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Wiedersehen mit den Siebzigern

Die wilden Jahre des Lesens

AutorUlrich Raulff
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl170 Seiten
ISBN9783608107494
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Im Unterschied zu den Sechzigern haben die siebziger Jahre keine gute Presse. Die Sechziger gelten als cool und heroisch, sie tragen das Gesicht von John F. Kennedy und den Sound von Miles Davis. Die Männer fuhren schnell und bewegten sich sparsam, die Frauen waren intellektuell und trugen Mähne. Alles war noch auf Anfang gestellt, alles war vintage. Die Siebziger stehen im Ruf der Wiederholung und im Zeichen der Dekadenz, sie waren zu bunt, zu laut, zu formlos. In Deutschland mündeten sie in die Katastrophe der RAF-Morde, international in die letzte, harte Phase des Kalten Krieges. Ästhetisch hinterließen sie Betonwüsten, bildungspolitisch die reformierte Massenuniversität. Ihr Farbspektrum war nicht besser als ihr politisches und moralisches Design. Es ist nicht leicht, die Siebziger zu mögen. Außer wenn man sie intensiv erlebt hat und auf dem Weg war, ein Intellektueller zu werden.

Ulrich Raulff, geboren 1950, studierte Geschichte und Philosophie in Marburg, Frankfurt und Paris, forschte in Europa und den USA. Er lebte in Berlin, Frankfurt und München, leitete das Feuilleton der F. A. Z., war leitender Redakteur der SZ. Seit zehn Jahren ist er Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Für sein Buch »Kreis ohne Meister: Stefan Georges Nachleben« erhielt er 2012 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch und Essayistik.

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Leseprobe

Das wahre Sein


Es war ein Abend im Frühsommer vor einigen Jahren. Ich war zum ersten Mal wieder in Marburg, hatte einen Moment Zeit und ließ mich treiben. Über die Mensabrücke, an der Lahn entlang, durch den alten Botanischen Garten, das Asthmatreppchen hinauf in die Oberstadt, über den Marktplatz, am Café Vetter und an der Alten Universität vorbei. In lockerem Trab über die Universitätsstraße und durchs Südviertel bis zum Archiv am Friedrichsplatz. Keine Stelle, an der nicht Erinnerung in dichten Schichten lagerte, Namen, die sich blitzartig mit anderen verknüpften. Alte Freunde, alte Plätze, bleibende Verbindungen und der Nachgeschmack zerbrochener Freundschaften. Frauen, in die ich verliebt gewesen war und deren Todesanzeige ich plötzlich in der Zeitung fand. Die Stimmen aus der Vergangenheit, der Stoff, aus dem man Träume macht, wenn man nach einer Ewigkeit zurückkommt in die Stadt, in der man jung gewesen ist.

Aber in mir rührte sich nichts. Kein Funkenflug aus der Vergangenheit, kein Flirt mit der Erinnerung. Vier Jahrzehnte lagen zwischen jetzt und damals, eine lange, kühle Distanz. Irgendwann saß ich wieder an der Lahn, rührte in meinem Kaffee und fragte mich, was mit mir los war. Mein altes Selbst war mir fremd geworden.

Zuerst hatte ich das Geräusch überhört. Dann drängte es sich in mein Bewusstsein, nicht seiner Lautstärke wegen, sondern durch seinen Rhythmus. Er kam von einer Trommel, einer Art Buschtrommel, die ein junger Kerl schlug. Im Tempo nicht besonders schnell, denn diejenigen, die er anfeuerte, waren nicht Tänzer, sondern Ruderer. Der Trommler saß an der Spitze eines Boots und schlug der Mannschaft den dröhnenden Takt. Gehorsam hoben und senkten sich die Ruder, unaufhaltsam schob sich das Boot die Lahn hinauf – oder vielmehr den Fluss, der früher einmal so geheißen hatte und der jetzt zu den Nebenflüssen des Kongo zählte. Weiter flussaufwärts, wo früher ein Ort namens Wehrda gewesen war, lag jetzt das Herz der Finsternis. Schon war die Galeere meinem Blick entschwunden. Mit dem letzten Schlag der Trommel war ich zu mir gekommen. Ich wusste wieder, wer und wo ich war. Nur die Zeit hatte sich verändert, und mit ihr der Stil des Lebens.

Achtundsechzig war vorbei, als ich das erste Mal nach Marburg kam. Die siebziger Jahre hatten begonnen. Aber es dauerte seine Zeit, bis die Nachrichten von den neuesten Ereignissen und Moden in die ruhigen Buchten Oberhessens getragen wurden. Marburg war eine Art Freilichtmuseum, in dem man den Stil von 68 noch lange Zeit ziemlich unverändert studieren konnte. Anfangs fand ich das aufregend. Ich hatte das, was man sich unter 68 vorstellt, teach ins, Demos, freie Liebe und so, verpasst. Als es losging, war ich noch auf der Schule, dann kam die Bundeswehr, und als ich wieder auf der Straße stand, war das Fest vorbei. Oder der Spuk, wie man will. In späteren Diskussionen bezeichnete ich mich als Flakhelfer von 68, und das traf es nicht schlecht. Für die Studentenrevolte war ich zu jung gewesen, und als ich selber zu studieren begann, war die Revolte alt und in die Verwaltung von kommunistischen Splittergruppen übergegangen. Die Spannung war verflogen, geblieben waren die Erklärungen. Kein guter Moment für einen, der auszog, ein Intellektueller zu werden.

Jede Zeit neigt dazu, ihre akuten Problemlagen, aber auch ihre Theorien und Konzepte als naturgegeben zu empfinden. Die aktuell sich ereignende Gegenwart hat etwas von einer langsam ablaufenden Naturkatastrophe, der sich niemand entzieht. Anders und paradox gesagt: An ihrer Spitze ist die Gegenwart stumpf. Auch der Marburger Student vor vierzig Jahren lebte im unsichtbaren Käfig intellektueller Zeitgenossenschaft. Selbst wenn ihn frühe intensive Nietzsche-Lektüre davor bewahrte, von den Jugendverbänden der Marburger Schule, MSB Spartakus und Sozialistischer Hochschulbund (SHB), absorbiert zu werden, und wenn ihn eine in der mütterlichen Linie vererbte Skepsis, vielleicht auch die Bekanntschaft mit der aktuellen Institution der Armee vor der Militanz kommunistischer Splittergruppen schützte – er war ein Kind seiner Zeit, so klug wie diese und genauso dumm.

Ende Mai 1976 starb Martin Heidegger, wenige Tage später erschien das berühmte Spiegel-Interview mit dem Philosophen. Von den Fotos von Digne Meller Marcowicz blieb mir vor allem ein Bild der Protagonisten, Heidegger und Augstein, in Erinnerung. Es ist das berühmte Bild der beiden auf dem Feldweg. Man sieht sie von hinten: rechts der Denker, einen hölzernen Wanderstab in der Hand und einen Rucksack auf dem breiten, gebeugten Rücken, links der Journalist im damals üblichen Outfit: schwarzer Anzug, Halbschuhe, Aktentasche. Das Bild kam mir vor wie ein film still aus meinem ältesten Traum. Obwohl ich an der Universität, an welcher der eine der beiden sein Hauptwerk geschrieben hatte, Philosophie studierte, war mir die ganze Zeit über klar gewesen, welcher Spezies ich angehörte und auf welchen Typus ich lossteuerte. Die Stadt zog mich an, das schnelle Leben. Aber war nicht auch die Philosophie in der Stadt geboren? Zum Teufel mit dem Land.

Mein erster Studientag, wir schrieben die frühen siebziger Jahre, führte mich statt ins historische Proseminar, für das ich eingeschrieben war, in die Vorlesung von Wolfgang Abendroth. Auch wenn einer nicht nach Marburg kam, um den wissenschaftlichen Sozialismus zu studieren oder sich der Geschichte der Arbeiterbewegung zu widmen, war Abendroth unumgänglich: das große Tier, das legendäre Haupt der Marburger Schule. Dass Jürgen Habermas sich zehn Jahre zuvor bei ihm habilitiert hatte – mit dem »Strukturwandel der Öffentlichkeit« –, wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht, hätte ich es gewusst, hätte es mich wenig beeindruckt. Die Zeit, da ich tief in den Positivismus-Streit, dann in die Luhmann-Kontroverse vergraben lag und nachts im Traum ein Habermas-Quiz zu beantworten hatte, war noch fern. An diesem Morgen hatte ich eher mit einem aufdringlichen Déjà-vu zu kämpfen. Ich hatte am Vorabend »Cat Ballou« gesehen, und tatsächlich verband Abendroth eine gewisse Ähnlichkeit mit Lee Marvin.

Abendroth war ein beeindruckender Rhetor und eine faszinierende Gestalt, heute würde man sagen ein Charismatiker. Mitten im Reden zündete er sich eine Zigarette an, das heißt, er riss ein Streichholz an und sprach weiter, während sich die Flamme langsam seiner Hand näherte, dann ließ er das Hölzchen fallen und zündete das nächste an – und so ging es weiter. Brannte die Zigarette endlich, vergaß er zu ziehen und ließ sie langsam zu einem Aschestäbchen werden, das irgendwann abbrach und zu Boden fiel. Wenn wir den Song der Fraternity of Man hörten – Don’t bogart that joint, my friend –, dachten wir an Abendroth. Sprechen war ihm natürlich wichtiger als Rauchen, lange war es ihm verboten gewesen. Die Nazis hatten den jungen Kommunisten für vier Jahre ins Zuchthaus gesperrt und dann ins Strafbataillon 999 gesteckt; er hatte alles überlebt, aber manchmal brach in späteren Jahren sein Redestrom plötzlich ab und er stand da, einen Augenblick lang restlos verloren. Als englischer Kriegsgefangener war er in die SPD eingetreten, Anfang der Sechziger flog er wieder raus, weil er sich nicht schnell genug von dem sich radikalisierenden SDS distanziert hatte. Später sympathisierte er mit der DKP, aber eigentlich war er zu intelligent, vielleicht auch innerlich zu frei für die Parteien; seine Schüler waren robuster.

Der Bekannteste unter ihnen, weltberühmt in Marburg, könnte man sagen, war Frank Deppe. Es gehört zu den besonderen Erlebnissen meiner frühen Studententage, dass ich eines Morgens die »Phil Fak« – die Kurzform sagt alles –, also die Philosophische Fakultät in den Lahnauen, betrat und an einem Betonträger die emblematische Inschrift las: »Marx an die Uni – Deppe auf H4«. Lenin hat sich bekanntlich über die deutschen Revolutionäre lustig gemacht, die den Perron erst besetzten, nachdem sie eine Bahnsteigkarte gelöst hatten. Die Aufforderung in der Phil Fak ging zeitgemäß weiter und postulierte die Revolution mit dem Anspruch auf volle Altersruhebezüge. Abgesehen vom üblichen Dogmatismus seiner Lehre, den er mit anderen Kollegen aus der Abendroth-Schule wie Georg Fülberth teilte, war Deppe ein ganz umgänglicher Zeitgenosse. Manchmal konnte man ihn im Jazz-Keller Bebop spielen hören, gemeinsam mit dem Bassisten Buschi Niebergall, einem zartfühlenden Hünen, der aussah wie der Frauenmörder Landru. An manchen Abenden kam Albert Mangelsdorff von Frankfurt herüber und füllte den Keller mit seiner knatternden, quietschenden und seufzenden Posaune.

Dass Marburg damals »das rote Marburg« hieß und dem Rötegrad nach allenfalls von Berlin oder Bremen übertroffen wurde, lag weniger an Abendroth selbst als an dessen »Schule« – und mehr als an dieser an ihrer Ausstrahlung in andere Bereiche, zum Beispiel die Philosophie. In diesem Fach wurde eines schönen Tages Hans Heinz Holz zum Professor berufen, ein Mann von ähnlicher Prägnanz wie Abendroth und großer persönlicher Eleganz, aber auch von einer bestürzend versteinerten marxistischen Dogmatik. In Reinhard Brandt, einem subtilen Kant-Exegeten, erwuchs ihm ein Gegner von gleicher Eleganz, aber unerwartet bitterer Härte. Schon damals berührte es uns peinlich, ja schmerzhaft, die beiden bewunderten Männer in einen finsteren politischen Kleinkrieg verstrickt zu sehen. Tatsächlich blieben ihre Streitpunkte ja an der Oberfläche dessen, was wir zu verstehen suchten. Der Übergang von der Seinslogik zur Begriffslogik bei Hegel schien davon ebenso wenig berührt wie der transzendentale Paralogismus Kants. Überhaupt kam es mir vor, als drängen die politischen Deutungsversuche...

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