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E-Book

Heimat ist die schönste Utopie

Reden (wir) über Europa

AutorRobert Menasse
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl120 Seiten
ISBN9783518737927
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Jahrhunderte brauchen noch einmal rund eineinhalb Jahrzehnte, bis sie sterben. 1814/15, mit dem Wiener Kongress, starb das 18. Jahrhundert. 1914 starb das 19. Jahrhundert. 2014/15 ist es an der Zeit, dass endlich das 20. Jahrhundert stirbt - die Epoche, die von der Raserei des Nationalismus und seinen fortwirkenden Konsequenzen geprägt war. Die Welt ist längst ein transnationales Gebilde geworden, es gibt nichts mehr von Belang, das innerhalb nationaler Grenzen geregelt oder an nationalen Grenzen gestoppt werden kann. Auch wenn Deutschland 1989 seine nationale Wiedergeburt feierte, bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 den fröhlichen Patriotismus wiederentdeckte, und in Folge der griechischen Staatsschuldenkrise ab 2010 aggressiv und stolz alte nationalistische Klischees restaurierte - die Nationen werden sterben. Wenn die Wirklichkeit nicht standhält, wird diese Idee die Massen ergreifen. In einer Reihe von Vorträgen interpretiert Robert Menasse das Testament der sterbenden Epoche: Nationen sind Betrug, Regionen sind Heimat.

<p>Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980 mit einer Arbeit &uuml;ber den &raquo;Typus des Au&szlig;enseiters im Literaturbetrieb&laquo;. Menasse lehrte anschlie&szlig;end sechs Jahre &ndash; zun&auml;chst als Lektor f&uuml;r &ouml;sterreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut f&uuml;r Literaturtheorie &ndash; an der Universit&auml;t S&atilde;o Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen &uuml;ber philosophische und &auml;sthetische Theorien ab, u.a. &uuml;ber: Hegel, Luk&aacute;cs, Benjamin und Adorno. Seit seiner R&uuml;ckkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist haupts&auml;chlich in Wien.</p>

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Leseprobe

Von der Schwierigkeit und der Notwendigkeit, aus der Geschichte eine Idee zu machen


Sehr geehrte Damen und Herren!

 

Unlängst hatte ich einen Albtraum.

Ich sah einen großen Saal, darin eine lange Tafel, an der etwa ein Dutzend Männer und eine Frau saßen. Es war der Saal eines Schlosses, aber er wirkte nicht prächtig und prunkvoll. Ich sah, dass es hier vor kurzem gebrannt haben musste: Eine seitliche Flügeltür hing verkohlt in den Angeln, die Wand daneben war rußgeschwärzt, in der Ecke lag Schutt. Die großen Spiegel an der Rückwand des Saals waren blind. Auf einem der Spiegel war mit Klebestreifen eine Landkarte von Europa befestigt, auf der wirre Linien eingezeichnet waren. An der Längsseite des Saals befanden sich gläserne Flügeltüren zum Schlosspark hin, aber dicke Eisblumen auf dem Glas verwehrten jeden Ausblick. Es gab kein elektrisches Licht, auf der Tafel standen drei Kandelaber, die Kerzen flackerten. Diese und die lodernden Flammen in einem offenen Kamin warfen tanzende Schatten in den halbdunklen Raum. Ich wusste im Traum sofort, dass dies der Festsaal des Château de Lunéville war – hier ist im Licht gleißender Lüster einer der zahllosen und nicht erst heute vergessenen Friedensverträge in der Geschichte Europas unterzeichnet worden. Warum wusste ich das? Ich verarbeitete im Traum Tagesreste. Ich hatte an diesem Tag eine Rede von Jacques Delors gelesen, die er im Jahr 1986 im Schloss Lunéville vor den Außenministern der EU-Mitgliedstaaten gehalten hatte. »Hier in diesem Saal«, hatte Delors damals gesagt, »ist im Jahr 1801 ein Friedensvertrag unterzeichnet worden, dessen Präambel lautet wie folgt:

Se. Majestät der Kaiser, König von Ungarn und Böhmen, und der erste Consul der Republik Frankreich, im Namen des Französischen Volkes, denen es beiden am Herzen liegt, den Uebeln des Kriegs ein Ende zu machen, haben sich entschlossen, zu der Abschließung eines Definitiv-Friedens- und Freundschafts-Tractats zu schreiten.«

»Ich bitte Sie«, setzte Delors fort, »Ihre Aufmerksamkeit auf den Begriff Definitiv-Frieden zu richten. Der Vertrag sollte ein Fundament für die weitere Befriedung des Kontinents bilden, aber« – und nun zählte Delors die Kriege auf, die danach in rascher Folge ausbrachen, und die Friedensverträge, die darauf folgten und die in ihren Präambeln alle mit den Adjektiven »definitiv« oder »immerwährend« geschmückt waren, bis hin zu den Verträgen, die noch kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unter dem Baldachin »Peace for our time« unterzeichnet worden waren. »Definitiv«, sagte Delors schließlich, »war nur: dass so gut wie jede Generation in Europa einen Krieg erleben musste!«

Aber ich wollte von meinem Traum erzählen. Ich sah also diesen Saal, die Tafel, und am Kopfende sah ich ihn: Jacques Delors, den ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, jetzt beinahe neunzig Jahre alt, seit fast zwanzig Jahren ohne politisches Amt, gebrechlich, geradezu geschrumpft in einem Rollstuhl sitzend, sein Kopf aber wirkte riesig auf dem eingefallenen Körper. Hinter ihm standen ein Mann und eine Frau. Die Frau war Krankenschwester, der Mann war Arzt, ich wusste, das waren Schwester Christine und Doktor Grün, sie betreuten den alten Mann und standen bereit, falls er einen Schwächeanfall erleiden sollte. Nun erkannte ich auch die Tischgesellschaft: Es waren Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Jacques Delors war besorgt über die Krise der EU und den Siegeszug der Nationalisten und Anti-EU-Populisten bei der Wahl zum Europäischen Parlament. Er hatte alles aufgeboten, was ihm als Mann von historischer Bedeutung, geradezu als Legende, an Netzwerken und Autorität noch zur Verfügung stand, um die politischen Führer der EU-Mitgliedstaaten zu diesem informellen Treffen einzuladen, »zu einem Gedankenaustausch«, aber wohl eher, um sie ins Gebet zu nehmen. Nicht alle waren der Einladung gefolgt – »aber immerhin, Kerneuropa ist vertreten«, sagte der österreichische Kanzler. »Der Kern ist das, was man ausspuckt!«, sagte der Ministerpräsident von Ungarn. »Dann wächst ein neuer Baum draus«, sagte Delors.

Der Strom war ausgefallen. Man hörte kratzende und scharrende Geräusche. Ab und zu blitzte es. Das waren die Reporter, die das Eis an den Glastüren abschabten und dann versuchten, von draußen Fotos von der Gesellschaft in diesem Saal zu machen. »Wer hat die Presse informiert?«, fragte die deutsche Kanzlerin. »Die Presse ist nie informiert«, sagte der italienische Ministerpräsident, »man füttert sie, aber man informiert sie nicht!«

Aber ich weiß nicht, ob ich das jetzt nicht erfinde. Was ich auf jeden Fall wirklich geträumt habe, ist Folgendes: Delors redet. Er erläutert die Idee des Europäischen Projekts. Immer wieder sagt er »Rekonstruktion der Idee« und »Wiederaufbau des Projekts«. Der offene Kamin kann den Saal nicht ausreichend heizen. Die Staatschefs frieren. Immer wieder steht einer auf, wenn die Flammen im Kamin kleiner werden, und wirft seinen Stuhl ins Feuer. Als alle ihre Stühle verheizt haben und um den Tisch herum stehen, ausgenommen Delors, der in seinem Rollstuhl sitzt, wird das Essen aufgetragen: Es ist ein Eintopf. Zugleich wird die Tür des Saals aufgestoßen, Journalisten strömen herein, berichten von Truppenbewegungen in der Ukraine, verlangen Erklärungen von den Staatschefs. Delors sinkt zusammen. Schwester Christine kann nicht verhindern, dass er vom Rollstuhl rutscht. Er liegt auf dem Boden, und Doktor Grün beginnt mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Das Holz der Stühle knattert und knallt im Kamin, die Flammen lodern auf. Doktor Grün stellt den Tod von Delors fest. »Wir müssen ihn endlich begraben«, sagt die deutsche Kanzlerin. Warum sagte sie »endlich«? Aber der Boden draußen ist allzu hart gefroren, also reißt man den Parkettboden auf. Darunter befindet sich Lehm, das Fundament ist weich. Als Delors schließlich in einer Grube inmitten des Saals mit den blinden Spiegeln liegt, tritt der österreichische Kanzler heran, nimmt einen Löffel, taucht ihn in die Schüssel, die auf dem Tisch steht, kippt den Löffel in die Grube und sagt pathetisch: »Eintopf aus Österreich!«

Einer nach dem anderen tritt vor, nimmt den Löffel:

»Eintopf aus Deutschland!«

»Eintopf aus Kroatien!«

»Eintopf aus Italien!«

»Eintopf aus Spanien!«

»Eintopf aus Ungarn!«

und so weiter, bis schließlich jemand Doktor Grün den Löffel in Hand drückt.

»Ich?« Und mit einem Zögern, aber nicht lächerlich, eher anrührend, sagt der jüdische Doktor: »Eintopf – aus – Eintopf aus Europa!«

Da läuft Schwester Christine davon, der französische Präsident versucht, sich ihr in den Weg zu stellen: »Wo wollen Sie denn hin? Bleiben Sie doch!«

Und die Krankenschwester sagt: »Ihr habt Eure Völker und Nationen, aber mich werden jetzt draußen die Menschen brauchen!«

Ich wachte auf und – warum erzähle ich das? Ich wollte vom europäischen Traum berichten und beginne mit einem Albtraum!

Vielleicht hatte ich diesen Albtraum, weil der Traum davor schon einmal in der Realität gescheitert ist.

Ich bin nie ein Nostalgiker des Habsburgerreichs gewesen. Die Nostalgie war ein Fall für die Germanistik. Als ich studierte, musste natürlich Claudio Magris' Arbeit über den Habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur, die wenige Jahre davor auf Deutsch erschienen war, auf der Leseliste stehen, wenn es um Autoren wie Robert Musil, Joseph Roth oder Stefan Zweig ging. Das war ein Zugang zu dieser Literatur. Natürlich war ich von Joseph Roths Romankunst begeistert, aber ich war auch von Dostojewski begeistert, ohne dass ich deswegen dem Zarenreich nachgetrauert hätte, oder von Theodor Fontane, durch den ich die Welt der deutschen Junker zu verstehen lernte, ohne ihr eine Träne nachzuweinen. Das Habsburgerreich war eine untergegangene Welt, und ich konnte sie mit meiner Welt nicht anders in Beziehung setzen als im Sinne eines einfachen Fortschrittsdenkens: Meine Welt war ein Fortschritt zu dieser, die zu Recht auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet war. Da mochten sich Würmer durchfressen und schmatzend einen Humus produzieren, auf dem höchstens noch Stilblüten wuchsen: Der Präsident der Republik, die nun meine Lebensrealität war, wurde »Ersatzkaiser« genannt, der Kanzler der Republik war der »Sonnenkönig«, die beiden großen Parteien der Republik hießen »linke und rechte Reichshälfte«, das war alles nicht ernst. Die imperialen Kulissen der ehemaligen Residenz-Stadt Wien waren wichtig für die zeitgenössische Tourismus-Wirtschaft. Ich lebte abseits der Touristenpfade. Die Filme mit Sisi und Kaiser Franzl waren Märchen, die nicht von Großmüttern, sondern für Großmütter erzählt wurden. Alte Monarchisten und praktizierende Habsburg-Nostalgiker waren im politischen und öffentlichen Leben nicht auffällig, ich sah keine und kannte keine. Der Kaiser war ein toter Hund. Und ich glaubte an eine Geschichtslogik, an einen dialektischen Fortschritt der Geschichte im Geist der Freiheit, und im Sinn dieser geschichtlichen Teleologie war das Habsburgerreich vernünftigerweise untergegangen. Der Fortschritt bestand – zumindest in Österreich – in einer Überwindung feudaler Privilegien, der Abschaffung der Adelsprädikate, der Durchflutung der Gesellschaft mit mehr Demokratie, der Überwindung des größten Elends des Proletariats. Das alles war noch lange nicht genug, aber immerhin doch ein Fortschritt. Und dann gab es einen Begriff, den ich im Zusammenhang mit der Habsburgermonarchie immer wieder...

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