Der Ungehorsam als ein psychologisches und ethisches Problem
(Disobedience as a Psychological and Moral Problem)
(1963d)[2]
Jahrhundertelang haben Könige, Priester, Feudalherren, Industrielle und Eltern darauf bestanden, dass Gehorsam eine Tugend und Ungehorsam ein Laster sei. Ich möchte hier[3] einen anderen Standpunkt vertreten und dem entgegenhalten: Die Menschheitsgeschichte begann mit einem Akt des Ungehorsams, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie mit einem Akt des Gehorsams ihr Ende finden wird.
Nach dem hebräischen und auch nach dem griechischen Mythos steht am Anfang der Menschheitsgeschichte ein Akt des Ungehorsams. Als Adam und Eva noch im Garten Eden lebten, waren sie ein Teil der Natur; sie standen in voller Harmonie mit ihr und transzendierten sie noch nicht. Sie befanden sich in der Natur wie der Embryo im Mutterleib. Sie waren Menschen und gleichzeitig waren sie es noch nicht. All das änderte sich, als sie einem Gebot nicht gehorchten. Dadurch dass der Mensch seine Bindung an die Erde und Mutter löste, dass er die Nabelschnur durchtrennte, tauchte er aus der vormenschlichen Harmonie auf und konnte so den ersten Schritt in die Unabhängigkeit und Freiheit tun. Der Akt des Ungehorsams setzte Adam und Eva frei und öffnete ihnen die Augen. Sie erkannten, dass sie einander fremd waren und dass auch die Außenwelt ihnen fremd, ja sogar feindlich war. Ihr Akt des Ungehorsams zerstörte die primäre Bindung an die Natur und machte sie zu Individuen. Die Erbsünde hat den Menschen keineswegs verdorben, sondern setzte ihn frei; sie war der Anfang der Geschichte. Der Mensch musste den Garten Eden verlassen, um zu lernen, sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen und ganz Mensch zu werden.
Die Propheten haben mit ihrer messianischen Vorstellung die Idee bestätigt, dass es richtig gewesen war, nicht zu gehorchen; dass der Mensch durch seine „Sünde“ nicht verdorben, sondern von den Fesseln der vormenschlichen Harmonie befreit wurde. Für die Propheten ist die Geschichte der Ort, wo der Mensch menschlich wird. Im Lauf der Geschichte entwickelt er die Kräfte seiner Vernunft und Liebe, bis er eine neue Harmonie zwischen sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur erzeugt. Diese neue Harmonie wird als „das Ende der Tage“ beschrieben, als jene Geschichtsperiode, in der Friede herrscht zwischen Mensch und Mensch und zwischen [IX-368] Mensch und Natur. Sie ist ein „neues“, vom Menschen selbst geschaffenes Paradies, ein Paradies, das er nur schaffen konnte, weil er wegen seines Ungehorsams gezwungen wurde, das „alte“ Paradies zu verlassen.
Ebenso wie im alttestamentlichen Mythos von Adam und Eva geht auch nach dem griechischen Mythos die gesamte menschliche Zivilisation auf einen Akt des Ungehorsams zurück. Dadurch dass Prometheus den Göttern das Feuer stahl, legte er die Grundlage für die Entwicklung des Menschen. Ohne das „Verbrechen“ des Prometheus gäbe es keine Geschichte der Menschheit. Genau wie Adam und Eva wird auch er für seinen Ungehorsam bestraft. Aber er bereut ihn nicht und bittet nicht um Vergebung. Ganz im Gegenteil sagt er voll Stolz: „Ich möchte lieber an diesen Felsen gekettet als der gehorsame Diener der Götter sein.“
Der Mensch hat sich durch Akte des Ungehorsams weiterentwickelt. Nicht nur, dass seine geistige Entwicklung nur möglich war, weil es Einzelne gab, die es wagten, im Namen ihres Gewissens und Glaubens zu den jeweiligen Machthabern „nein“ zu sagen – auch die intellektuelle Entwicklung hatte die Fähigkeit zum Ungehorsam zur Voraussetzung, zum Ungehorsam gegenüber Autoritäten, die neue Ideen mundtot zu machen suchten, und gegenüber der Autorität lang etablierter Meinungen, die jede Veränderung für Unsinn erklärten.
Wenn auch die Fähigkeit zum Ungehorsam den Anfang der Menschheitsgeschichte darstellte, so könnte doch der Gehorsam sehr wohl deren Ende sein. Ich sage das nicht im symbolischen oder poetischen Sinn. Es besteht die Möglichkeit, ja sogar die Wahrscheinlichkeit, dass die menschliche Rasse in den nächsten fünf bis zehn Jahren die Zivilisation, ja sämtliches Leben auf der Erde vernichten wird. Hierin wäre weder Vernunft noch Sinn. Tatsache ist, dass wir zwar technisch im Atomzeitalter leben, dass aber die meisten Menschen – einschließlich all derer, die an der Macht sind – emotional noch in der Steinzeit leben. Unsere Mathematik, unsere Astronomie und unsere Naturwissenschaften gehören dem Zwanzigsten Jahrhundert an. Unsere Ideen über die Politik, den Staat und die Gesellschaft sind jedoch weit hinter dem Zeitalter der Naturwissenschaft zurückgeblieben. Wenn die Menschheit Selbstmord begehen wird, dann deshalb, weil die Menschen denen gehorchen werden, die ihnen befehlen, auf den Knopf zu drücken, der die Vernichtung auslöst, weil sie den archaischen Leidenschaften von Angst, Hass und Gier und den veralteten Klischeevorstellungen von der Souveränität des Staates und von der nationalen Ehre gehorchen werden. Die Sowjetführer reden viel von der Revolution, und wir in der „freien Welt“ reden viel von der Freiheit. Aber sie wie wir unterbinden den Mut zum Ungehorsam – in der Sowjetunion ausdrücklich und gewaltsam, in der „freien Welt“ unausgesprochen und mit den raffinierteren Methoden der Überredungskunst.
Mit all dem ist natürlich nicht gesagt, dass jeder Ungehorsam eine Tugend und jeder Gehorsam ein Laster sei. Eine derartige Auffassung würde die dialektische Beziehung außer Acht lassen, die zwischen Gehorsam und Ungehorsam besteht. Immer wenn die Prinzipien, denen man gehorcht und denen man nicht gehorcht, miteinander unvereinbar sind, ist ein Akt des Gehorsams dem einen Prinzip gegenüber notwendigerweise ein Akt des Ungehorsams seinem Widerpart gegenüber und umgekehrt. Das klassische Beispiel für diese Dichotomie bietet uns Antigone. Wenn sie den [IX-369] unmenschlichen Gesetzen des Staates gehorcht hätte, so hätte sie notwendigerweise den Gesetzen der Menschlichkeit nicht gehorcht. Wenn sie letzteren gehorchte, musste sie den ersteren den Gehorsam verweigern. Alle Märtyrer der Religion, der Freiheit und der Wissenschaft mussten denen den Gehorsam verweigern, die sie mundtot zu machen suchten, um ihrem eigenen Gewissen, den Gesetzen der Menschlichkeit und Vernunft folgen zu können. Wenn ein Mensch nur gehorchen und nicht auch den Gehorsam verweigern kann, ist er ein Sklave; wenn er nur ungehorsam sein und nicht auch gehorchen kann, ist er ein Rebell und kein Revolutionär; er handelt dann aus Zorn, aus Enttäuschung und Ressentiment und nicht aus Überzeugung oder Prinzip.
Um jedoch eine Begriffsverwirrung zu vermeiden, müssen wir hier eine wichtige Klärung vornehmen. Jeder Gehorsam gegenüber einer Person, einer Institution oder Macht (heteronomer Gehorsam) ist Unterwerfung; er impliziert, dass ich auf meine Autonomie verzichte und einen fremden Willen oder eine fremde Entscheidung anstelle meiner eigenen akzeptiere. Wenn ich dagegen meiner eigenen Vernunft oder Überzeugung gehorche (autonomer Gehorsam), so ist das kein Akt der Unterwerfung, sondern ein Akt der Bejahung. Meine Überzeugung und mein Urteil sind – sofern sie wirklich die meinen sind – ein Teil von mir. Wenn ich diesen und nicht dem Urteil anderer folge, bin ich wirklich ich selbst. Man kann das Wort „gehorchen“ deshalb nur in einem metaphorischen Sinn und in einem Sinn, der sich von der Bedeutung des „heteronomen Gehorsams“ grundsätzlich unterscheidet, verwenden.
Diese Unterscheidung bedarf noch zwei weiterer Klarstellungen, von denen sich die eine auf das Gewissen und die andere auf den Begriff der Autorität bezieht. Das Wort „Gewissen“ steht für zwei völlig unterschiedliche Erscheinungen: einmal für das „autoritäre Gewissen“, die internalisierte Stimme einer Autorität, die wir zufriedenstellen und keinesfalls verärgern möchten. Dieses autoritäre Gewissen erleben die meisten Menschen, wenn sie „ihrem Gewissen gehorchen“. Es ist dies auch das Gewissen, von dem Freud spricht und das er als „Über-Ich“ bezeichnet. Es repräsentiert die internalisierten Gebote und Verbote des Vaters, die der Sohn aus Angst vor ihm respektiert. Von dem autoritären Gewissen unterscheidet sich das „humanistische Gewissen“, die in jedem Menschen gegenwärtige Stimme, die von äußeren Sanktionen oder Belohnungen unabhängig ist. Das humanistische Gewissen gründet sich auf die Tatsache, dass wir als menschliche Wesen intuitiv wissen, was menschlich und was unmenschlich ist, was das Leben fördert und was es zerstört. Dieses Gewissen hilft uns, als menschliche Wesen zu funktionieren. Es ist die Stimme, die uns zu uns selbst, zu unserer Menschlichkeit zurückruft.
Das autoritäre Gewissen (Über-Ich) ist auch dann immer noch Gehorsam gegenüber einer Macht außerhalb unserer selbst, wenn diese Macht internalisiert ist. Bewusst glaube ich meinem Gewissen zu folgen, tatsächlich aber habe ich die Prinzipien der Macht in mich aufgenommen. Gerade wegen der Illusion, dass das humanistische Gewissen und das Über-Ich identisch seien, ist die internalisierte Autorität soviel wirksamer als die Autorität, von der ich mir bewusst bin, dass sie kein Teil von mir selbst ist. Der Gehorsam gegenüber dem „autoritären Gewissen“ schwächt – wie jeder Gehorsam gegenüber Ideen und Mächten, die von außen an uns herantreten – das [IX-370] „humanistische Gewissen“ und unsere Fähigkeit, wir selbst zu sein und selbständig zu urteilen.
Auch die Behauptung, der Gehorsam einem anderen Menschen gegenüber sei ipso facto Unterwerfung, ist dahingehend zu qualifizieren, dass man zwischen einer „rationalen“ und einer „irrationalen“ Autorität...