Teil 1
Der Mensch im Strafvollzug –
Grundlagen und Grundfragen
Sicherheit als Zeichen der Zeit
Zeitdiagnostische und theologische Anmerkungen
Knut Wenzel
Es ist das Vorrecht mündiger Christinnen und Christen, ihrem Glauben in dessen inhaltlicher Bestimmung und der Theologie als dem Reflexions- und Begründungsdiskurs dieser Inhaltsbestimmung Fragen zuzumuten, die nicht schon auf die Gleise längst vorgespurter Antwortbahnen gesetzt sind, Fragen, die das Leben aufgibt. Wenn die systematische Theologie zum Thema Sicherheit als „Zeichen der Zeit“ befragt wird, handelt es sich um eine solche sozusagen quer zu den theologischen Gleisen verlaufende Frage. Wie sich in den folgenden Überlegungen hoffentlich zeigen wird, zwingt die Frage dazu, einfache Oppositionen zu vermeiden; und sie verhilft dazu, neue Verbindungen zwischen theologischen Einzelthemen wahrzunehmen.
1. Einleitung: Begriffliche Klärungen
„Zeichen der Zeit“: Alltagssprachlich bezeichnen wir damit ein Phänomen, das die gesellschaftliche, kulturelle, politische, das Zeitbewusstsein betreffende Situation prägt und/oder kennzeichnet. Die Rede von den „Zeichen der Zeit“ hat demnach eine zeitdiagnostische Sinnspitze. In der Regel verbindet sich mit dieser Rede heute eine mehr oder weniger negative Konnotation: „Zeichen der Zeit“ stehen für eine ambivalente, problematische, negative Zeiterscheinung. In diesem Sinn sind sie wohl auch in der mir aufgetragenen Themenstellung gemeint; in diesem Sinn tauchen sie auch zunehmend in kirchlichen Dokumenten auf.
Zugleich weiß man sich beim Gebrauch dieser Formulierung im kirchlichen Kontext irgendwie mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbunden; hat doch dort die katholische Kirche auf die „Zeichen der Zeit“ reagiert. Es lohnt sich, das ‚irgendwie‘ dieser Rückbindung kurz zu bestimmen: Die Rede von den Zeichen der Zeit erhält im kirchlichen Kontext ihre erste Bedeutungsbestimmung durch Papst Johannes XXIII., der sie mehrfach gebraucht. Auch seine Verwendung hat eine zeitdiagnostische Komponente. Jedoch meint er stets positive Aufbrüche in einem gesellschaftlichen Kontext der Ungerechtigkeit oder des Unheils; positive Aufbrüche, durch welche die Realisation dessen, was in der Botschaft Jesu und in der Verkündigung der Kirche ‚Herrschaft Gottes‘ heißt, gewissermaßen realsymbolisch beginnt. Papst Johannes XXIII. nennt ausdrücklich die Arbeiterbewegung und die Emanzipation der Frauen. Weil in ihnen die Aufrichtung der basileia tou theou zwar anfanghaft und prekär, aber real und konkret greifbar ist, muss die Kirche auf die Zeichen der Zeit achten.2
Diese positive Konnotation der Rede von den „Zeichen der Zeit“ ist heute außer Gebrauch geraten. Auch das mag man (im problematischen Sinn) für ein Zeichen der Zeit halten. Wenn nun im Folgenden von der negativ eingefärbten Bedeutungsvariante der Formulierung Gebrauch gemacht wird, so hoffentlich dennoch eingedenk der Warnung Papst Johannes’, kein Unglücksprophet zu sein.
2. Ambivalenzen der Sicherheit
Das Thema der Sicherheit kann in einer theologisch-zeitdiagnostischen Analyse keine eindeutige Beurteilung erfahren. Einfache Oppositionen, etwa nach dem Schema „Sicherheit hier – Freiheit dort“, stehen einer präzisen Analyse nicht zur Verfügung. Nicht nur Ambivalenzen, sondern „Sicherheitsparadoxien und Risikodilemmata“ sind einer Diagnose Hartmut Böhmes zufolge Signet einer Moderne, deren „Standardposition […], nämlich Fortschritt durch Erhöhung von Sicherheit zu stabilisieren“, durch die reale Krisengeschichte der Moderne infrage gestellt ist.3 Vor langem schon hatte Hans Blumenberg in der Ent-Sicherung der Welt ein wesentliches Merkmal des Säkularisierungsprozesses erkannt: „Wenn die Welt nicht mehr zugunsten des Menschen vorversichert ist, ist auch die Wahrheit über sie nicht mehr selbstverständlich für ihn disponibel.“4
2.1 Sicherheitsbedürfnisse
Völlig unbestreitbar dürfte sein, dass es legitime Sicherheitsbedürfnisse gibt. Sie artikulieren sich sowohl im persönlichen als auch im gesellschaftlichen Bereich, wobei auch gesellschaftlich geltend gemachte Sicherheitsbedürfnisse letztlich wohl auf eine personale Bedeutungsebene zurückzuführen sind, wenn man anders nicht die Gesellschaft als ein personales Handlungssubjekt anschauen will, was jedoch eine Mystifikation darstellen würde, vergleichbar etwa Thomas Hobbes’ Staatsfigur des Leviathan.
Menschen haben legitime Sicherheitsbedürfnisse. Im Bestreben, diese zu bestimmen, zeigt sich sofort ein bedeutungstheoretisches Problem: Um bestimmen und beurteilen zu können, was ‚Sicherheit‘ jeweils meint, muss sie übersetzt oder in andere Bedeutungskontexte eingeordnet werden. So lässt sich beispielsweise ein zentraler Aspekt von ‚Sicherheit‘ mit ‚Verlässlichkeit‘ übersetzen. Gemeint ist damit zunächst noch etwas Sachhaftes: Wir haben das legitime Bedürfnis, dass die Dinge, Verfahren und Strukturen, die uns bei der Bewältigung des Alltags auf der basalen Ebene der tagtäglich sich wiederholenden einfachen Abläufe begegnen, verlässlich funktionieren. Wir erwarten, dass der Wecker seinen programmierten Dienst tut, Wasser aus dem Duschhahn in der eingestellten Temperatur kommt, die Heizung seit 5:30 Uhr arbeitet, die Kaffeemaschine gewohnte Qualität liefert, die Straße vor der Haustür noch existiert, die U-Bahn wie immer fährt, der Kindergarten wie jeden Tag unser Kind entsprechend unserer Buchung aufnimmt, unser Arbeitsplatz wie am Vortag vertragsgemäß noch existiert, die elektronischen Kommunikationssysteme einigermaßen stabil arbeiten, etc. Wir bewegen uns alltäglich in einem dynamischen Zeit-Raum vielfältiger Prozesse, deren Existenz und Funktionstüchtigkeit wir selbstverständlich voraussetzen.
All diese den Alltag tragenden Selbstverständlichkeiten sind schon Ergebnis und Ausdruck eines langwierigen und hochkomplexen Prozesses kultureller und gesellschaftlicher Differenzierungen. In all diesen Alltagsbedingungen begegnet bereits unsere Zivilisationsgeschichte. Sie setzt uns frei zu Tätigkeiten und Genüssen, die, wenn wir all diese Alltagsprozesse Tag für Tag zuallererst neu konstituieren müssten, unmöglich wären. Dass wir in dieser Hinsicht Alltagssicherheit brauchen, zeigt sich daran, dass wir eine ernsthafte Störung dieser Prozesse als Bedrohung wahrnehmen würden. ‚Panikfrei‘ sind solche Störungen oder Unterbrechungen dieser Alltagsprozesse, die erstens sowohl zeitlich wie auch systemisch partikular und zweitens ihrerseits gesellschaftlich integriert sind: Streiks im öffentlichen Dienst, autofreie Wochenenden, Sonn- und Feiertage, Stadtmarathons, Karneval, Papstbesuche, etc. Sie fordern in der Regel die Alltagssicherheit nicht heraus. Strukturelle, dauerhafte Dysfunktionen dieser Abläufe hingegen bedrohen uns; sie offenbaren unser Sicherheitsbedürfnis ex negativo.
Werden solche Dysfunktionen selbst gesellschaftlich, ist unmittelbar eine sehr viel anspruchsvollere Dimension unserer legitimen Sicherheitsbedürfnisse betroffen: Der Kindergarten ist eine öffentliche Einrichtung. Wie haben wir einen Platz für unser Kind bekommen? Waren die Kriterien egalitär, die Entscheidungsverfahren transparent? Oder gaben exkludierende ‚Argumente‘ den Ausschlag: Beziehungen, Bestechungen? Wenn behördliche Abläufe korrupt werden, wenn das Gewaltmonopol des Staats durch mafiöse Schutzgeldstrukturen perhorresziert wird, wenn die Justiz manipulierbar wird, ist unser legitimes Bedürfnis nach Rechtssicherheit betroffen. Einer nicht ohne weiteres von der Hand zu weisenden Einschätzung zufolge zielt das vorrangige Bedürfnis von Menschen, die in einer dysfunktionalen oder agonalen Gesellschaft leben müssen, wie gegenwärtig in Syrien, aber auch im Irak, nicht auf politische Freiheit und Demokratie, sondern auf Rechtssicherheit. Die außenpolitische Doktrin der Bush-Administration musste dieser Einschätzung zufolge auch deswegen scheitern: Nicht der Export von Demokratie und Freiheit, sondern das, was man ‚society building‘ nennt, hätte eine wirksame Strategie gegen den Terror sein können.
Seit der Antike verbindet sich ein politisch-rechtlicher Begriff von Sicherheit mit dem öffentlichen und privaten Wohl. Die Securitas als Allegorie dieses Wohls ist auf Münzen aus der Kaiserzeit überliefert.5 Bis in die Neuzeit radikalisiert sich die Staatszuständigkeit für das Gemeinwohl im absolutistischen Staat zu einem polizeistaatlichen Regiment. Erst im Umbruch zur Moderne wird dem Staat diese Zuständigkeit abgesprochen. Immanuel Kant stellt einer ‚väterlichen Regierung‘ die ‚vaterländische Regierung‘ der Freiheit gegenüber, bei welcher nicht von „Glückssicherheit“, sondern „allererst bloß vom Recht, das dadurch einem jeden gesichert werden soll,“6 die Rede ist. Der Staat wird konzeptionell zu einer „Sicherheits-Anstalt unter Gesetzen“7: Der Rechtsstaat entsteht; er ist nicht mehr für die Sicherung des Glücks seiner Bürger zuständig, sondern für die Rechtssicherheit, welche Bedingung dafür ist, dass die Bürger frei und selbstbestimmt nach ihrem Glück streben können.
Die staatliche Zuständigkeit für die Sicherung des Glücks der Bürger kehrt freilich unter anderen ökonomischen und politischen Bedingungen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der sozialen Frage zurück auf die Bühne auch der Staats- und Gesellschaftstheorie und wird das 20. Jahrhundert über bestimmend bleiben: nun unter dem Titel der ‚sozialen Sicherheit‘, zu verstehen als staatliche...