5 Der Sprung ins Ungewisse – resiliente Verhaltensweisen erlernen
Das Erlernen resilienzfördernder Verhaltensweisen ist mit Einstellungsänderungen und mit Änderungen im konkreten Verhalten bzw. Lebensvollzug verbunden. Wie jedes Umlernen ist dies ein Prozess, der Investition erfordert und Hindernisse sowie Rückschläge beinhaltet. Wie funktioniert Um- bzw. Neulernen? Zu dieser grundlegenden Frage gibt es inzwischen eine ganze Menge nützlicher neurowissenschaftlicher Erkenntnisse.
Eigentlich wollte ich mich heute nicht hetzen lassen. Eigentlich wollte ich heute in Ruhe dieses Buch lesen. Eigentlich wollte ich diese Woche unbedingt mal wieder zum Sport. Eigentlich. Wie kommt es, dass Dinge, die mir wichtig sind, immer wieder hinten runterfallen? Es kommt etwas dazwischen. Dieses „etwas“ sind Stresssituationen und Schemata, d. h. biografisch erworbene Denk-, Fühl- und Handlungsmuster. Nichts entfernt mich so schnell von meinen „Eigentlich-Zielen“ wie Situationen, in denen mir zumindest kurzfristig die Felle, d.h. die gefühlten Ressourcen, davonschwimmen.
Stress ist immer auch gleich bedeutend mit einer Gefährdung der oben beschriebenen Grundbedürfnisse: Es droht ein Kontrollverlust, eine soziale Enttäuschung oder Zurückweisung, körperliches Unbehagen oder eine (Selbst-)Abwertung. Etwas ist anders, als es sein sollte. Sind unsere Grundbedürfnisse gefährdet, werden so genannte motivationale Schemata aktiviert. Schemata sind nichts anderes als neurobiologisch verankertes Erfahrungswissen darüber, wie unsere Grundbedürfnisse am wirksamsten geschützt oder erfüllt werden: Was hat sich in ähnlichen Situationen bewährt? Lösungsversuche, die in der Vergangenheit hilfreich, vielleicht sogar (zumindest emotional) überlebenssichernd waren, sind gut gebahnt und wischen als neuronale Autobahnen den kleinen Trampelpfad zum „Eigentlich-Ziel“ schnell beiseite.
Kurz: Veränderung im Sinne von Verhalten, das meinen guten Vorsätzen gegenüber loyal ist, ist im Stress unwahrscheinlich. Es wird unter fünf Bedingungen wahrscheinlicher:
Wenn mir die eigenen Denkgewohnheiten in ihren Auswirkungen bewusst oder zumindest bewusster sind.
Wenn die gewünschten Verhaltensweisen durch neurobiologische Bahnungsprozesse unterstützt werden.
Wenn ich es – zumindest in einer Übergangsphase – schaffe, Zeit zu gewinnen.
Wenn ich mich wiederholt so verhalte, wie ich es mir wünsche.
Wenn es um kleine Schritte geht.
5.1 Wer spricht da bitte? – die eigenen Denkmuster kennen
„Ich kann schwer Niederlagen anerkennen. Im Grunde genommen habe ich mein ganzes Leben das Gefühl, nicht genug zu machen. Mein Vater hat immer gesagt, wenn du Hilfe brauchst, dann schaue an das Ende deiner Arme, dort sind deine helfenden Hände, die du brauchst. Mein Vater hat mich anerkannt, respektiert und war stolz auf mich, aber trotzdem ist immer das Gefühl geblieben, ich muss ihm etwas beweisen, so dass er stolz auf mich ist. Das war sicherlich so eine treibende Kraft. Ich kam nicht aus einer Akademikerfamilie und ich wollte es allen zeigen, dass ich es durch Fleiß erreichen kann.“
Chefarzt (58 Jahre), Chirurgie
„Man ist nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern um zu arbeiten und nützlich zu sein. So wurde mir das eingebläut. Also nie im Jetzt sein zu dürfen und sich zu vergnügen. Nein, das steht mir jetzt nicht zu, das wäre Verschwendung.“
Oberarzt (52 Jahre), Innere Medizin
In unseren Gesprächen mit von Burnout, Depression und Substanzabhängigkeit betroffenen Ärzten erkennen diese in der Rückschau Glaubenssätze, denen sie viele Jahre selbstverständlich gefolgt sind. Erst die Krise ermöglicht es ihnen, infrage zu stellen, ob das, was ihr Handeln wesentlich leitete, auch tatsächlich im praktizierten Ausmaß gelten muss. Bis zu einem gewissen Grad schwimmen wir alle im Meer unserer impliziten Lebenserfahrungen und Überzeugungen. Niemand ist frei von diesen inneren „Einflüsterungen.“ Um sich nicht von ihnen fernsteuern zu lassen, ist es gut, sie zu kennen und von Zeit zu Zeit zu überprüfen, ob das, was sich in einer bestimmten Lebensphase bewährt hat (und das muss es, sonst hätten Sie es nicht beibehalten! ), noch dienlich ist für die aktuellen Lebensziele. Symptome wie Unzufriedenheit, Erschöpfung, Rastlosigkeit sind ein hervorragender Anlass, die Glaubenssätze, die das Verhalten im Alltag leiten, aus der Versenkung zu holen und einer Überprüfung zu unterziehen.
Kennen Sie Situationen, in denen Sie sich immer wieder anders verhalten, als Sie es sich von sich selber wünschen würden? Anders, als Sie es sich beim müden Abendessen, im genüsslichen Urlaub, auf der letzten Fortbildung oder im Gespräch mit Ihrem besten Freund vorgenommen haben? Haben Sie sich schon einmal gefragt, wer oder was Sie da treibt? Meist sind es Denk- und Handlungsgewohnheiten, die den Charakter von Reflexen annehmen: In der konkreten Situation liegt nichts näher, als sich wie immer zu verhalten, also beispielsweise „ja“ zu sagen, obwohl Sie „nein“ meinen. Es lohnt sich zu fragen, für welches Problem das bisherige Verhalten die Lösung sein könnte? Was gewinnen Sie, indem Sie es so wie immer machen? Sicherheit, Anerkennung, Ruhe, Chancen …? Was vermeiden Sie dadurch, dass Sie so wie bisher entscheiden? Enttäuschung oder Ärger des Gegenübers, verpasste Gelegenheiten …? Wo und wann in Ihrem Leben könnte die Idee entstanden sein, dass es so und nur so am besten ist?
Manchmal ist der Gewinn gar nicht mehr unmittelbar erkennbar, dann erscheint das eigene Verhalten einfach nur als schnell anspringende Gewohnheit. In beiden Fällen gilt: Man muss die eigenen Denk-, Fühl- und Handlungsgewohnheiten kennen, um sich für oder gegen sie entscheiden zu können. Zur Freundschaft mit sich selbst ▶ [18] gehört deshalb wesentlich der Aufbau einer Beobachterposition gegenüber sich selbst, d.h. der Fähigkeit, sich selbst freundlich-interessiert über die eigene Schulter zu schauen. Fast immer besteht der erste Schritt nicht darin, ein Verhalten zu verändern, sondern sich selbst in dem, was gegenwärtig der Fall ist, zu besser kennen zu lernen. Wir werden Sie deshalb das ganze Buch hindurch – besonders aber in Kap. ▶ 10 – einladen, sich Ihre impliziten und expliziten Erwartungen an sich selbst und die dahinter liegenden Glaubenssätze bewusst zu machen.
5.2 Priming nutzen
„Man fühlt sich nicht wohl dabei Dinge abzulehnen. Das ist ganz klar. Ich glaube, man muss sich das vorher vornehmen; wenn ich mir das nicht ganz fest vornehme, mache ich es nicht. Weil man sich in dem Moment scheiße fühlt und man ja sagt, wenn man kurzfristig denkt und sich nicht vorbereitet hat, denn die Situation ist akut unangenehm. Am besten kommt man natürlich raus, wenn man sagt:, Ja, Herr Professor’, und dann lächelt er und man selber und die Situation sind erst einmal gerettet und das böse Erwachen kommt dann später. Deshalb muss man sich das vorher explizit vornehmen. Das mache ich auch.“
Assistenzarzt (31 Jahre), Kinder- und Jugendmedizin
Alte Gewohnheiten durchbrechen Selbst wenn ich mir die bewusste Erlaubnis erteile, anders zu handeln als bisher, gilt: Die gut gebahnten Strategien der Vergangenheit brechen unter Druck und Stress schneller durch als alle bewussten Vorsätze. „Es“ ist mal wieder so gelaufen, obwohl ich doch eigentlich etwas ganz anderes wollte. Alte Muster dominieren...