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Schatten auf meiner Seele

Ein Kriegsenkel entdeckt die Geschichte seiner Familie

AutorJens Orback
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783451803765
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Die Geschichte, auch wenn sie zunächst verdrängt und verschwiegen wird, lebt in den Nachkommen weiter. Diese Erfahrung musste auch Jens Orback machen: Ein unerklärliches Grauen suchte ihn heim, er litt unter Panikattacken. Vage wusste er, dass seine Ängste etwas mit seiner Mutter zu tun hatten. Doch es dauerte lange, bis er herausfand, dass es die langen Schatten des Zweiten Weltkriegs, der Vertreibung aus Pommern waren, die dunkel über seiner Familie lagen.

Jens Orback, 1959 in Stockholm geboren, ist ein sozialdemokratischer Politiker und Journalist. Von 2004 bis 2006 war er schwedischer Minister für Demokratie-, Integrations- und Gleichstellungsfragen. Heute ist er der Generalsekretär der Olof-Palme-Stiftung.

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Leseprobe

DIE LAMPEN SCHWEBEN wie Planeten über dem Riddarfjärden, als Katja zweiundzwanzigjährig an einem Septemberabend 1949 am Hauptbahnhof in Stockholm ankommt. Sie ist frei, glaubt sie, frei von allem, was war.

Die Familie in Bromma, wo sie putzen, kochen und sich um die Kinder kümmern soll, stellt keine Fragen über das Land, aus dem sie stammt. Das »Tausendjährige Reich«, das schon nach zwölf Jahren zu Ende war. Und über ihre Kindheit, die mit Hitlers Zeit an der Macht zusammenfiel, weiß sie fast nichts mehr, und so soll es auch sein in Schweden. Sie möchte nach vorne schauen.

Obwohl ihr Magen und ihre Zähne nicht mit der neuen Kost zurechtkommen, ist es fantastisch, in einem Land zu sein, wo alle sich offenbar mehrmals am Tag satt essen können und wo man keine Angst zu haben braucht, etwas Falsches zur falschen Person zu sagen. Sogar die kleinen Kinder, die sie betreut, widersprechen ihren Eltern. Obwohl sie Heimweh nach ihrer eigenen Familie hat, will sie bleiben.

Katja ist eines von vielen deutschen Mädchen, die nach dem Krieg in Schweden eine Arbeit als Haushaltshilfe finden wollten. Schon als sie das Kindergärtnerinnenseminar in Lübeck besuchte, wusste sie, dass es schwer sein würde, in Deutschland eine richtige Arbeit zu finden, die sie ernähren würde. Zu Beginn des letzten Semesters fragte ihre Lehrerin, die über die Kirche internationale Kontakte hatte, ob es Mädchen gäbe, die nach Schweden fahren wollten. Die Reaktion war positiv, und die Lehrerin setzte eine Anzeige in die Zeitung Dagens Nyheter.

Nach einigen Monaten im neuen Land traut Katja sich, mit Freundinnen auszugehen. In einem Café auf der Kungsgatan essen sie Kopenhagener, es werden Schlager gespielt, einige Melodien kommen ihr bekannt vor. Jeden Mittwochabend tanzen sie im Skansen. Die jungen Männer müssen fünfundzwanzig Öre bezahlen, aber für die Mädchen ist der Tanz umsonst, und wenn die Musik vorbei ist, gehen sie Arm in Arm den ganzen Weg zu den großen Villen in Bromma zurück.

Katja lernt die neue Sprache schnell, weil sie viel mit den Kindern redet. Es geht viel schneller als damals, als ihr Vater, der auch ihr Lehrer war, ihr Französischunterricht mit Schwerpunkt in Grammatik gab. Nach ein paar Jahren beherrscht sie die Sprache und bewirbt sich am Kindergärtnerinnenseminar, um ihre deutsche Ausbildung zu vervollständigen. Sie erhält bald eine Praktikumsstelle in Älvsjö.

Eines Abends stellt eine Freundin ihr einen ungewöhnlichen Mann in einem eigenartigen Teddymantel vor. Er lädt sie in seine Bude ein, da hat er Bilder an die Decke gehängt, damit er sie vom Bett aus anschauen kann. Katja weiß nicht so recht, was es ist, aber schon am ersten Abend hat sie sich entschieden: Den möchte ich heiraten.

***

Zehn Jahre nach Katjas Ankunft in Schweden werde ich als drittes von vier Kindern geboren, meine Mutter hat schon lange keinen deutschen Akzent mehr. Sie konnte nach vorn schauen, genau wie es ihr Vater gesagt hatte.

Ihr Mann, mein Vater, unser brillanter Bohemien, Dichter und Architekt, ist der Wortführer der Familie – wenn er denn da ist. Meine Mutter wirkt, wie andere Mütter auch, mehr im Hintergrund. Mein Vater stammt aus Småland, wir sind für den Fußballverein Öster und fahren hin und wieder nach Oskarshamn und Västervik. Meine Mutter spricht selten über ihre Kindheit und ihre Erlebnisse in einem anderen Land. Sie werden gewissermaßen in ein anderes Zimmer gebracht oder einfach weiter nach hinten in den Schrank gestopft. Mein Vater fragte nicht und erfuhr auch nicht, was meine Mutter während des Krieges erlebt hat, und sie hat von sich aus nichts erzählt. Vielleicht wollten sie es beide so. Man kann willentlich etwas verbergen – aber vergessen kann man willentlich nicht.

***

Als die sechziger Jahre in die siebziger Jahre übergingen, hatten wir uns daran gewöhnt, lange zu warten, bis mein Vater mit dem Auto nach Hause kam. Vielleicht kannten wir ihn so am besten – in der Sehnsucht. Aber immer an einem bestimmten Abend im Juni ist die Erwartung besonders groß, und wenn der schwarzweiße Volvo Amazon endlich auftaucht, stehen wir schon mit unseren Fahrrädern an der kleinen Holzbrücke auf dem Waldweg, der nach Grisslehamn führt. Vater und seine Passagiere winken uns durch die Fenster zu, und wenn sie vorbeigefahren sind, treten wir in die Pedale und fahren dicht hinter dem Auspuff her, bis hinauf zu unserem Holzhaus.

Wieder einmal sind die Großeltern aus Deutschland angereist, besuchen uns in unserem Holzhaus an der Ostsee. Es ist die Ostsee, an der sie selbst aufgewachsen sind. Ihr Strand lag in Pommern, aber darüber sprechen wir auch selten. Wir Kinder sagen Großvater und Großmutter zu ihnen, meine Mutter, die sie mit Vater und Mutter angesprochen hat, als sie klein war, nennt sie jetzt Fritz und Karin. Fritz trägt einen Strohhut und ein dickes, grau-weißes Jackett. Es ist irgendwie vornehm, und ich stehe gerne neben Großvater, ohne etwas zu sagen. Sobald er da ist, zieht er die abgetragene braune Lederjacke an, die seit letztem Sommer an einem Haken im »Zimmer von Großmutter und Großvater« hängt. Nach einer ersten Runde durch den Wald sagt er, dass an manchen Stellen etwas gemacht wurde, was man nicht hätte machen sollen. Großvater ist nämlich der Meinung, dass die Natur selbst am besten weiß, wie mit ihr umgegangen werden muss. Statt sie zu regulieren, sollte man sich ihr anpassen und lernen, mit und von ihr zu leben.

Großmutter trägt schmale helle Hosen und einen neuen Schal. Ihre zarte Hand, auf deren Rücken kleine, braune Flecken sind, umfasst ihre große rundliche Handtasche, die alles enthält, was sie braucht. Genau wie Großvater wird sie bald ihre Kleidung wechseln, allerdings zieht sie einen abgetragenen Bademantel an, darunter einen geblümten Badeanzug, unter dem man einen kleinen, runden Bauch sieht. Dann stellt sie Dosen und Flaschen auf den kleinen rechteckigen Tisch neben der Toilette. Da werden bald auch Bücher liegen, Zigaretten mit Menthol, deutsche Schokolade und hoffentlich auch Bonbons, die manchmal ein bisschen komisch schmecken, an denen man jedoch lange lutschen kann. Die runden und länglichen Würste hängt sie an der Wand in der Küche auf.

Großvater hat weder Dosen noch Zigaretten. Aber er hat Bücher. Manche auf Schwedisch und manche auf Deutsch. In einigen gibt es Noten oder Gedichte, alle scheinen kurz vor dem Auseinanderfallen zu sein.

Seine großen Hände können im Prinzip alles machen. Er räumt in den Kahlschlägen auf, die er verflucht, aber am Ende des Sommers wachsen Holzstapel so groß wie Meiler in die Höhe. Wir fahren sie mit der Karre zum Holzschuppen, damit sie nicht noch im Freien stehen, wenn Fritz im nächsten Jahr wiederkommt. Großvaters große Hände, die Baumstümpfe aufbrechen und Stämme anheben können, sind auch in der Lage, winzige Radieschenpflanzen vom Saatbeet auf dem Erdhügel hinter dem Holzschuppen in gerade Reihen im Garten zu verpflanzen. Und seine Hände zeigen uns eine neue Methode, die Netze zu säubern. Wir zupfen das Seegras nicht Stück für Stück heraus, sondern schütteln das Netz so, dass es in großen Wolken herausfliegt. So machten es die Fischer am Strand in Wittenberg, Großvater half ihnen, wenn sie ihre Flundern gefischt hatten. An dem Strand weit weg auf der anderen Seite der Ostsee.

An einem Strandabschnitt südlich von Grisslehamn liegt Karin mit Strohhut und in ihrem bunten Badeanzug und liest in einem Buch. Neben ihr auf der Decke sitzt oft meine große Schwester Ylva, und da ist auch die große Tasche mit den Menthol-Zigaretten und gelben und grünen Bonbons. Und das kleine, goldene Zigarettenetui, das meine Schwester am allermeisten bewundert. Da bleiben sie, bis die Kuhglocke sie zum Essen ruft oder die Sonne hinter den Kiefern untergeht.

Manchmal leistet Großvater ihnen Gesellschaft. Dann legt er sich neben Karin, faltet die Hände über der Brust, aber er zieht weder das Hemd noch die dicke Hose aus, und er geht auch nie ins Wasser. Ich gehe auch nicht ins Wasser, und manchmal, wenn wir uns vom Strand auf den Weg ins Haus machen, darf ich hoch oben auf seinen Schultern reiten.

Jeden Morgen steht eine Schüssel mit Blaubeeren auf dem Küchentisch. Großvater kommt nie aus dem Wald zurück, ohne dass diese Schüssel randvoll ist, und wenn wir dann Blaubeeren mit Milch essen, ist er schon wieder mit der Axt im Wald. Sein Körper scheint auf Arbeit eingerichtet zu sein, und er meint, wenn wir alle mit anpacken, können wir viel ausrichten. Springt der lärmende Rasenmäher nicht an, holt er Messer aus der Küche und zeigt uns, wie wir alle nebeneinander mit einem Messer in der Hand in einer Reihe vorwärtskriechen sollen. Würden wir dabei das Gras schneiden, könnten wir es schaffen, einen schönen Rasen hinzubekommen, ganz ohne Abgase und Lärm.

Es gibt auch Dinge, die ich nicht mit Großvater machen kann: Süßigkeiten kaufen, Puzzle legen und Fußball spielen. Großvater spielt nicht, er geht nicht einkaufen, auch humpelt er ein wenig. Meine Mutter wusste von Fritz, sein Bruder Erich sei ein guter Fußballspieler gewesen. Aber Fritz hat keinen Bruder mehr. Er meldete sich, als der Erste Weltkrieg begann, als Freiwilliger in der Armee von Kaiser Wilhelm. Fritz folgte ihm. Großvaters Bruder starb, und er selbst wurde von einer Granate am Bein getroffen. Als Kriegsgefangener brachte man ihn nach Petrograd, dem heutigen St. Petersburg, wo er einige Jahre blieb. Über diese Zeit spricht Fritz nicht. Nach vorne schauen, das ist, wie gesagt, sein Motto, und wenn das Bein schmerzt, macht Großmutter warme Umschläge mit Honig. Am Abend holt er das Akkordeon heraus und singt seine selbstgeschriebenen Lieder über »Das Schloss im...

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