Vorwort
Am 11.März 2009 begann mein Arbeitstag um 7.23 Uhr. Pünktlich rollte der ICE aus dem Münchner Hauptbahnhof, drei Stunden später erreichte der Zug Mannheim, wo ich ausstieg, um auf die Weiterfahrt nach Baden-Baden zu warten. Dort, so mein Plan, würde ich das Gepäck ins Hotel bringen und einige Gesprächspartner treffen: den Oberbürgermeister, einen Polizisten, einen Bundeswehrmann. Für den nächsten Tag hatte ich einen Termin mit Friedensaktivisten vereinbart, die gerade dabei waren, ihren gar nicht so friedlichen Protest gegen den bevorstehenden Nato-Gipfel zu organisieren. Das Nachrichtenmagazin Focus, für das ich seit 2002 arbeite, wollte in der nächsten Ausgabe einen Bericht über die Sicherheitslage in Baden-Baden bringen. Aus dem Artikel wurde nichts, meine Gesprächspartner warteten vergeblich.
Etwa zwanzig Minuten, bevor mein Zug die Kurstadt erreichte, klingelte das Telefon. Die Nummer im Display verriet, Markus Krischer will mich sprechen, der stellvertretende Leiter des Ressorts Deutschland. In knappen Worten erklärte er meine Dienstreise für beendet. Nahe Stuttgart sei ein Jugendlicher Amok gelaufen. An seiner früheren Schule habe er mehrere Menschen erschossen. Ich nahm meinen Schreibblock aus der Tasche und notierte mir den Namen eines Ortes, von dem ich nie zuvor gehört hatte: Winnenden. Ich riss die Seite aus dem Block, faltete sie und stopfte sie in die Hosentasche. Vom Bahnhof aus rannte ich einige hundert Meter bis zur nächstgelegenen Autovermietung. Leider sei kein Auto frei, sagte die Frau hinter dem Schreibtisch, morgen hätte ich vielleicht mehr Glück. Nachdem ich ihr den Ernst der Lage erklärt hatte, überließ sie mir den für einen anderen Kunden reservierten Wagen. Am frühen Nachmittag erreichte ich Winnenden.
Zusammen mit zwei Kollegen, Axel Spilcker aus der Münchner Redaktion und Marco Wisniewski aus dem Büro in Frankfurt am Main, recherchierte ich an diesem und den folgenden Tagen für die Focus-Titelgeschichte der nächsten Woche. Begleitet wurden wir von dem renommierten Stuttgarter Fotografen Christoph Püschner. Einige seiner Aufnahmen sind in diesem Buch erstmals zu sehen. Jeder von uns Reportern hat über große Unglücke und bedeutende Kriminalfälle berichtet. Ein Verbrechen wie dieses geht selbst erfahrenen Journalisten sehr nahe.
Blaulichter, Sirenen, bewaffnete Polizisten, Notärzte und Sanitäter, weinende Schüler, geschockte Eltern, Leichenwagen – die Szenen vor der Albertville-Realschule wirkten wie eine Kopie der Ereignisse vom 26. April 2002. An jenem Freitag erschoss Robert Steinhäuser im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst. Damals gehörte ich zu den Reportern, die über Wochen und Monate aus Thüringen berichteten. Wir sprachen mit Zeugen des Verbrechens und Menschen, die den Amokläufer kannten. Mit dem Hausmeister, der die Toten identifizierte. Mit dem Geschichtslehrer, der den Täter am Ende in einen Raum sperrte. Mit der Rektorin, nach der sich Steinhäuser beim Betreten der Schule erkundigt hatte. Mit dem Streifenpolizisten, der sich einen Schusswechsel mit dem 19-Jährigen geliefert hatte. Mit dem Einsatzleiter der Polizei, dessen Vorgehen nicht immer nachvollziehbar war. Mit Gerichtsmedizinern, die ihre Arbeit fast im Akkord verrichten mussten. Mit den Eltern von erschossenen Schülern und Lehrern, auch mit den Eltern des Täters. Wir sprachen mit dem Staatsanwalt, der das Verfahren nach monatelangen Ermittlungen zu einem möglichen Mittäter einstellte. Wir interviewten Amokforscher, Psychologen, Seelsorger, Trauma-Experten, Erziehungswissenschaftler und Soziologen. Wir sammelten Argumente von Waffenlobbyisten, Sportschützen und Computerspielern. Schrieben auf, was Politiker zu sagen hatten.
Sieben Jahre später glichen sich die Gesprächspartner – und die Fragen. Wieder trafen wir Eltern, die um ihre Kinder trauerten und die verzweifelt versuchten, ihrem aus den Fugen geratenen Leben noch einen Sinn zu geben. Bis zum 11. März 2009 war ihre Welt geordnet, friedvoll und irgendwie normal. Sie hatten Aufgaben, Termine, Pläne, Träume. All das fiel mit einem Mal weg. Viele Mütter und Väter waren noch Monate nach dem Verlust ihrer Kinder krankgeschrieben. Sie fühlten sich leer und lustlos, hatten keinen Appetit und keinen Geschmack, waren wie gelähmt. Manche drohte der Lebensmut zu verlassen.
Den Tatort aufzusuchen oder Ermittlungsakten zu lesen, schien den meisten Hinterbliebenen am Anfang unmöglich. Erst allmählich entwickelten sie den Wunsch, sich Gewissheit zu verschaffen. Sie wollten erfahren, wie ihre Kinder gestorben sind – ob sie leiden mussten, ob sie eine Überlebenschance hatten. Sie wollten wissen, wie der Täter vorging und warum der 17 Jahre alte Tim K. zum Mörder wurde. Vor allem aber interessierte sie, warum seine Eltern ihn nicht aufhielten. Warum sie nichts unternahmen, obwohl sie doch wissen mussten, dass er psychisch labil war. Warum die Mutter ihm virtuelle Waffen beschaffte und der Vater ihn lehrte, mit echten Waffen zu schießen, all das wollten die Hinterbliebenen wissen.
Die Fragen haben Ute und Jörg K. nie beantwortet. Zwei Briefe schrieben sie den Familien der Opfer, einen offenen und einen persönlichen. Mit keinem Wort deuteten sie an, dass sie womöglich eine Mitschuld oder Mitverantwortung treffen könnte. An keiner Stelle gingen sie auf die Umstände ein, unter denen ihr Sohn aufgewachsen ist. Das Wort Entschuldigung taucht nirgends auf. Die Eltern des Täters leben seit dem Massaker an einem geheim gehaltenen Ort. Sie schotten sich ab. Wegen zum Teil massiver Drohungen mussten Tims Mutter und seine Schwester neue Identitäten annehmen. Jörg K. untersagten die Behörden, den Namen zu wechseln und ein neues Leben zu beginnen. Sein »altes Leben« ist nämlich noch nicht abgeschlossen. Wegen fahrlässiger Tötung in 15 Fällen muss er sich demnächst vor Gericht verantworten. Die zentrale Frage lautet: Hätte er seine Waffe besser sichern müssen, weil er um die Psyche seines Sohnes und die damit verbundenen Risiken wusste?
Dass die Stuttgarter Staatsanwaltschaft den Vater des Amokschützen – entgegen ihrer ursprünglichen Absicht – angeklagt hat, empfinden die Familien der Ermordeten als Erfolg, manche sogar als lebenswichtig. Lange hatten sie fürchten müssen, dass Jörg K. mit einem Strafbefehl davonkommt und die Bluttat womöglich nie vollständig aufgeklärt wird. Diese Sorge, diese Last sind sie los. Vielleicht auch deshalb, weil sie immer darauf aufmerksam gemacht haben, wie wichtig dieser Prozess ist, nicht nur für sie selbst, sondern für alle. Es geht ihnen um ein Zeichen, ein Signal an die Gesellschaft: Seht her, was passiert, wenn wir nicht auf unsere Kinder achten!
Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger, der den Weg für einen Prozess erst frei gemacht hat, will noch etwas anderes. Er will, dass ein juristischer Grundsatz, den es längst gibt, stärker ins Bewusstsein der Menschen rückt, der vielen Sport- und Freizeitschützen jedoch fremd zu sein scheint. Der Grundsatz lautet: Wer seine Waffe so ungesichert und frei zugänglich aufbewahrt, dass ein anderer damit einen Mord begehen kann, macht sich der fahrlässigen Tötung schuldig. Eine solche Konstellation, glaubt Pflieger, liegt im Fall Winnenden vor. Auch deshalb bestand er auf einer Anklage.
In einer Weise, wie es sie zuvor bei Verbrechen nicht gegeben hat, kämpfen die Hinterbliebenen von Winnenden darum, das Vermächtnis der Toten zu bewahren. Mehrere Familien schlossen sich zu einem Bündnis zusammen und gründeten eine Stiftung. Sie fordern strengere Waffengesetze, weniger Gewalt in den Medien und besser geschützte Schulen. Der Schritt von passiven zu aktiven Opfern brachte den Angehörigen Anerkennung ein, aber auch Unverständnis und Anfeindungen. Davon wird auf den folgenden Seiten die Rede sein.
»Normal«. Dieses Wort findet sich in den Aussagen vieler Zeugen, die rückblickend über das Leben des Täters und das seiner Eltern berichten. »Sie waren eine ganz normale Familie«, meint ein Schützenkamerad des Vaters. »Für mich war er ein ganz normaler Jugendlicher«, sagt ein Freund der Familie über Tim. Ute K. beschreibt das Verhältnis zu ihrem Sohn als »normal«. Jörg K. verwendet, wenn er über seine Beziehung zu Tim spricht, das Wort »normal«. Als er einschätzen soll, wie sich Tim und seine Schwester vertragen haben, sagt er, sie seien »normal« miteinander umgegangen. Wenn aber alles so »normal« war in dieser Familie, wie konnte dann geschehen, was geschehen ist?
Dieses Buch erzählt die Geschichte des Amoklaufs von Winnenden so, wie sie die Ermittler rekonstruiert und wie sie Zeugen beschrieben haben. Konnten bestimmte Abläufe nicht zweifelsfrei aufgeklärt werden, habe ich mich für jene Variante entschieden, die auch den Fahndern am plausibelsten erschien.
Um die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen zu wahren, verzichte ich grundsätzlich auf die Nennung von Namen. Ein Notarzt bleibt ein...