Steffen Mau/Nadine M. Schöneck
Einleitung: (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten
Vor rund einem Jahrzehnt spielte sich auf einer großen internationalen Konferenz mit Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten eine aufschlussreiche Szene ab: Ein bekannter deutscher Soziologe sprach über soziale Ungleichheiten in Europa und führte zahlreiche, aus seiner Sicht relevante Ungleichheitsdimensionen auf. Als er zum Ende kam, wurde es unruhig im Saal, und aus einer Ecke regte sich besonderer Unmut. Ein britischer Leitartikler meldete sich zu Wort und begann zu schimpfen. Aus seiner Sicht würden Soziologen nichts anderes tun, als immer neue Ungleichheiten zu entdecken und diese zum Problem zu machen. Sie erzeugten ihren Gegenstand gleichsam selbst und hätten bedauerlicherweise kein Instrumentarium entwickelt, gute und wünschenswerte Ungleichheiten von problematischen Ungleichheiten zu unterscheiden. Dieser Vorwurf saß, betraf er doch das Kerngeschäft soziologischer Analyse und die Frage danach, ob die Relevanzbehauptung der Ungleichheitsforschung überhaupt eine wissenschaftliche oder lebensweltliche Fundierung hat.
In der Tat kommt man nicht umhin zu konzedieren, dass diese Frage in vielen Arbeiten zur Ungleichheitsthematik stillschweigend in den Hintergrund gedrängt wird. Soziologen interessieren sich für die Beschreibung von Ungleichheiten sowie die Mechanismen ihrer Genese und weniger dafür, in welchem Sinne sie eigentlich ein »Problem« darstellen. Die von Rousseau (1984 [1755]) in seinem Diskurs über die Ungleichheit hergestellte Verknüpfung zwischen dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und der Frage, ob und wie sie gerechtfertigt wird, ist später bemerkenswerterweise nach und nach aufgegeben worden. In einer Art unausgesprochener Arbeitsteilung wurden die normativen Fragen den Philosophen überlassen, die sie häufig fern aller Empirie und ohne weitergehende Kenntnis der Ursachen, Erzeugungsdynamiken und Folgen sozialer Ungleichheiten behandeln.
War es rund um das Thema Ungleichheit für lange Zeit recht still geworden, boomt es nun wieder. Ungleichheit hat die Titelseiten der Tageszeitungen erobert, und selbst konservative Medien schwenken nun auf den ungleichheitskritischen Diskurs ein. Plötzlich gelten Aussagen als opportun und mehrheitsfähig, die man zuvor als diskursive Reflexe der üblichen »Betroffenheitsakteure« abgetan hatte: der Gewerkschaften, der Linken oder derjenigen, die im gesellschaftlichen Verteilungsspiel ganz allgemein zu kurz gekommen sind. Dass sich die Debattenlage so heftig verschoben hat, hängt vor allem mit gesellschaftlichen Veränderungen zusammen, also dem mittlerweile berühmt-berüchtigten Aufgehen der Einkommensschere, der sich zuspitzenden Vermögenskonzentration, der anhaltend engen Verkopplung von sozialer Herkunft und Lebenschancen, der stärkeren Sensibilisierung für globale Ungleichheiten und der Entstehung einer gesellschaftlichen Unterschicht am unteren und einer neuen Gruppe von »Obertanen« am oberen Ende der Sozialstruktur.
Einige statistisch belegbare Entwicklungen sind in diesem Zusammenhang in der Tat frappierend: Zwar können wir im Zuge des ökonomischen Wachstums in bevölkerungsreichen Ländern wie China, Indien oder Brasilien die Herausbildung einer neuen Mittelschicht beobachten, gleichzeitig wachsen jedoch die Einkommens- und Vermögensungleichheiten innerhalb dieser Länder. Auch global ist der Reichtum äußerst ungleich verteilt: Die eine Hälfte befindet sich in den Händen von einem Prozent der Weltbevölkerung, die übrigen 99 Prozent teilen sich die andere Hälfte. Auch für Deutschland liegen Zahlen vor, die auf eine überaus schiefe Verteilungssituation hinweisen: Das private Vermögen konzentriert sich zunehmend bei einer kleinen Bevölkerungsgruppe. Der viel diskutierte vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat diesen Tatbestand vor einiger Zeit gut dokumentiert (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013). Zwar erlitt dieser Trend in Folge der jüngsten Finanzkrise eine kleine Delle, aber seitdem steigt das Vermögen der Privilegierten weiter an, und die gesamtgesellschaftliche Ungleichverteilung nimmt weiter zu. Zugleich lässt sich ein profunder Strukturwandel der Ungleichheit beobachten, etwa Prekarisierungstendenzen im unteren Arbeitsmarktsegment, die Entstehung eines Dienstleistungsproletariats, ein erhöhtes Armutsrisiko von Alleinerziehenden und Großfamilien, verstärkter Wettbewerbsdruck in nahezu allen Lebensbereichen, Verdrängungsprozesse in den Innenstädten, die auch die Mittelschicht betreffen, oder ungleiche Lebenschancen im Kohortenvergleich.
Die moralische Empörung über solche Befunde ist verständlich, denn die sozioökonomischen Entwicklungen der letzten Jahre stellen ein (zumindest in Westeuropa) lange Zeit konsensuell getragenes Verteilungsmodell infrage. Der Kuchen sollte nicht nur wachsen, alle sollten zunehmend größere Stücke davon abbekommen, nicht nur einige wenige. Wenn in Betriebskantinen, Fernreisebussen oder auch universitären Einführungsseminaren zur Sozialstrukturanalyse über Ungleichheit gesprochen wird, dann endet dies oft im Lamento, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Es geht hier vor allem um das diffuse Gefühl, dass Dinge aus dem Lot geraten sind, konkret: dass einige Gruppen unverhältnismäßige Einkommensgewinne und Vermögenszuwächse erzielen können und dass Privilegien mitunter auf unrechtmäßige Weise zustande kommen. Die von vielen Menschen wahrgenommenen Verwerfungen der Ungleichheit haben ihre Akzeptanz prekärer gemacht. Einerseits. Andererseits ist der Umverteilungs- und Ungleichheitsbegrenzungsoptimismus immer weiter abgeflaut, und dies aus dreierlei Gründen: Wir werden Zeugen einer gewissen Schicksalsergebenheit, da man den Lauf der Dinge ja ohnehin nicht ändern könne; hinzu kommt eine nicht unbeträchtliche Skepsis in Bezug auf die Frage, ob staatliche Ungleichheitskorrekturmaßnahmen überhaupt geeignet sind, um die gewünschten Resultate zu erzielen; und schließlich ist nach wie vor die Überzeugung weit verbreitet, der Markt sei zwar taub gegenüber den Gerechtigkeitsansprüchen der Gesellschaft, als Wohlstandsproduzent aber unerreicht und alternativlos. Wer seine Erträge und schöpferischen Leistungen erhalten wolle, müsse daher auch akzeptieren, dass er immer wieder Ungleichheiten produziert.
Diese Diskussion ließe sich in vielen argumentativen Schleifen weiterführen, stellt sich doch sofort die Frage, ob die hier angesprochenen Ungleichheiten tatsächlich marktfunktional sind oder ob sie die Effizienz des Marktes nicht doch eher unterminieren. An dieser Stelle bräuchte man dann allerdings ein Kriterium, mit dessen Hilfe sich Markt und Ungleichheit in ein Verhältnis setzen lassen, ohne die Einbettung in gesellschaftliche Zusammenhänge zu vernachlässigen (vgl. Beckert 2014). Können nicht auch Moral und grundlegende Gerechtigkeitsimperative Marktversagen verhindern und das Überleben der Märkte sichern? Heutzutage erscheint es schon beinahe naiv, auf Märkten produzierte Ungleichheiten ausschließlich als notwendig, funktional und naturwüchsig zu beschreiben, gesellschaftliche Gerechtigkeitsansprüche hingegen als Effizienzbremsen und Ausdruck einer grassierenden Neidkultur.
Es ist wohl so: Das Streben nach mehr Gleichheit ist ins Hintertreffen geraten und als politisches Ziel verblasst, zugleich flammt in nennenswerten Teilen der Bevölkerung auch Empörung über allzu große Ungleichheiten auf. Die »Krise der Gleichheit« (Rosanvallon 2013, S. 15) und die »Krise der Ungleichheit« treten also gleichzeitig auf – das macht die Lage so kompliziert. Daher wird es auch immer wichtiger, die Fragen nach dem gewünschten, notwendigen oder erträglichen Maß an Ungleichheit offener und ehrgeiziger zu adressieren, als dies bislang häufig der Fall gewesen ist. Eine rein normative Betrachtung legitimer Ungleichheiten greift zu kurz, eine rein effizienztheoretische Begründung führt ebenfalls in die Irre. Moderne Gesellschaften sind weitaus mehr als moralische Veranstaltungen, sie sind aber auch sehr viel mehr als optimale Märkte. Geht man von dieser simplen Prämisse aus, kann man ohne ideologische Scheuklappen die eigentlich interessanten Fragen erörtern. Es geht darum, normative und funktionale Aspekte zusammenzudenken, anstatt sie gegeneinander auszuspielen. Dann sieht man schnell, dass beispielsweise die Hyperkonzentration von Vermögen nicht nur moralisch zweifelhaft sein kann, sondern zugleich dysfunktional – mit gravierenden Folgeschäden für wirtschaftliches Handeln und soziale Integration.
Um eine offene Auseinandersetzung über die normativen, sozialen und funktionalen Fragen, die tief in der Ungleichheitsthematik stecken, in Gang zu setzen, haben wir die Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes gebeten, ihre Standpunkte und Sichtweisen pointiert zu Papier zu bringen: Welche gesellschaftlichen Probleme ergeben sich durch die gegenwärtig beobachtbaren Ungleichheitsdynamiken? Wo schlägt Ungleichheit in Ungerechtigkeit um? Auf welche Weise lässt sich wirksam gegensteuern? Welche Ungleichheiten brauchen wir, welche sollten vehement bekämpft werden? Die Antworten und Problematisierungen sind aus der Sicht der Soziologie, der Geschichte, der Politik-, der Wirtschafts- und der Rechtswissenschaften formuliert.
Den ersten Teil dieses Bandes bilden fünf grundlegende Beiträge, die sich dem Ungleichheits-Ungerechtigkeits-Nexus aus unterschiedlichen (theoretischen) Perspektiven widmen. Im zweiten Teil des Bandes werden sieben ausgewählte, unserer Auffassung nach besonders aktuelle Felder der Ungleichheit von...