1. Sexualität:
Der Aufbruch der urbanen Mittelschicht
«Meine Eltern und mein Bruder denken, dass ich noch Jungfrau bin», sagt Shivani und lacht leise. «Es wäre die Hölle los, wenn sie wüssten, dass ich einen Freund habe.» Wir sitzen auf Klappstühlen in einem Raum ihrer Universität und trinken überzuckerten Tee aus Plastikbechern. Shivani ist ungewöhnlich offen. Ihre schönen Augen mustern mich aufmerksam. Wie auch bei ihren Kommilitoninnen und einer Reihe anderer junger Frauen, mit denen ich über mehrere Monate hinweg immer wieder Gespräche führte, überrascht mich Shivanis Selbstbewusstsein, ihre Körpersprache, ihr unbedingter Wille, etwas aus ihrem Leben und ihren Talenten machen zu wollen. Sie ist einundzwanzig und lebt mit ihrer Familie in einer Drei-Zimmer-Wohnung im Norden Delhis. Wer nicht aus anderen Orten zum Studium hierher gezogen ist und in einem Hostel wohnt, lebt mit den Eltern und nimmt zum Teil lange Wegstrecken zur Uni in Kauf. «Ich möchte einen guten Job und ich bin bereit, alles dafür zu geben.» Sie hat klare Ziele, nimmt ihr Studium nicht auf die leichte Schulter und wird auch nach der Verheiratung, wie sie sagt, arbeiten. Und wenn ihre Schwiegereltern dagegen etwas einzuwenden hätten? «Das werden sie nicht. In so eine Familie würde ich nicht heiraten», sagt Shivani selbstbewusst. «Warum sollten sie sich beschweren, wenn ich zum Einkommen beitrage? Ich werde meine Pflichten nicht vernachlässigen.» Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: «Ich gehe sogar regelmäßig in den Tempel.»
Indiens junge, gebildete Frauen von heute erwarten von sich selbst, dass sie sich mit der Heirat ganz klassisch um Familie, Haushalt und Götter kümmern, die alten Rollenvorstellungen also nicht verletzen, gleichzeitig aber attraktiv, karriereorientiert und beruflich erfolgreich sind. Sie sind entschlossen, diese Kraft aufzubringen, und haben das Ideal «weiblicher Stärke» zutiefst verinnerlicht. Die meisten Studentinnen der Mittelschicht wollen arbeiten (auch wenn nicht alle es später dürfen), sie möchten heiraten, Familien gründen und ihren beruflichen Ambitionen folgen. Während es noch vor zwei Jahrzehnten die Regel war, dass junge Frauen ihr Studium nach der Heirat nicht weiterführten, gehört es heute zum guten Ton der aufstrebenden Schichten, höhere Bildung und Berufstätigkeit von jungen Frauen zu befürworten. Dies ist ein Grund dafür, dass das Alter heiratswilliger Frauen sich um zehn Jahre nach hinten verschoben hat, nämlich auf Mitte bis Ende zwanzig. Dennoch ist es kein Einzelfall, wenn jungen Frauen der Mittelschicht von der Schwiegerfamilie vor der (arrangierten) Ehe das Versprechen gegeben wird, dass sie auch als verheiratete Frau weiterarbeiten dürfen, dass nach der Heirat hingegen Druck ausgeübt wird, die Berufstätigkeit oder das Studium zugunsten familiärer Pflichten aufzugeben.
Das ist zum Beispiel Vidya, eine frischverheiratete End-Zwanzigerin aus Bhopal in Mittelindien, die einen lukrativen Job in einer Bank hat. Sie hatte es zur Bedingung ihrer arrangierten Heirat gemacht, weiter voll berufstätig zu sein. Im Verlauf unseres Gesprächs wurde jedoch deutlich, dass sie ihren Job höchstwahrscheinlich aufgeben muss, falls ein Kind kommt oder die Schwiegereltern kränkeln. «Der Wunsch der Älteren hat Vorrang. Was soll ich da machen? Ich werde mich nicht gegen sie stellen», sagte sie leise und presste ihre Lippen aufeinander. In den meisten Fällen werden Frauen wie Vidya ihren Wunsch, außer Haus zu arbeiten, nur dann durchsetzen können, wenn ihre Partner sie vor der Familie offen unterstützen, sie also die Kooperation der neuen Familie erwarten können oder das Paar allein in einer eigenen Wohnung lebt.
Junge Frauen wie Shivani erwarten dementsprechend, dass ihre zukünftigen Ehepartner ihre Werte teilen. Der Partner soll nicht nur an seinen eigenen Bedürfnissen interessiert sein, sondern ihre ebenso berücksichtigen. An dieser Stelle lacht Shivani wieder leise und fingert an dem farbenfrohen Schal ihres trendigen Salvar Kameez[*]: Sie meint ihre sexuellen Bedürfnisse, die Sehnsucht, nicht nur im alltäglichen Zusammenleben, sondern auch im Ehebett Intimität und Zuwendung erleben zu dürfen. Die heranwachsende Generation in den Großstädten spielt die Bedeutung einer befriedigenden Sexualität in der Paarbeziehung nicht länger herunter. Der Ehepartner als Begleiter und bester Freund, wie in der Generation ihrer Eltern hochgehalten, hat nicht an Wichtigkeit verloren – aber auch der Sex muss stimmen. Wann hat sie begonnen, sich für ihren Körper zu interessieren? Wer hat sie aufgeklärt? Spricht sie mit ihren Freundinnen über Sex?
Als Shivani ihre erste Menstruation bekam, hatte ihre Mutter ihr mit großer Anstrengung zu erklären versucht, was es bedeutete, dass nun einmal monatlich aus ihrem pee-pee Blut floss. Es war ihr peinlich, sie wusste längst über ihre zwei Jahre ältere Cousine Bescheid. Shivani sagt wie ihre Mutter pee-pee oder spricht von «da unten», wenn es um ihre Vagina geht. Den meisten Frauen und Männern in Indien ist es unangenehm, Worte wie «Vagina», «Sex», «Menstruation» oder «Masturbation» auszusprechen. Als Eve Enslers Welterfolg, das Theaterstück The Vagina Monologues, im Jahr 2003 erstmals nach Indien kam, weigerten sich viele Schauspielerinnen, die Rolle zu übernehmen, mit der Begründung, sie könnten es nicht über sich bringen, das V-Wort auszusprechen.[1] Die aus Tamil Nadu stammende Psychologin Amrita Narayanan, die sich umfassend mit der Sexualität indischer Frauen der Gegenwart befasst, kommentiert: «Die meisten Frauen erzählten Geschichten von mütterlicher Zurückweisung während oder vor der Pubertät, als ich sie zu ihren frühesten sexuellen Erfahrungen befragt habe.» Narayanan verweist auf die tiefe Scham, die diese mütterliche Zurückweisung auslöst, wenn auf die sexuelle Neugierde des Kindes mit Ekel oder Negativität reagiert wird.[2] Die Weichen der Selbst-Unterdrückung weiblicher Sexualität werden also früh gestellt. Bereits dem kleinen Mädchen, das das angenehme Gefühl sexueller Erregtheit an sich entdeckt, wird vermittelt, dass ihr Körper ihr nicht für das eigene, subjektive Vergnügen zur Verfügung stehe. Mit den Einschränkungen ihrer Freiheit ab der Pubertät setzt eine Selbstzensur ein, indem es die Einsicht aus dem alten Gesetzestext, dem Manu Smriti*, vollends verinnerlicht, «dass kein Mann in der Lage ist, eine Frau zu bewachen – der beste Wächter einer Frau ist sie selbst».[3] Die Hemmung, Worte wie Vagina oder Masturbation schamfrei aussprechen zu können, ist ein Hinweis auf diese tief verankerte sexuelle Selbstunterdrückung. Die überwältigende Mehrheit indischer Frauen – sieht man von Teilen der Oberschicht und oberen Mittelschicht einmal ab – ist mit diesem «Gepäck» unterwegs, nämlich dass eine respektable Frau ihre sexuellen Wünsche unsichtbar zu machen hat und sich dementsprechend verhält, auch körperlich: keine provokante Kleidung, nicht zu laut sprechen, keine zu großen Schritte, Zurückhaltung, Häuslichkeit, Gehorsam, nicht in männlicher Begleitung ausgehen.
Dennoch kann und soll der Wandel, der in den Metropolen stattfindet und der in konservative, kleinere Städte überzuschwappen beginnt, nicht geleugnet werden. Jeans und enge Tops an den Colleges und Universitäten werden inzwischen mit dem gleichen Selbstverständnis getragen wie der traditionelle dreiteilige Salvar Kameez. Die gebildete Generation junger Frauen kann sich artikulieren, ist selbständig und körperbewusst. Die Shivanis der Gegenwart wagen den Spagat zwischen elterlichen Vorgaben und der Bewusstwerdung ihrer eigenen Subjektivität. Sie fordern ihre Rechte lauter ein, als ihre Mütter es jemals wagten. Die sogenannte «sexuelle Revolution»[4] in den Metropolen wird interessanterweise vornehmlich von dieser Generation selbstbewusster, gebildeter Mittelschicht-Frauen angetrieben. Sie wollen ihren Platz im öffentlichen Raum, im Berufsleben, in der Sexualität. Zugpferd ist also nicht (nur) die dünne Schicht der indischen Elite – die hat sich, wie Eliten überall auf der Welt, schon immer anderer Freiheiten bedient –, sondern es sind junge Frauen wie Shivani, die in konservativen Familien groß werden, aber genauso wie ihre Brüder geliebt und gefördert werden; die heimlich einen Freund haben, aber eine (semi-)arrangierte Heirat nicht grundsätzlich ablehnen (vgl. Kapitel 3). Frauen, die aus Familien stammen, in denen nicht nur vorehelicher Sex oder Masturbation, sondern bereits das Interesse an sexuellen Fragen mit einem Stigma behaftet ist. Frauen aus Familien, in denen mit großem Stolz auf die klugen, selbstbewussten Töchter geblickt wird, aber auch mit Strenge darauf geachtet wird, dass sie ihre Grenzen nicht überschreiten und damit die Familienehre und ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt beschädigen. Es gehört zum Selbstverständnis dieser aufstrebenden Mittelschicht, dass die Töchter studieren und ihre Eltern ähnliche Erwartungen an sie stellen wie an...