1. Drei Geschichten über unsere Zeit
Wenn die Geschichten, die sich eine Gesellschaft erzählt, nicht mehr im Einklang mit den realen Verhältnissen stehen, können sie selbst-begrenzend wirken und sogar zu einer Bedrohung für das Überleben werden. Das ist unsere derzeitige Situation.
David Korten, The Great Turning10
Am 7. Mai 2001 versammelten sich Journalisten zu einer Pressekonferenz im Weißen Haus. Ari Fleischer, der Pressesprecher von Präsident Bush, hatte an jenem Tag nichts bekannt zu geben, lud aber die Anwesenden ein, Fragen zu stellen. Schnell wurden die steigenden Energiekosten zum beherrschenden Thema und eine der ersten Fragen rief eine starke Reaktion hervor.
Journalist: „Glaubt der Präsident in Anbetracht der Energiemenge, die jeder Amerikaner pro Kopf verbraucht und die ja viel größer ist als die eines jeden Bürgers in jedem anderen Land der Welt, glaubt da der Präsident, dass wir unseren Lebensstil ändern müssen, um mit dem Energieproblem fertigzuwerden?“
Mr Fleischer: „Die Antwort ist ein klares Nein. Der Präsident hält das für einen American Way of Life und glaubt, es sollte das Ziel der politischen Entscheidungsträger sein, diesen American Way of Life zu schützen.“11
Präsidenten kommen und gehen, aber Fleischers klares „Nein“ repräsentiert noch immer eine einflussreiche Kraft in unserer Gesellschaft. Es steht für eine Überzeugung, die unsere Lebensweise nicht infrage stellt. Diese Überzeugung erwächst aus einem ganz bestimmten kulturellen Mythos darüber, wie es sich mit unserer Welt verhält, der wie eine Geschichte immer wieder neu erzählt wird. Mit Geschichte meinen wir nicht eine erfundene Erzählung, sondern vielmehr die Art und Weise, wie wir den Ereignissen, die sich vor unseren Augen abspielen, einen Sinn zuordnen.
In diesem Kapitel identifizieren wir drei solche Geschichten, die in unserer Zeit eine Rolle spielen, wie bereits in der Einleitung erwähnt. Die erste geht von der Annahme aus, dass unsere Gesellschaft auf dem richtigen Weg ist und dass wir weitermachen können wie bisher. Die zweite offenbart die zerstörerischen Folgen des Business as usual und den fortschreitenden Zerfallsprozess unserer biologischen, ökologischen und sozialen Systeme. Die dritte handelt von einer breiten Bewegung des Widerstands gegen die Gefahren und vom facettenreichen Übergang zu einer lebenserhaltenden Zivilisation. Die Erkenntnis, dass wir die Geschichte wählen können, mit der wir die Welt interpretieren, kann befreiend wirken: Wenn wir eine gute Geschichte finden, der wir uns anschließen können, steigert das unser Gefühl von Sinnhaftigkeit und Lebendigkeit. Jetzt werden wir erkunden, wie diese Geschichten unsere Reaktion auf die globale Krise prägen.
Die erste Geschichte: Business as usual
Wie viel von dem, was Sie in den letzten 24 Stunden gegessen haben, bestand aus Zutaten, die Hunderte oder sogar Tausende von Kilometern weit weg erzeugt wurden? Bei den meisten Menschen, die in Industrieländern leben, lautet die Antwort: eine Menge. Was durchschnittlich an Möhren, Kopfsalat oder abgepackten Erdbeeren beispielsweise in einem Supermarkt verkauft wird, hat sehr wahrscheinlich eine Reise von mehr als 3000 Kilometern hinter sich.12 Und das beschränkt sich nicht nur auf unsere Lebensmittel: Vieles, was wir benutzen, ist aus weiter Ferne zu uns gekommen. Transportkosten tragen erheblich dazu bei, dass heute mehr Energie verbraucht wird als je zuvor in der Geschichte. Ari Fleischer mag das für den American Way of Life halten. Aber er gilt nicht nur für Amerika. Für die Menschen, die in den wohlhabenden Teilen der Welt leben, wird er immer mehr zum modernen Lebensstil, der allgemein akzeptiert ist und den wir für normal halten.
Dieses moderne Leben hat viele attraktive Seiten. Es ist üblich, dass die Leute Urlaub in fernen Ländern machen und eigene Autos, Computer, Fernseher und Kühlschränke besitzen. Noch vor wenigen Generationen wären solche Annehmlichkeiten, sofern sie überhaupt erreichbar waren, als Privileg der Superreichen angesehen worden. Heute vermittelt die Werbung den Eindruck, diese Dinge müsste jeder haben, und der Fortschritt wird daran gemessen, ob und wie viel wir mehr haben als früher und wie viel weiter und schneller wir reisen können.
Eine mögliche Betrachtungsweise unserer Zeit ist die, dass wir eine wunderbare Erfolgsgeschichte erleben. Die wirtschaftliche und technische Entwicklung hat viele Aspekte unseres Lebens erleichtert. Wenn wir uns überlegen, wie es weitergehen soll, dann weist diese Geschichte uns den Weg: „Mehr desselben, bitte.“ Wir nennen diese Variante: Business as usual.
Diese Geschichte erzählen uns die meisten politischen Entscheidungsträger und Unternehmensleiter, die dem Mainstream angehören. Nach ihrer Meinung kann und muss die Wirtschaft weiter wachsen. Selbst angesichts wirtschaftlicher Rückschläge und Zeiten der Rezession herrscht die Annahme vor, dass es nicht lange dauern wird, bis die Entwicklung wieder aufwärts geht. Im November 2010 drückte Präsident Obama sein Vertrauen in den Weg des Wirtschaftswachstums mit folgenden Worten aus: „Die wichtigste Einzelmaßnahme zur Reduzierung unserer Schulden und Defizite ist, dass wir wachsen.“13
Damit eine Marktwirtschaft wachsen kann, muss sie den Absatz steigern. Das bedeutet, wir werden angespornt, noch mehr zu kaufen und zu konsumieren, als wir es ohnehin schon tun. Die Werbung spielt eine Schlüsselrolle beim Ankurbeln des Konsums und immer mehr werden dabei Kinder als Zielgruppe angesprochen, um in jedem Haushalt das Verlangen nach mehr Gütern zu steigern. Nach Schätzungen sieht ein amerikanisches Kind im Fernsehen durchschnittlich zwischen 25.000 und 40.000 Werbespots pro Jahr. In Großbritannien sind es ungefähr 10.000.14 Als Heranwachsende lernen wir, indem wir andere beobachten. Unsere Ansichten über das, was normal und notwendig ist, werden von dem geprägt, was wir sehen.
Wenn Sie von dieser Geschichte umgeben sind wie der Fisch vom Wasser, dann denken Sie leicht, so sei die Welt eben. Jungen Leuten wird vielleicht gesagt, es gebe keine Alternative dazu, sich einen Platz in dieser Ordnung der Dinge zu suchen. Es zu etwas zu bringen wird als Hauptziel dargestellt, und dies wird gestützt von Nebenzielen: einen Partner zu finden, für die Familie zu sorgen, gut auszusehen und sich etwas leisten zu können. Bei dieser Einstellung zum Leben werden die Probleme der Welt als weit weg und für das Drama unseres persönlichen Lebens völlig irrelevant angesehen.
Die Medien verbreiten diese Geschichte vom modernen Leben weltweit und wecken damit einen immer größeren Appetit auf Konsum. Vor 1970 hielt man in China nur vier Gegenstände für unverzichtbar – ein Fahrrad, eine Nähmaschine, eine Armbanduhr und ein Radio. Bis zu den 1980er-Jahren hatte eine wachsende Schicht von Verbrauchern diese Liste um einen Kühlschrank, einen Farbfernseher, eine Waschmaschine und ein Tonbandgerät erweitert. Zehn Jahre später war es für immer mehr Menschen in China normal geworden, ein Auto, einen Computer, ein Handy und eine Klimaanlage zu besitzen.15 Und diese Liste wächst noch weiter, wie Joe Hatfield, der Geschäftsführer von Walmart Asia, erklärt:
Anfangs hatten wir einen Meter zwanzig mit Hautpflegeprodukten, heute haben wir knapp sieben Meter. Bisher haben wir keine Deodorants, aber irgendwann später werden wir in China auch Deodorants haben. Vor fünf Jahren war mit Parfums hier nicht viel Geld zu verdienen. Aber inzwischen ist es der Wachstumssektor … es gibt viel weniger Fahrräder, das bedeutet ein Minus an Bewegung, sodass die Menschen dicker werden, und was sagt einem das? Der Verkauf von Fitnessgeräten nimmt stetig zu, auch der von Sportkleidung und Joggingausrüstung, und dann kommt schließlich der Zeitpunkt für Slim-Fast und all die anderen Diätprodukte.16
Manche sehen das als Fortschritt an.
Kasten 1.1
Einige Grundannahmen von Business as usual
- Wirtschaftswachstum ist für Wohlstand unerlässlich.
- Die Natur ist ein Rohstofflieferant und darf für menschliche Zwecke ausgebeutet werden.
- Konsumförderung ist gut für die Wirtschaft.
- Das Hauptziel im Leben ist, es zu etwas zu bringen.
- Die Probleme anderer Menschen, Nationen und Arten gehen uns nichts an.
Warum sollten die Menschen in anderen Teilen der Welt nicht den Lebensstil entwickeln, der im Westen für normal gehalten wird? Und warum sollten wir nicht nach dem Motto Business as usual wirtschaftlich weiterwachsen, wobei die Menschen immer mehr kaufen und Energie verbrauchen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns die Schattenseite des modernen Lebensstils anschauen und sehen, wohin er uns führt. Das bringt uns zu unserer nächsten Geschichte.
Die zweite Geschichte: Der fortschreitende Zerfallsprozess
Im Jahr 2010 haben Umfragen von CBS17 und Fox News18 gezeigt, dass eine Mehrheit der Bevölkerung glaubt, die Lebensbedingungen für die nächste Generation würden schlechter, als sie derzeit sind. Schon zwei Jahre zuvor hatte eine internationale Umfrage, an der über 61.600 Personen in 60 Ländern teilnahmen, ähnliche Ergebnisse erbracht.19 Wenn so viele Menschen das Vertrauen verlieren, dass es gut weitergeht, dann tritt darin eine ganz andere Sicht der...