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E-Book

Freiheit muss weh tun

Mein Leben

AutorHans Söllner
VerlagKnaus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641174095
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ein wirklich wahrer Schelmenroman
'Eine Zeit lang war ich das Kind meiner Eltern. Dann war ich eine Zeit lang Koch und dann eine Zeit lang Mechaniker. Jetzt bin ich eine Zeit lang Liedermacher oder was weiß ich was... und dann bin ich eine Zeit lang tot.'
Der Liedermacher und bayrische Rebell erzählt seine Geschichte: vom Arbeiterkind zum Staatsfeind, vom Kochlehrling und Kämpfer für die Freigabe von Marihuana zur Stimme Bayerns.


Hans Söllner, geboren am 24.12.1955 in Bad Reichenhall. Abgeschlossene Lehre als Koch und Automechaniker. Stand 1979 das erste Mal auf der Bühne und ist seitdem als Songwriter und Musiker unterwegs. Er hat sechs Kinder.

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Leseprobe

5

Im Bürgerbräu waren immer die Studenten, und die Ingrid kam aus einer Akademikerfamilie. Sie hatte an der Fachoberschule in Traunstein das Abitur gemacht. Sie war der erste Mensch, den ich kannte, der freiwillig Bücher las. Sie gab mir auch gute Tipps, was ich lesen soll, zum Beispiel »Von Mäusen und Menschen« von John Steinbeck, oder die »Straße der Ölsardinen«.

Die Ingrid hatte eine ganz andere Freiheit leben können als ich. Sie war im Urlaub gewesen, und es war nicht immer nur das Geld knapp gewesen. Mit ihr lernte ich jetzt eine ganz andere Freiheit der Liebe kennen. Sie brachte mir bei, dass man Sachen beenden muss, damit etwas Neues anfangen kann. Wenn sie mich nicht motiviert hätte, aus Reichenhall wegzugehen, wäre sehr viel in meinem Leben nicht passiert.

Ich hatte vorher schon ein paar Erfahrungen gemacht, mit der Tina und auch mit anderen Mädels, aber keine besonders schönen. Mit der Ingrid war es anders. Ihre Schwester, die Heike, hatte eine eigene Wohnung in München. Ich hatte damals, nach meiner Kochlehre, den Führerschein gemacht, und wir sind mit meinem VW Variant nach München gefahren. In der Tür von der Beifahrerseite war ein faustgroßes Loch vom Rost. In der Wohnung von der Schwester waren die Ingrid und ich dann zum ersten Mal richtig zusammen.

Im Oktober 1975 fing die Ingrid ein Praktikum bei der Behindertenwerkstatt in Weilheim an, und ich bin jedes Wochenende von Weißbach zu ihr gefahren. Als ich dann in Weilheim beim Geisenhofer einen Job bekommen habe, bin ich zu ihr gezogen. Der Geisenhofer war eine Betonfirma. Ich musste Fertigbrückenteile einstampfen. Es war ein grausiger Job, der ganze Staub, der Dreck, der Lärm. Das machte ich drei Monate lang. Dafür konnten wir uns eine kleine Wohnung leisten, am Kirchbach in Polling.

Dann kriegte ich meine Einberufung zur Bundeswehr: Schütze Söllner Johann hat sich am 1. April 1976 bei der Nachschubausbildungskompanie 9/8 in der Generaloberst-Dietl-Kaserne zu melden. Der Generaloberst Dietl war ein übler Nazi gewesen, aber das wusste ich damals noch nicht.

Ich war natürlich ein Volldepp gewesen. Nach der Musterung in Reichenhall hatte ich mir keine Sekunde überlegt, was bei der Bundeswehr auf mich zukommen würde. Ich dachte nicht einmal daran, dass man auch verweigern kann. Am Tag vor der Einberufung ließ ich mir schweren Herzens die Haare abschneiden. Dann packte ich mein Zeug in das Auto mit dem Loch in der Tür und fuhr von Weilheim nach Füssen, in die Generaloberst-Dietl-Kaserne, wie es auf dem Zettel stand.

In der Kaserne sagte ich gleich, dass ich Koch bin. So viel wusste ich nämlich: Wenn du Koch bist, kommst du zum Nachschub. Wenn du beim Nachschub bist, arbeitest du entweder in der Kantine, oder du kannst den Führerschein für Lkw machen. Beides fand ich akzeptabel, weil es nichts mit dem Grundwehrdienst zu tun hatte.

Aber ich musste doch in den Grundwehrdienst. Das war für mich eine schräge Wiederholung all dessen, was ich während der zwanzig Jahre vorher erlebt hatte: Ich musste machen, was mir ein anderer anschaffte. Wenn der Feldwebel sagte, dass ich laufen muss, musste ich laufen. Wenn er sagte, so, und jetzt geh scheißen, musste ich scheißen gehen.

Aber das wollte ich nicht mehr. Und ich konnte es auch nicht mehr. Die Vorstellung, die nächsten eineinhalb Jahre nach der Pfeife von diesen Deppen zu tanzen, vertrug sich nicht damit, dass ich angefangen hatte, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich konnte nicht bei einer Institution sein, die dich zuerst zerstört, um dich dann langsam wieder aufzubauen, damit du so wirst, wie sie dich haben wollen.

Also sagte ich: »Tut mir leid, ich kann den Dienst mit der Waffe nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Ich verweigere.«

Zuerst lachten sie mich aus.

»Du hast keine Chance, Söllner«, sagten sie, »das hättest du dir früher überlegen müssen.«

Aber da half mir die Ingrid sehr. Die hatte den juristischen Jargon voll drauf, den man für so was braucht. Sie schrieb die Begründung für die Verweigerung auf zwei A4-Seiten zusammen. Damit ging ich dann zurück in die Kaserne und bekam tatsächlich einen Termin beim Kreiswehrersatzamt in Traunstein, um dort die Dienstverweigerung vor der zuständigen Kommission einzureichen, 25. Mai 1976, 10 Uhr 15.

Ich wollte dann sofort meine Waffe abgeben. Aber so blöd waren die beim Bund auch nicht.

»Und was ist«, fragte mich der Leutnant listig, »wenn du die Verweigerung nicht bestehst? Dann würdest du ja jetzt was verpassen.«

Und dann ließen mich die Arschlöcher jeden Dienst und jede Übung dreifach machen, weil sie wussten, dass ich keiner von ihnen bin. Nicht tausend Meter laufen, sondern dreitausend. Nicht ein Mal durch den kalten Bach, sondern fünf Mal. Das war so hart, dass ich tatsächlich glaubte, die bringen mich um. Und wenn sie mich nicht umbringen, drehe ich durch. Ich schrieb in meiner Not sogar einem Psychologen in Reichenhall einen Brief, er soll mir helfen, sonst werde ich verrückt oder bringe mich um. Aber der antwortete nicht einmal. Von heute aus betrachtet, war das nichts anderes als ein Mordversuch. Die wollten mich umbringen – oder mich wenigstens so weit bringen, dass ich mich selbst umbringe.

Als ich dann den Termin in Traunstein hatte, wäre ich fast nicht rechtzeitig hingekommen. Von Füssen nach Traunstein sind es fast dreihundert Kilometer, und der Tank von meinem Auto war leer. Ich hatte keinen Pfennig, um volltanken zu können, und musste das Geld bei Kollegen zusammenbetteln. Von denen hatten viele aber überhaupt keine Lust, einem Verweigerer ein paar Mark zu überlassen: »Du willst mein Geld, Söllner? Ich verweigere … haha.« Es war übel, bis ich das Geld fürs Benzin zusammenhatte.

Ich komme dann gerade noch rechtzeitig um zehn in Traunstein an. Im Zimmer sitzen drei andere Typen, die auch auf ihre Befragung warten.

Der Erste muss hinein. Er kommt zehn Minuten später wieder heraus, und die Tränen fließen ihm über die Wangen. Abgelehnt.

Der Zweite geht hinein. Ich sehe, wie seine Knie zittern. Als er rauskommt, ist er bleich wie ein Tuch und stammelt nur: »Scheiße. Scheiße. Scheiße.«

In dem Moment denk ich mir: »Die lehnen mich auch ab, die Arschlöcher. Aber in die Kaserne fahr ich nicht mehr zurück.«

Es wäre mir egal gewesen, fahnenflüchtig zu sein. Vielleicht gehe ich nach Berlin, denke ich noch, wie die ganzen anderen, die nicht zum Bund sind. Aber sicher fahre ich nicht zurück nach Füssen.

Der Amtsdiener kommt und sagt: »Söllner Johann.«

Im Zimmer hocken drei ältere Typen, denen die Langeweile und der Sadismus ins Gesicht geschrieben stehen.

Der eine fragt mich: »Wenn Sie mit Ihrer Frau durch den Wald gehen und es kommt ein Bewaffneter auf Sie zu und möchte Ihre Frau vergewaltigen … was tun Sie da?«

»Dann erschieß ich ihn«, sag ich. »Dafür muss ich doch nicht eineinhalb Jahre zum Bund, dass ich das lerne.«

»Sie erschießen ihn also«, sagt der andere. »Wo haben Sie denn die Waffe her?«

»Ich hab gar keine Waffe«, sag ich. »Ich brauch auch keine. Denn wenn es drauf ankommt, dann erschlag ich das Arschloch auch mit bloßen Händen.«

Da müssen sie lachen, auch wenn es ihnen nicht passt.

Also fragt mich der Dritte: »Was machen Sie, wenn die Russen einmarschieren?«

»Das weiß ich«, sag ich. »Ich kenne eine gute Höhle am Untersberg. Da bin ich sofort drin verschwunden, und wenn der Krieg wieder vorbei ist, komm ich wieder runter.«

Dann sagt wieder der Erste: »So einen feigen Hund wie dich können wir eh nicht brauchen. Geh zum Zivildienst und wisch den Behinderten den Arsch aus.«

Punkt. Ich bin an diesem Tag der Einzige, der die sogenannte Gewissensprüfung besteht.

Das Dokument, auf dem meine Verweigerung bestätigt wurde, konnte ich gleich mitnehmen. Dann fuhr ich langsam zurück nach Füssen, so langsam, wie es ging, um Benzin zu sparen. Meine Kompanie war am selben Abend für einen Nachtmarsch eingeteilt – eine Übung unter Gefechtsbedingungen, wo du vierzig Kilometer weit irgendwohin in die Pampa gebracht wirst und anschließend in die Kaserne zurückfinden musst, ohne dass dir wer sagt, wo du eigentlich bist.

Mein Zug wartete auf mich. Keiner von denen, weder Offiziere noch Kameraden, hatte sich vorstellen können, dass ich die Prüfung schaffe. Als ich in die Kaserne kam, war es schon fast Abend. Mein ganzer Zug stand da, angetreten zum Orientierungsmarsch, auf dem sie mich endgültig fertigmachen wollten. Ich ging geradewegs auf den Feldwebel zu und überreichte ihm meine Befreiung. Er schaute sich den Zettel so genau an, als ob dort etwas über die Länge von seinem Schwanz stehen würde, dann hob er den Kopf und sagte nur: »Wegtreten.«

Es war gelaufen. Ich ging zurück auf meine Stube und musste nichts mehr machen, nicht einmal mehr die Uniform anziehen. Ich durfte die Kaserne noch nicht verlassen, weil ich warten musste, bis der Bescheid rechtskräftig war. Aber da hatte sich mein Status bereits in den eines Zivildieners verwandelt. Als aus München kein Einspruch gegen den Bescheid kam, fing ich meinen Zivildienst in einem Krankenhaus in Füssen an und arbeitete dort vier Wochen lang als Koch. Dann ging ich nach Weilheim zurück und arbeitete dort vierzehn Monate in den Oberland Werkstätten mit Behinderten, dort, wo auch die Ingrid ihr Praktikum gemacht hatte.

Wir wohnten in einer winzigen Wohnung in einem Block in Polling. Das Klo war am Gang. Wir kannten niemanden, aber miteinander hatten wir es gut. Die Ingrid hatte Tiere wahnsinnig gern und ich auch. Wir zogen Drosseln auf, und damit wir...

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