Eine Stadt auf der Überholspur
Wer sich Moskau bei Dunkelheit mit dem Flugzeug nähert, erkennt, dass die Umrisse der Stadt von mehreren konzentrischen Ringstraßen gebildet werden, mit dem kleinsten Ring um den Kreml in der Mitte. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts leuchtete das Licht dieser Ringe in einem trüben, schmutzigen Gelb. Moskau war ein trauriger Satellit am Rande Europas und spie die letzten Funken der verglimmenden Glut des Sowjetreiches aus. Doch im einundzwanzigsten Jahrhundert geschah etwas Neues: Geld. Nie zuvor war so viel Geld in so kurzer Zeit in einen so kleinen Raum geflossen. Das Ringstraßensystem veränderte sich. Bis hoch über der Stadt der konzentrischen Kreise erstrahlten die Lichter von neuen Wolkenkratzern, Neonreklamen und schnittigen Maybachs auf den Straßen, versprühten schneller und schneller den schrillen, hypnotischen Glanz eines Rummelplatzes. Die Russen waren der neue Jetset: die Reichsten, die Dynamischsten, die Gefährlichsten. Sie hatten das meiste Öl, die schönsten Frauen, die besten Partys. Früher waren sie bereit gewesen, alles zu verkaufen, jetzt waren sie bereit, alles zu kaufen: Fußballvereine in London und Basketballklubs in New York, Kunstsammlungen, englische Zeitungen und europäische Energieunternehmen. Niemand verstand sie. Sie waren schamlos und kultiviert zugleich, gerissen und naiv. Nur in Moskau ergaben sie einen Sinn, einer Stadt auf der Überholspur, einer Stadt, die sich in einem geradezu irrealen Tempo veränderte, wo junge Burschen von jetzt auf gleich Milliardäre werden konnten.
»Leistung« lautete das Schlagwort der Stadt, einer Welt, wo Gangster zu Künstlern wurden, wo die sogenannten Golddigger (junge Frauen, die sich reiche Männer angeln wollen) Puschkin zitierten, wo Hells Angels sich zu Heiligen stilisierten. So viele Welten waren in so rasanter Geschwindigkeit durch Russland gefegt – vom Kommunismus zur Perestroika zur Schocktherapie zur Mangelwirtschaft zur Oligarchie zum Mafiastaat zum Megareichtum –, dass sich bei seinen neuen Helden das Gefühl einstellen musste, das Leben sei bloß ein glitzerndes Maskenspiel, in dem jede Rolle, jede Position, jede Überzeugung austauschbar ist. »Ich möchte alle Rollen ausprobieren, die die Welt je gekannt hat«, sagte Wladik Mamyschew-Monroe mal zu mir. Er war ein Performancekünstler und das Maskottchen der Stadt, ständiger Gast auf Partys, auf denen sich die unvermeidlichen Tycoons und Supermodels tummelten, verkleidete sich als Gorbatschow, als Fakir, als Tutenchamun, als der russische Präsident. Bei meinem ersten Moskaubesuch hielt ich diese unaufhörlichen Wandlungen für den Ausdruck eines befreiten Landes, das im Freiheitsrausch verschiedene Kostüme anprobiert, die Grenzen der Persönlichkeit so weit ausdehnt wie nur irgend möglich, bis hin zu »den Höhen der Schöpfung«, wie der Wesir des Präsidenten sich ausdrücken würde. Erst Jahre später erkannte ich diese endlosen Mutationen nicht als Freiheit, sondern als Formen eines Deliriums, in dem Horrorpuppen und Albtraummystiker zu der Überzeugung gelangen, dass sie beinahe real sind und sich in Richtung des, wie der Wesir des Präsidenten sagen würde, »fünften Weltkriegs, des ersten nicht linearen Krieges aller gegen alle« in Marsch setzen.
Aber ich greife vor.
Ich mache Fernsehen. Journalistisches Fernsehen. Infotainment, um genau zu sein. Ich flog 2006 nach Moskau, weil die Fernsehindustrie boomte wie alles andere auch. Ich kannte das Land bereits: Seit 2001, dem Jahr, in dem ich meinen Uniabschluss machte, hatte ich die meiste Zeit dort gelebt und gearbeitet, zuerst in wechselnden Jobs bei diversen Thinktanks und als sehr untergeordneter Berater für Projekte der Europäischen Union zur Unterstützung der »Entwicklung« Russlands, dann an einer Filmschule und zuletzt als Assistent bei Dokumentarfilmen für westliche Fernsehsender. Meine Eltern waren in den 1970er Jahren politisch motiviert aus der Sowjetunion nach England emigriert, und ich lernte in meiner Kindheit eine Art umgangssprachliches Emigrantenrussisch. Aber ich hatte Russland stets von außen beobachtet. Ich wollte näher ran: London erschien mir zu bedächtig, zu berechenbar. Amerika, in dem der Rest meiner Emigrantenfamilie lebt, erschien mir zu satt. Die echten Russen dagegen kamen mir ungemein lebendig vor, als hätten sie das Gefühl, alles wäre möglich. Ich wollte filmen, nichts anderes. Wollte auf »record« drücken und draufhalten und aufnehmen. Meine Kamera, eine ramponierte Sony Z1 mit Metallgehäuse, war so klein, dass ich sie immer und überall dabeihaben konnte. Häufig filmte ich nur, damit mir die Welt nicht entglitt. Ich filmte wie besessen, wohl wissend, dass ich nie wieder solche Akteure finden würde. Und im neuen Moskau war ich aus dem schlichten Grund gefragt, weil ich die magischen Worte »Ich bin aus London« sagen konnte. »Sesam, öffne dich« hätte nicht wirkungsvoller sein können. Russen sind der festen Überzeugung, dass Londoner den Stein der Weisen für erfolgreiches Fernsehen besitzen, dass jede Reality- oder Talentshow, die sie machen, ein Renner wird. Es spielte keine Rolle, dass ich lediglich als drittrangiger Assistent bei den Projekten anderer Leute mitgewirkt hatte. Ich brauchte bloß »Ich bin aus London« zu flüstern, und schon bekam ich jeden Termin, den ich wollte. Ich war ein blinder Passagier in der großen Armada der abendländischen Kultur, an Bord mit Bankern, Anwälten, internationalen Entwicklungsberatern, Wirtschaftsprüfern und Architekten, die losgesegelt waren, um in den Abenteuern der Globalisierung ihr Glück zu suchen.
Aber um in Russland Fernsehen zu machen, genügt es nicht, einfach nur eine Kamera zu sein, ein Beobachter. In einem Land, das sich über neun Zeitzonen verteilt, das ein Sechstel der Erdlandmasse umfasst, das sich vom Pazifik bis zur Ostsee, von der Arktis bis zu den Wüsten Zentralasiens erstreckt, wo fast mittelalterliche Dörfer, in denen die Menschen noch mit der Hand Wasser aus Holzbrunnen pumpen, ebenso zu finden sind wie Kleinstädte mit einer einzigen Fabrik und das neue Moskau mit seinen Wolkenkratzern aus Blauglas und Stahl – in einem solchen Land ist Fernsehen die einzige Kraft, die die Nation einen und lenken und zusammenhalten kann. Es ist das wichtigste Instrument einer neuen Form von Autoritarismus, der weit subtiler ist als seine Spielarten im zwanzigsten Jahrhundert. Und als Fernsehproduzent konnte ich mitten ins Herz seines Räderwerks vordringen.
Mein erstes Meeting führte mich in die oberste Etage des Ostankino, des Fernsehzentrums, das mit seiner Größe von fünf Fußballfeldern den Rammbock der Kreml-Propaganda darstellt. In dieser Etage wies eine Reihe mattschwarzer Korridore den Weg zu einem langen Konferenzraum. Hier trafen sich Moskaus brillanteste Köpfe wöchentlich zum Brainstorming, um zu entscheiden, was das Ostankino senden sollte. Ich durfte einen freundlichen russischen Verleger dorthin begleiten. Aufgrund meines russischen Nachnamens war noch niemandem aufgefallen, dass ich Brite war. Ich hielt schön den Mund. Wir waren über zwanzig Leute im Raum. Braun gebrannte Fernsehmänner in weißen Seidenhemden und Politikprofessoren mit verschwitzten Bärten und schalem Atem und Werbeleute in Turnschuhen. Keine Frauen. Alle rauchten. Von dem ganzen Qualm juckte mir die Haut.
Am Kopfende des Tisches saß einer der prominentesten politischen TV-Moderatoren des Landes. Er ist klein, hat eine rauchige Stimme und spricht schnell:
Wir wissen doch alle, dass es keine echte Politik geben wird. Aber wir müssen unseren Zuschauern trotzdem das Gefühl vermitteln, dass irgendwas passiert. Die müssen unterhalten werden. Also, womit sollen wir rumspielen? Die Oligarchen attackieren? Wer ist der Feind der Woche? Politik muss sich anfühlen wie … wie ein Film!
Als der Präsident 2000 an die Macht kam, hat er als Erstes die Kontrolle über das Fernsehen übernommen. Der Kreml bestimmt mithilfe des Fernsehens, welche Politiker er als seine Marionettenopposition »duldet«, was die Geschichte, das Bewusstsein und die Ängste des Landes sein sollen. Und der neue Kreml wird nicht dieselben Fehler begehen, die der alten Sowjetunion unterlaufen sind: Er wird das Fernsehen niemals langweilig werden lassen. Es geht darum, sowjetische Kontrolle und westliches Entertainment miteinander zu verbinden. Das Ostankino des einundzwanzigsten Jahrhunderts mischt Showbusiness mit Propaganda, Einschaltquoten mit Autoritarismus. Und im Mittelpunkt der großen Show steht der Präsident höchstpersönlich, erschaffen durch die Kraft des Fernsehens aus einem Niemand, einem grauen Schleier, sodass er mit der Geschwindigkeit eines Performancekünstlers zwischen seinen Rollen als Soldat, Liebhaber, halb nackter Jäger, Geschäftsmann, Spion, Zar und Supermann hin und her springen kann. »Die Nachrichten sind der Weihrauch, mit dem wir Putins Handlungen segnen, ihn zum Präsidenten machen«, sagen Fernsehproduzenten und Polittechnologen gern. Als ich in dem verqualmten Raum saß, kam es mir so vor, als sei die Realität irgendwie formbar, als sei ich von Prosperos umgeben, die jede beliebige Existenz auf das postsowjetische Russland projizieren konnten. Doch mit jedem Jahr, das ich in Russland arbeitete, und mit der stetig wachsenden Paranoia des Kremls wurden die Strategien des Ostankino immer verschrobener, das Bedürfnis, Panik und Angst zu schüren, immer drängender. Die Vernunft wurde ad acta gelegt, und Kreml-freundliche Sekten und Hassprediger durften sich zur besten Sendezeit austoben, um die Nation zu hypnotisieren und abzulenken, während mehr und mehr ausländische Handlanger sich tatkräftig daran beteiligten, den Kreml zu unterstützen und seine Vision in der Welt zu verbreiten.
Letzten Endes würde mich mein Weg zurück zum...