Einstimmung
1 Wissenschaft und Kennerschaft
1.1 Das öffentliche Geheimnis
1.1.1 Warten auf den Knoten
Das Studium der Psychologie kann von irritierenden Erfahrungen begleitet sein. Natürlich hängt das auch davon ab, aus welchen Motiven heraus man sich für das Fach interessiert. Die meisten werden es aber wohl deshalb gewählt haben, weil sie ihre Mitmenschen und sich selbst besser verstehen möchten, also gewissermaßen professionelle »Menschenkenner« werden wollen.
Vielleicht haben sie schon bemerkt, dass sie ganz gut auf andere eingehen können, ihre Mitmenschen richtig beurteilen; sie mögen die Erfahrung gemacht haben, dass andere Vertrauen zu ihnen fassen, dass sie da und dort nützlichen Rat geben konnten; und nun erhoffen sie sich vom Studium Vertiefung und Ausbau dieses Talents. Oder sie kennen jemanden, der über diese Qualitäten verfügt, und möchten auch so werden. Vielleicht haben sie umgekehrt erleben müssen, dass sie sich in ihren Mitmenschen gründlich getäuscht haben, vielleicht immer wieder erneut täuschen, und wollen diesem Mangel auf den Grund gehen. Oder sie finden ganz einfach Menschen faszinierend und wollen mehr über sie erfahren.
Wenn Sie so denken, sollten Sie sich nicht von Frustrationen beirren lassen, denen Sie im Studium mit einiger Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein werden. Vielleicht haben Sie sich ja beeindrucken lassen von der Professionalität der Psychologen, die man in Fernsehfilmen in der Regel als erstaunlich kompetent darzustellen pflegt, und meinen nun, das Studium bestünde in einer systematischen Schulung solcher Lebensweisheit. In diesem Fall ist Ihnen eine herbe Enttäuschung sicher. Sie werden erleben, dass an die Stelle der Fragen, die Sie für wichtig gehalten haben, ganz andere treten, Fragen, die Ihnen irrelevant, abwegig oder einfach nur langweilig erscheinen, von denen Ihnen aber versichert wird, dass erst sie die Psychologie in den Rang einer Wissenschaft erheben.
Es gibt Studierende, denen das so zusetzt, dass sie zu überlegen beginnen, ob sie wirklich an die Uni gekommen sind, um »Wissenschaft« zu betreiben, wo sie doch eigentlich auf etwas aus sind, das man besser mit dem Wort »Kennerschaft« umschreiben würde. Das vorliegende Buch soll ihnen Mut machen, sich durch solche Zweifel nicht am Studium eines Themenfeldes beirren zu lassen, das nach wie vor die faszinierendsten Fragen der menschlichen Existenz bereithält, egal wie viel davon die gegenwärtig wirkende Forschergeneration nun für sich entdeckt haben mag.
Das Problem ist im Übrigen nicht allzu zeitgebunden. Im Jahre 1967, in den Vorwehen der studentischen Revolte, erschien in einer von der Münchner studentischen Fachschaft herausgegebenen Psychologenzeitung die nachfolgende Glosse.
»Einer muss einmal Knoten machen in diesen endlosen Faden!« (Robert Musil) Das Heldenzeitalter der Psychologie ist vorbei. Die Psychologie ist heute fest in der Hand der großen Zahl der durchschnittlichen Köpfe. Und man sollte nicht auf sie herabsehen, die ihren wissenschaftlichen Schrebergarten mit Hingabe und Einfalt bestellen: Wir brauchen viele, sehr viele Untersuchungen über die mittlere Variation des Intelligenzquotienten bei vorschulpflichtigen Knaben unter der Einwirkung von Himbeerbrause, über die Korrelation der Lidschlagfrequenz mit der Produktion von Kleindetailantworten im Z-Test bei sensitiven Psychopathen und über dergleichen brennende Probleme mehr. Wir brauchen sie wirklich, ... diese zähen Hilfsarbeiter des Geistes, die sich unverdrossen an dem Faden entlang tasten, den man ihnen zu Beginn ihrer Wanderung durch das Labyrinth der Psychologie in die Hand gedrückt hat, die mit unendlicher Mühe die Wissenschaft für sich denken und die Methoden für sich arbeiten lassen, um mit unsagbarer Geduld auf Ergebnisse zu lauern. Soweit so gut; aber immer lauter werden die Stimmen, die – die Teile in der Hand – nach dem leider fehlenden geistigen Band verlangen. Und einer muss einmal Knoten machen in diesen endlosen Faden. |
Der Verfasser, einer meiner damaligen Studenten, ist inzwischen selbst etablierter Ordinarius an einer namhaften Universität. Aber er hat es aufgegeben, darauf zu warten, dass einer den Knoten macht. Er beteiligt sich kaum mehr am Wissenschaftsbetrieb und schreibt inzwischen Romane.
Ich habe nicht aufgegeben. Und ich hoffe, dieses Buch trägt dazu bei, dass auch unter denjenigen, die morgen unser Fach zu vertreten haben werden, die Ungeduld und der Anspruch stark genug bleiben, unbeirrt daran mitzuarbeiten, dass die akademische Psychologie eines Tages das wird, was alle von ihr erwarten: ein den Kriterien solider Wissenschaftlichkeit genügendes Fundament profunder und praktisch anwendbarer Menschenkenntnis.
1.1.2 Denn was innen, das ist außen
Seit etlichen Jahren ist es Brauch auf den zweijährigen Fachkongressen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, dass der Präsident einen »Bericht zur Lage der Psychologie« abgibt. Darin klingen zuweilen, mehr oder minder diplomatisch verklausuliert, auch Töne der Selbstkritik an, aber meistens mit dem Generalbass »wir haben noch nicht genügend …« oder »es ist zu wünschen, dass künftig …«, und das Ganze natürlich eingebettet in einen Rahmen erfreulicher Hinweise darauf, wie das Fach unaufhaltsam wächst, blüht und gedeiht.
Das ist in Ordnung, denn die Presse ist anwesend und die Politik hört mit, auf deren Unterstützung man angewiesen ist und die auf nichts mitleidloser reagiert als auf Symptome der Schwäche. In einem Lehrbuch aber bleiben wir genügend unter uns, um Klartext reden zu können. Stellen wir also auch hier am Beginn die »Lage der Psychologie« zur Diskussion.
Naiv betrachtet wäre man geneigt zu meinen, keine andere Wissenschaft sei berufener und kompetenter, der Aufforderung aus dem Faust-Prolog »Greift nur hinein ins volle Menschenleben« nachzukommen. Man könnte höchstens im Zweifel sein, ob es hierzu überhaupt eigens einer Wissenschaft bedarf. Wissenschaft ist etwas Elitäres, eine Sache von Experten. Brauchen wir Experten, um uns selbst und andere zu verstehen? Und wenn ja, müssen diese Experten dann Wissenschaftler sein? Wie steht es mit den Literaten? Ist nicht jeder Roman, jedes Theaterstück eine Etüde in angewandtem Verstehen des menschlichen Erlebens und Verhaltens? Sicher – nicht alles auf dem Büchermarkt ist der Rede wert. Auch dann nicht, wenn ihm der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde. Aber die wirklich großen Schöpfungen der Literatur vermitteln doch tiefe Einsichten in das Wesen des Menschen, in die Conditio Humana, wie die Philosophen sagen, und das liegt gewiss nicht daran, dass sie sich bei irgendeiner »Wissenschaft« bedient haben! Sind sie nicht vielmehr nur einfach deshalb gut und gültig, weil sie aus der Tiefe der Lebenserfahrung schöpfen?
Freilich – ganz so einfach ist es nicht. Denn es gibt keine Instanz, die verbindlich darüber orientieren könnte, was »groß« heißen darf. Da blühen immerfort und an allen Ecken kurzlebige Bestseller auf, die irgendeine neue »Generation« erfinden, die die »Moderne« oder die »Postmoderne« diagnostizieren oder erklären, warum Frauen nicht einparken können, was eigentlich mit den Deutschen oder dem Islam los ist, welche Moral angesagt ist oder woran es liegt, dass sie auf sich warten lässt. Alte Lebensformen werden zu Grabe getragen, neue ausgelobt, und das alles in einem Tonfall, der sich kompetent gebärdet. Und die Autoren bilden einen bunten Reigen akademischer Disziplinen. Jeder redet da mit, Historiker, Soziologen, Philosophen, Juristen, Politologen und natürlich Journalisten.
Was aber nützen tiefe Einsichten, wenn sie auf dem Grabbeltisch des Zeitgeistes im Durcheinander verschwinden und niemand verlässlich sagen kann, wo die Qualität liegt? Hier, so scheint es, besteht eben doch ein Bedarf nach einer Wissenschaft, die anhand objektiver Kriterien die Spreu vom Weizen trennt.
Ist Psychologie eine objektive Wissenschaft? Kommen wir noch einmal auf Goethe zurück. Von ihm stammt der folgende esoterische Sinnspruch:
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,
Denn was innen, das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.
Was will er damit sagen? Goethe träumte davon, eine neue Wissenschaft zu konzipieren, die er »Morphologie« nannte, von gr. morphé = die Form, die Lehre von den Formen also. Es ging um die Meinung, dass Formen Träger einer Bedeutung sind, die es physiognomisch zu erkennen gelte. Die paradoxe Rede vom »öffentlichen Geheimnis« soll besagen: Dieser Sinngehalt verbirgt sich nicht etwa in einem »hinter« der äußeren Erscheinung verdeckten Innenraum, sodass man die Wand der Bilder erst durchstoßen müsste, um zum Wesentlichen zu gelangen, sondern die Bedeutung liegt in der Form schon öffentlich zutage; gleichwohl bedarf es aber einer besonderen Kunst, dies zu erkennen, weshalb sie eben doch ein Geheimnis genannt zu werden verdient. Goethe meinte in der Attitüde des romantischen Naturforschers, dass es die Aufgabe einer Wissenschaft sein könnte, diese Kunst zu lehren.
Abb. 1.1 Schriftprobe I
Abb. 1.2...