einem der mächtigsten Männer des Landes, lösen konnte. Unterdessen litt der Gefangene an Halluzinationen, Muskelkrämpfen und Schüttelfrost. »Ich habe mir die Barthaare ausgerissen«, erzählte er später dem Richter. Gleichzeitig gab es unter den Entführern heftige Auseinandersetzungen, von denen ehemalige Mitglieder der FPMR erst jetzt berichten.

I


Cristián Edwards verließ sein Büro in Providencia, einem eleganten Stadtteil von Santiago de Chile, nahm den Lift ins Erdgeschoß und ging zum Parkplatz auf der Coyancura-Straße. Dort sah er sie. Drei Männer standen um ein weißes Auto herum. Als Cristián in seinen eigenen Wagen einsteigen wollte, hörte er Schritte hinter sich. Er drehte sich um und sah noch, wie sich die drei auf ihn stürzten. Einer zielte mit einem Revolver auf seinen Kopf. »Ich dachte, sie wollten mir die Brieftasche rauben oder so etwas. Deshalb hob ich die Hände und kam nicht einmal dazu zu schreien«, sagte er fünf Monate später der Polizei. Das Trio wollte etwas anderes. Sie fesselten ihn mit Kabelbindern und zogen ihm eine Kapuze über den Kopf. Dann verfrachteten sie ihn in ihr Auto.

Das geschah am 9. September 1991 um neun Uhr abends. Der Lauf eines Revolvers war das Letzte, was Cristián Edwards in diesem Jahr in Freiheit sehen sollte.

Der Erbe des Zeitungsimperiums war damals 33 Jahre alt und Direktor der Regionalzeitungen innerhalb der Unternehmensgruppe. 1979 war er nach seinem Hochschulabschluss am Amherst College in Massachusetts mit dem ausdrücklichen Auftrag, in das Familienunternehmen einzusteigen, nach Santiago gekommen. Er blieb zwei Jahre. Zurück in den USA, trat er in die Marketingabteilung von Pepsi-Cola ein, derselben Firma, in der sein Vater als Manager tätig war, nachdem er Chile 1970 wegen des Wahlsiegs des Linkspräsidenten Salvador Allende verlassen hatte. 1983 erwarb der Sohn einen MBA (Master of Business Administration) in Philadelphia, danach arbeitete er für eine Versicherung. Er galt als ausgeglichen, intelligent und besonnen. Er war zurückhaltend und auf seine Privatsphäre bedacht.

Zur Lage in Chile nahm Cristián Edwards eine distanzierte und ambivalente Position ein. Marla Grossmann, seine damalige US-amerikanische Verlobte, sagte dem FBI – das im Entführungsfall ebenfalls ermittelte –, dass er sich in den 1980er-Jahren politisch weder für die Linke noch für die Rechte ausgesprochen habe. Eine andere amerikanische Freundin, Carla Brown, bezeichnete ihn dagegen als jemanden, der »in seinen konservativen Ansichten starr« gewesen sei. Und einer seiner chilenischen Freunde sagte den Ermittlern: »Er war sehr pragmatisch und kritisch, er zeigte sich darüber besorgt, dass es in Chile (bis 1990) keine demokratische Regierung gab, kritisierte zugleich aber auch die Exzesse der früheren Volksfrontregierung Allendes.«

Nach seiner neuerlichen Rückkehr nach Chile im April 1990 fiel es ihm schwer, sich an die lokalen Gebräuche zu gewöhnen. Marla Grossman sagte dem FBI, er sei »auf Druck der Familie zurückgekommen, um in der Zeitung zu arbeiten«. Sein Vater Agustín Edwards erklärte nach dem Ende der Gefangenschaft seines Sohnes vor dem Richter, dass Cristián in Wahrheit deshalb zurückgekommen sei, weil ihm »der Job bei der Versicherung in den USA nicht mehr behagte«. Es bleiben noch viele Rätsel ungelöst.

So gibt es auch keine Antwort auf die Frage, wann diese Geschichte genau begonnen hat. Im April 1991 fuhr María Fernanda Eyzaguirre in den noblen Vorort Vitacura, um Cristián Edwards zu besuchen. Sie waren alte Freunde und hatten vereinbart, miteinander essen zu gehen. Es fiel ihr auf, dass er sie vor dem Haustor erwartete. Er erklärte ihr, dass gegenüber ein weißer Mini geparkt war, in dem zwei Personen saßen, die ihm verdächtig vorkamen. Obwohl er vermutete, dass es sich um dieselben Personen handelte, die kurz davor in sein Haus eingebrochen waren, unternahm er nichts. Er notierte sich nicht einmal das Kennzeichen des Autos, wie es ihm Eyzaguirre vorschlug.

Es ist möglich, dass es sich um einen Zufall handelte. Aber sicher ist, dass der Geschäftsmann zu diesem Zeitpunkt bereits von der FPMR beschattet wurde. Rafael Escorza, genannt »El Viejo« (der Alte), lebte mit seiner Frau und seinem Sohn in einem Haus im Stadtteil Macul, in dem er die Entführer ihr »Gefängnis« einrichten ließ. Er sagte später, dass die Entführung bereits für die Jahresmitte geplant gewesen sei. Eine »Kiste« sei damals schon gebaut und die Wächter seien einquartiert und bereit gewesen, das »Paket« in Empfang zu nehmen. Die Aktion habe sich aber verzögert, weil die »Zielperson« in die USA gereist war.

Die Operation der FPMR habe schon bald nach dem Attentat auf den Senator und Chef der weit rechten Partei UDI Jaime Guzmán begonnen, der am 1. April 1991 ermordet wurde. Einige Protagonisten dieser Aktion waren auch beim neuen Unternehmen dabei, das von »Ramiro« alias Mauricio Hernández Norambuena angeführt wurde. Zum Leiter des Verlieses ernannte er »Rodolfo«, einen großen und korpulenten Mann. Fünf Jahre davor hatten beide an einem fehlgeschlagenen Attentat auf General Augusto Pinochet teilgenommen. »Rodolfo« hatte sich danach in Kuba, Vietnam und dann in Nicaragua aufgehalten, wo er gegen die US-unterstützten Contras kämpfte. Ihm unterstellt war Maritza Jara Hernández, genannt »Gabriela«. Sie gab vor, eine Hausangestellte zu sein, übernahm aber in Wahrheit Kommunikations- und Sicherungsaufgaben. »Rodolfo« war auch Chef der beiden Bewacher des Entführungsopfers: Ricardo Palma und, ihm unterstellt, Florencio Velásquez.

Ein alter Kämpfer der FPMR räumte später ein, dass »Ramiro« einen Fehler begangen habe, als er Palma zum Vorgesetzten von Velásquez ernannte. Angesichts von dessen Laufbahn war das eine Beleidigung. Velásquez stammte aus der Hafenstadt Valparaíso und hatte dort an der Entführung des Sohnes von Manuel Cruzat – einem Multimillionär – teilgenommen. Er stieg zum FPMR-Kommandanten der Region Valparaíso auf, bis er 1987 verhaftet wurde. Drei Jahre später war er unter jenen 50 Gefangenen, die aus einem Gefängnis in Santiago ausbrachen. Er hielt es nicht aus, unter dem Befehl von »Rodolfo« zu stehen und noch viel weniger unter dem des 22-jährigen Palma, den er als »hektischen Feigling« und »Neuling« bezeichnete. Doch in der FPMR erwarb man sich Verdienste vor allem dadurch, dass man ins Schwarze traf. Und »El Negro« Palma hatte auf den Folterpolizisten Luis Fontaine und den Senator Guzmán geschossen, so wie er auch 1990 den ehemaligen Luftwaffenchef Gustavo Leigh niederstreckte (der schwer verletzt wurde, aber überlebte).

In einem glichen sich Palma und »Rodolfo«: Sie hielten es nicht aus, für längere Zeit eingesperrt zu sein. Der eine, weil er von Natur aus unruhig war, der andere wegen seiner Jahre im Gefängnis. Und das sollte Konsequenzen haben.

Aber nichts davon ließ sich mit dem vergleichen, was die Geisel durchmachen musste.

Am Anfang hatte Cristián Edwards Mühe, zu begreifen, was seine Entführer vorhatten. Sie hatten ihn im Kofferraum mehrerer Autos transportiert und nicht mehr gesagt als: »Still, sei ruhig, dann passiert dir nichts.« Später luden sie ihn in einen Transporter um. Am Schluss schleppten sie ihn in einer Art Sack in einen Raum, wo sie ihm befahlen, sich vor eine Mauer zu stellen, ehe sie ihm Sack und Kapuze abnahmen und die Tür verriegelten.

Edwards war in ein Mauseloch von zwei mal drei Metern geworfen worden, ohne Fenster, Frischluft oder Gesellschaft, fast ständig dem Licht einer starken Glühbirne ausgesetzt. Die »Tür« der Kiste war eine Öffnung von annähernd einem Quadratmeter, durch die man kriechen musste. Während der ersten Tage erhielt er nichts zu essen. Die Luft war so knapp und stickig, dass er nach wenigen Stunden in einen Schockzustand verfiel und ohnmächtig wurde. Von da an öffneten sie die Tür und ließen Luft hinein. In den kommenden fünf Monaten verließ er die Kiste nie und es zeigte ihm auch niemand sein Gesicht. Sobald er einen Schritt machte, stieß er an eine Wand. Wenn sein Orientierungssinn zurückkehrte, gaben sie ihm betäubende Medikamente und änderten den
Tagesablauf.

»Die Idee war, mich in den Wahnsinn zu treiben«, fasste er es in seiner Erklärung vor der Polizei am 1. Februar 1992 zusammen.

Dennoch erinnerte er sich genau daran, dass es in »La Caja«, der »Kiste«, eine chemische Toilette aus Holz gab, die, je nach Laune der Entführer, hineingestellt und zum Entleeren entfernt wurde. In dieser Umgebung musste er essen und sich reinigen, wofür ihm ein Krug Wasser...

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