AUFBRUCH ZUM ANDEREN UFER
Meine Frau und ich begegneten einander auf einer Party zum 30. Geburtstag eines gemeinsamen Freundes. Ich wäre beinahe nicht hingegangen, weil dieser Novemberabend ungemütlich frostig war und es mir an diesem Tag und in dieser Zeit überhaupt nicht gut ging. Drei Jahre nach dem Abschluss meines Studiums und kurz vor meinem eigenen 30. Geburtstag waren die Aussichten in jeder Hinsicht düster. Auf meiner kärglichen halben Stelle an der Universität wurde ich ausgebeutet, nicht gefördert. Meine Promotion war in den Anfängen stecken geblieben. Seit Jahren war es mir nicht gelungen, eine Affäre länger als ein paar Wochen aufrechtzuerhalten. Meine Parterrewohnung in einem Kreuzberger Hinterhof war kalt, dunkel und verschimmelt. Ich musste mich noch finden, wie man so sagt.
Aber mein guter Freund, mit dem ich seit der Schulzeit die anregendsten Gespräche geführt und die aufregendsten Orte erforscht hatte, feierte Geburtstag und darum raffte ich mich auf, hüllte mich in existenzialistisches Schwarz und ging zu der Party.
Ich war eine der Ersten, ließ mich in der Küche nieder und plauderte matt. Kurze Zeit später betrat eine Frau den Raum, bei deren Anblick ich dachte: Die ist cool. Und schön. Mehr nicht. Die Erschütterung kam eine Stunde später, als sie sich zu einem anderen Freund und mir setzte und mit ihm ein langes Gespräch begann. Den ganzen Abend sprach sie nur mit ihm und sah mich dabei kein einziges Mal an, aber ich hatte das untrügliche Gefühl, jedes ihrer Worte sei allein an mich gerichtet. Es war Liebe auf den ersten Klang, nicht auf den ersten Blick. Ihre Stimme berührte etwas tief in mir und die ganze Zeit über war es, als hörte ich mich selbst reden. Wie konnte es sein, dass mir jemand, den ich noch nie gesehen hatte, so aus dem Herzen sprach? Die Geschichte, die sie erzählte, war völlig anders als meine eigene. Sie schilderte ihre Kindheit in der DDR und ihre Ausgrenzung als Christin. Ich war glaubensfern im materialistischen Westen aufgewachsen.
Viel später gestand sie mir, dass sie eigentlich mich habe ansprechen wollen und nicht meinen Freund Philipp, sich aber nicht getraut habe. Diese Schüchternheit hatte Folgen. Natürlich glaubte ich, sie sei an ihm interessiert. Ich war augenblicklich eifersüchtig, deutete aber meine eigene Reaktion völlig falsch. Philipp nämlich, mit dem sie so eine leidenschaftliche Unterhaltung führte, war damals der wichtigste Mann in meinem Leben, gewissermaßen die zweite Hälfte meines platonischen Kugelmenschen. Wir waren fünf Jahre ein Paar gewesen und hatten es geschafft, auch nach der Trennung eng verbunden zu bleiben.
Ich erkannte sofort, dass Philipp auf die geheimnisvolle Unbekannte abfuhr. Ich sorgte und ärgerte mich zugleich, weil er sich Hals über Kopf in eine Liaison stürzte. Diese Frau, Esther, schien mir viel zu jung für ihn, viel zu lebhaft, viel zu undurchdringlich. Von Anfang an hatte ich den Eindruck, dass er sie missverstand. In den wenigen Monaten, die Philipp und Esther zusammen waren, erzählte er mir Dinge über sie, die in völligem Gegensatz dazu standen, wie ich sie erlebte. Er behauptete, sie wolle möglichst schnell Kinder bekommen, und zwar gleich mehrere. Mir sagte sie, sie könne sich im Moment auf nichts festlegen.
Aber nach der schweren Amputation von meiner Kugelhälfte Philipp hatte ich mir vorgenommen, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. So versuchte ich die beiden zu ignorieren, was mir umso schwerer fiel, als ich einen Monat später die verschimmelte Wohnung hinter mir ließ und mit Philipp in einem engen Reihenhaus im Süden der Stadt eine WG gründete – und Esther gleich mit einzog, weil ihre Wohnung renoviert wurde.
Trotzdem machte ich gute Miene zum bösen Spiel, hatte ich doch kurz vor Weihnachten selbst einen Mann kennengelernt, in den ich mich Hals über Kopf verliebte. Stefan wohnte im fernen Zürich und so hatte ich eine gute Ausrede, das Paar in Berlin häufig allein zu lassen.
Meine eigene junge Liebe legte ein beängstigendes Tempo an den Tag. Nach kurzer Zeit waren wir schon dabei, vorsichtige Andeutungen über Hochzeit und Ehe zu machen, und ich rechnete jederzeit mit einem Antrag. Als Esther für vier Wochen nach Vietnam reiste und ich sie schmerzlich vermisste, erkannte ich noch nicht, was mit mir los war. Wie auch? Diese Gefühle verstießen gegen so viele Regeln, die ich für unumstößlich gehalten hatte. Zum Beispiel hatte ich nie geglaubt, dass man sich in zwei Menschen zugleich verlieben kann, noch dazu unterschiedlichen Geschlechts.
Ende Juni, in den kürzesten und heißesten Nächten des Jahres, veränderte sich das Leben von vier Menschen. Wie in einem Kammerspiel kamen lange verdrängte Wahrheiten erst Stück für Stück, dann explosionsartig ans Licht.
Philipp war zusehends in eine Krise geraten, denn Esthers Verhalten wurde immer sprunghafter und unerklärlicher. Eines Abends dann sagte er ihr auf den Kopf zu, dass sie in Wahrheit in mich verliebt sei – und sie stritt es nicht ab. Sie gab es zu und beendete die Beziehung.
Ich war empört, als mir das zu Ohren kam. Was stellte Esther eigentlich mit uns an? Sie verletzte Philipp, der mir so wichtig war, und außerdem war ich doch selbst gerade glücklich verliebt in Stefan. Ich beschloss, ihr die Meinung zu sagen, und verabredete eine Aussprache. Dazwischen lag ein Wochenende, an dem Stefan anreiste. Ich war abwesend und zerstreut, was er natürlich bemerkte. Er wollte wissen, was los war, und ich erzählte es ihm. Seine alarmierte Reaktion bestärkte mich in dem Gefühl, es müsse etwas geschehen, um die verworrene Situation aufzulösen. Stefan kündigte an, am nächsten Wochenende wiederzukommen, und ich hoffte, dass bis dahin alles geklärt wäre. Ich sehnte mich nach Ruhe und einem Ende der emotionalen Achterbahnfahrt.
Am Montag machte Esther Schluss mit Philipp. Und zwar unabhängig davon, was mit mir sei, wie sie betonte. Am Dienstag fuhr ich zu ihr, in ihre mittlerweile wiederhergestellte Wohnung. Ich glaube, es war das erste Mal, dass wir ganz allein waren. Meine Empörung war im Nu verraucht, als ich sie erblickte. Wir redeten lange. Irgendwann hörte ich mich sagen, dass ich mich auch in sie verliebt hätte, aber Stefan auf keinen Fall verlassen würde. Dann küssten wir uns. Es war, als wäre ein Damm gebrochen. Dass sie sich von Philipp getrennt hatte, erleichterte mich. Ich hatte das Gefühl, die größte Last sei bereits von uns genommen.
Blieb noch meine eigene Beziehung zu Stefan. Ein faszinierender Mann, der verrückt nach mir war und mir eine gemeinsame Zukunft bot. Den ich liebte. Der beruflich überaus erfolgreich war. Das wirft man nicht einfach weg. Mit letzter Kraft, buchstäblich unter körperlicher Selbstüberwindung verließ ich Esthers Wohnung und machte mich auf den langen Heimweg; und es kam mir vor, als wäre ich ein halbes Leben lang unterwegs.
Am nächsten Tag war ich mit einer Freundin verabredet. Ich war dankbar für diese Auszeit. Mein Kopf kämpfte gegen die rätselhafte Unvernunft, die mich befallen hatte. Ich erzählte ihr, was bisher geschehen war. Sie staunte. Als sie fragte, was ich tun würde, erklärte ich mit großer Bestimmtheit, natürlich würde ich bei Stefan bleiben. Einen Mann wie diesen treffe man nur einmal im Leben. Schon bald würde sie eine Einladung zur Hochzeit bekommen. Am Donnerstag war ich wieder mit Esther verabredet. Warum, wusste ich selbst nicht. Es war doch alles gesagt! Wir waren erst fünf Minuten in ihrer Wohnung, da kamen unsere Worte tatsächlich an ihr Ende. Ich verbrachte eine berührende, verstörende, unwirkliche, zauberhafte Nacht mit ihr. Wie ein zweites erstes Mal.
Als ich diesmal nach Hause fuhr, war schon die Sonne aufgegangen. Dort erwartete mich Philipp, dessen Verfassung sich noch verschlechtert hatte, nachdem ich am Abend zuvor nicht mehr aufgetaucht war.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Erschöpft legte ich mich ins Bett und versuchte zu schlafen. Bald musste ich wieder aufstehen, um mit meiner zweijährigen Nichte Geburtstag zu feiern. An diesem Tag war ich zu nichts imstande, nicht einmal dazu, ein Geburtstagslied zu singen. Es ist typisch für meine Familie, dass mich keiner auf meinen offensichtlich desolaten Zustand ansprach.
Wenn ich an diese Schicksalswoche zurückdenke, erinnere ich mich vor allem daran, dass ich die meiste Zeit völlig neben mir stand. Es war, als würde mich eine unsichtbare Hand an- und ausknipsen. Von einer Minute zur anderen tat und sagte ich Dinge, die ich selbst nie für möglich gehalten und für die ich keine Erklärung hatte. Dann fiel ich wieder in eine Art geistiges und seelisches Koma, wusste nicht, ob ich wach war oder schlief, wo ich mich überhaupt befand. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in dieser Woche überhaupt etwas gegessen habe.
Aber die Tour de Force war noch nicht zu Ende. Am folgenden Tag stand Stefan vor der Tür, argwöhnisch, unruhig. Ich tat, was ich tun musste. So viel war mir inzwischen klar geworden, dass ich mein eigenes widersprüchliches Verhalten nicht länger ignorieren konnte. Dass es etwas gab, was stärker war als ich, wie man so schön sagt.
Ich sagte die Wahrheit, beschönigte nichts und so ergab eins das andere. Stefans Verhalten machte es mir leichter, so unangenehm es auch war. Er machte keinen Versuch, mich umzustimmen. Wahrscheinlich war es einfach zu viel für ihn. Innerhalb einer einzigen Woche waren nicht nur die Geigen verstummt, die in unserem siebten Himmel gehangen hatten, sondern ich hatte gleich die sexuelle Orientierung gewechselt. Das war wirklich schwer zu verstehen, auch für mich selbst.
Stefan schüttete all seine Wut und seine Kränkung...