2 Zur Geschichte des Begriffs der medizinischen Indikation
Klaus Gahl
2.1 Die Antike: Hippokrates und Galen
Der heute jedem Arzt vertraute Begriff der Indikation hat über Jahrhunderte hin einen Bedeutungswandel vom bloßen Anzeichen einer Krankheit bis zum therapeutischen Handlungsappell erfahren. Was seine Funktion betrifft, lässt er sich medizingeschichtlich bis in die antike Medizin, bis zu Hippokrates (um 460 bis um 377 v. Chr.) und Platon (427–347 v. Chr.), verfolgen. Er entspricht dort der ἔνδειξις (endeixis) als »Anzeichen« bzw. als Verbform »hinweisen«. Im vor-hippokratischen und vor-sokratischen Schrifttum werden diese Begriffe nahezu ausschließlich juristisch gebraucht als »Strafanzeige« bzw. »anzeigen«.
Im medizinischen Kontext findet sich das Wortfeld endeixis zunächst selten. Hier will es auf etwas hinweisen, beweisen, von sich aus aufzeigen. Im Corpus Hippokraticum (zwischen 450 und 250 v. Chr.) erscheint es nur einmal in den Hippokrates sicher zugeschriebenen Schriften als endeixios = angezeigt (Hippokrates 1957, S. 314). Hippokrates stützt die Entscheidung zum ärztlichen Handeln auf Krankheitserscheinungen (sympt mata = Zufälle) beim Patienten mit sichtbaren Veränderungen seiner Körpertemperatur, seiner Ausscheidungen, seines Schweißes, seiner Bewegungen u. a. Zudem achtet er auf seine allgemeine Konstitution und auf die Umgebung des Kranken, auf klimatische Veränderungen, auf Luft und Wasser etc. Diese Zeichen sind mitbestimmend für seine Handlungsempfehlung.
Es ist Galen (129–199 n. Chr.), der die Krankheitszeichen verfolgt und – gestützt auf eine erstaunliche Kenntnis der Anatomie und Physiologie und auf eigene und tradierte Erfahrung und Analogieschluss – daraus die Behandlung ableitet. Die Konstitution des Kranken, ja die Krankheit selbst weist mittels der Zeichen auf die erforderliche Therapie hin. Diese gilt weniger der Diagnose als vielmehr der Prognose. Das Anzeichen (endeiktikon) deutet auf den Kern einer Sache, die Ur-Sache einer Krankheit, es berechtigt oder drängt den Arzt, etwas gegen die Krankheit zu tun. Es ist endeixis symptomatikê, therapeutikê und prophylaktikê. Damit gewinnt der Begriff schon hier einen zum Handeln verpflichtenden, deontologischen Charakter. Galen baut seine Indikationslehre auf dem empirischen »Dreifuß von Erfahrung, Tradition und Spekulation« (Rothschuh 1978, S. 163) auf – über Jahrhunderte hin gültig und bis in unsere Zeit wegweisend.
Aus seiner Methodos medendi lassen sich vier Bedeutungen der endeixis herausarbeiten: das unspezifische Abweichen eines körperlichen Zustandes von dem Naturhaft-Normalen; das auf eine bestimmte Krankheit hinweisende Zeichen; die Aufforderung, die Normabweichung als solche zu beheben, und die zielgerichtete Maßnahme des therapeutischen Handelns mittels Medikament, Diät oder Operation. Im Blick auf Behandlung weisen drei primäre Indikatoren auf das hin, was getan werden muss, z. B. das Fieber selbst (als symptomatische Indikation), seine Ursache (als kausale Indikation) und die körpereigenen Kräfte (als konstitutionelle Indikation). Zusätzlich bestimmen Kondition, Alter, Geschlecht, Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten des Kranken, Umweltbedingungen, Klima und Jahreszeiten die Indikationsstellung.
Besonders Galens Hauptwerk zur Therapie, die »Methodos medendi«, mit dem so vielfältigen Gebrauch der endeixis wird maßgebliche Autorität für die Medizin bis ins 18. Jahrhundert, sie prägt sie als empirische (Erfahrungs-) und pragmatische (Handlungs-)Wissenschaft.
2.2 Von der Antike in die Neuzeit
Ein Brückenpfeiler von der Tradition der spätantiken Medizin zum Mittelalter ist Gentile da Folignio (um 1280–1348 in Perugia). Er übernimmt die Indikationenlehre Galens. Als exakter Empiriker ist er auf objektive Zeichen der Krankheit aus, als Rationalist bemüht er sich um bestmögliche Informationen über Ursachen der Krankheiten. Er unterscheidet allgemeine und krankheits- oder ursachenspezifische Zeichen. Zeichen haben diagnostische und prognostische Funktion.
Mit Gentile sind wir an der sprachlichen Schwelle von der endeixis zur indicatio. Diese Übersetzung geht zurück auf Burgundio (um 1110–1193). Zur gleichen Zeit übersetzt Gerard von Cremona (1114–1187) in der Übertragung von Galens »Methodos medendi« die endeixis mit significatio (Durling 1992, S. 113).
Eine frühe umfangreiche, systematische Darstellung der Indikation bringt Daniel Sennert (1572–1637) mit seinen »Institutiones medicinae«. Er unterscheidet zwischen indicans und indicatum als dem Sich-Zeigenden und dem Gezeigten und betont »tria sunt vera indicantia: morbus, caussa et symptoma« (»drei Dinge sind es, die sich in Wahrheit zeigen: die Krankheit, die Ursache, die Symptome«, 1676, S. 695:2). Die indicatio wird mitgeprägt von der kranken Körperregion, vom Alter, dem Geschlecht, den Sitten und Lebensweisen des Kranken. Systematisch definiert der philosophisch geschulte Arzt Sennert die drei Aspekte der indicatio, des indicans und des indicatum. Er beginnt mit einer ersten Definition:
»indicatio est perceptio iuuantis in indicante per caussas cognitas: seu, quod idem est, perceptio & comprehensio iuuantis seu Indicati, cum comprehensibile Indicantis, citra experientiam & analogismum.« (Sennert 1676, S. 693:1)
»Indicatio ist die Wahrnehmung dessen, was hilft, indem es auf bekannte Ursachen hinweist oder – was das Gleiche ist – Wahrnehmung und Verständnis dessen, was hilft und angezeigt ist, mit dem sich verstehbar Zeigenden jenseits von Erfahrung und Analogie« (Übers. KG).
Sennert weist damit auf drei ärztliche Aufgaben: Kenntnis der Ursachen, Erfahrung und Vergleich (Analogie). Er erweist sich in seiner Haltung (wie Galen) als »Empirico-Rationalist«, der Wissen und Erfahrung als sich wechselseitig befruchtende diagnostische Methoden nutzt. Er sieht die differentias indicationum: allgemeine, untergeordnete, spezifische und genau festgelegte Indikationen (I. generica, subalterna, specifica & determinata). Er unterscheidet zwischen »indicatio […] utilis, alia inutilis« und zwischen der der ärztlichen Kunst gerechten und der ihr zuwider laufenden; er spricht sogar von »indicatio individualis« (Sennert 1676, S. 694:2). Der »doctrina de indicationibus & indicantibus« folgt ein Kapitel »De Indicatis«, darin das quod ab indicante agendum praecipitur (»das, was aus dem sich Zeigenden als zu tun vorgeschrieben ist«; Sennert 1676, S. 701:2). So auch die Anzeige dafür, mit welchem Heil- oder Hilfsmittel zu behandeln ist: ob »Chirurgia, Pharmacia vel Diaeta petitur« geeignet ist »ad executionem Indicationis« (zur Ausführung der Indikation).
Die detaillierte, systematische Darstellung des Indikationsbegriffes besticht durch ihre Klarheit und die durch Beispiele erläuternde Begründung der vielfältigen Differenzierungen. Zu beachten ist, dass sie ausdrücklich den Kranken unberücksichtigt lässt. Vielmehr ist es der morbus, der sich zeigt und demgemäß die Indikation gestellt wird. Wie schon bei Galen kommt auch hier der Handlungsappell der Indikation wiederholt zur Sprache.
Als der »englische Hippokrates« wurde der Londoner Thomas Sydenham (1624–1689) verehrt ob seiner vorurteils- oder theoriefreien Beobachtung von Krankheitserscheinungen und der Beachtung der lokalen, regionalen und atmosphärischen Umstände von Erkrankungen. Indicatio ist bei ihm Bindeglied zwischen Krankheit und Therapie. Der Indikation geht mehr ein auf Erfahrung basierender Erkenntnisakt und weniger ein individueller Beurteilungs- und Entscheidungsakt voraus. Der Begriff der Indikation findet sich selten in den Schriften Sydenhams. Eine ausdrückliche Differenzierung ist nicht zu erkennen. Er spricht von »curative indications« und »indicatio à juvantibus« (die Indikation aus dem helfenden Arzneimittel, Sydenham 1711, S. 321). Ohne Begründungen anzugeben, verordnet er erfahrungsgestützt seine Heilmittel.
In hippokratischer Tradition steht Herman Boerhaave (1668–1738). Seine Krankheitslehre ist von der Vorstellung mechanischer Kräfte im Körper bestimmt. Krankheit ist Einheit von Ursache und Wirkung. So muss es...