Italien und das Papsttum
Bereits Ende 753 hatte der junge Karl, fast sechsjährig, wir wiesen bereits darauf hin, eine erste Bekanntschaft mit dem römischen Papst gemacht, als er ihn nach Ponthion im Herzen des Frankenreiches zu seinem Vater geleitete. Damit war die Allianz bekräftigt worden, die Italien ins Zentrum des politischen Bewusstseins am Hofe Pippins rückte. Kurz zuvor, im Jahr 751, hatte Pippin, dem Range nach «Fürst» und Hausmaier, ein päpstliches Gutachten genutzt, um die merowingische Dynastie abzulösen. Ihren letzten Schattenkönig, Childerich III., ließ er ins Kloster stecken. Da Karlmann, der Bruder Pippins, schon 747 ins Kloster gegangen war, wurde Pippin im Bündnis mit dem hohen Adel und den Großen der Kirche in Soissons zum König ausgerufen.
In seinem Rechtsgutachten hatte Papst Zacharias, der letzte Grieche auf dem Stuhle Petri, einer Lehrmeinung des heiligen Augustinus folgend, verlautbart, dass Herrschaft und Machtausübung, Namen und Sache, zusammengehen müssten und daher Pippin und nicht dem schwachen Childerich gemäß göttlicher Ordnung Funktion und Titel des Königs zustünden. Karls Biograph, der Mainfranke Einhart, ließ es sich noch nach zwei Generationen angelegen sein, ein Zerrbild der späten merowingischen Königsherrschaft vorzuführen, um auf diese Weise das Unerhörte des damaligen politischen Handelns, das in dem «Verlassen» des angestammten Herrschergeschlechtes lag, zu bemänteln. Immerhin war dieser Schritt nur mit dem Zuspruch der höchsten geistlichen Autorität gewagt worden – eine Hilfe, die dauerhaft und bewusst die neue Königsdynastie an Rom und die Papstkirche band und darüber hinaus das langobardische Italien in das politische Kalkül einbezog.
Die Apenninenhalbinsel war seit der Eroberung Nord- und Teilen Mittel- wie Süditaliens durch die Langobarden im Jahr 568 faktisch dreigeteilt in das namengebende Königreich in der späteren Lombardei mit Pavia als Hauptstadt, dem sich in der Mitte des Stiefels und in Richtung Süden die Herzogtümer Spoleto und Benevent zuordneten, ferner in die noch verbliebenen byzantinischen Herrschaftsgebiete um Neapel und Kalabrien, vor allem Sizilien, und in den Dukat von Rom als Domäne des Papstes, der spätestens seit den Tagen Gregors des Großen (†604) weitgehend die administrativen Kompetenzen des einst von Konstantinopel ernannten Dux übernommen hatte. Zugleich besaß die römische Kirche – zumal im Umkreis der Ewigen Stadt, aber auch im Süden und auf Sizilien – zahlreiche bedeutende Latifundien, sogenannte Patrimonien, sofern sie nicht ihrer Verfügungsgewalt entzogen worden waren, was vielfach zutraf. Auch auf Teile des Exarchats von Ravenna, des letzten Außenpostens von Byzanz in Oberitalien, der 751 in die Hände des Langobardenkönigs Aistulf gefallen war, erhob der Papst Besitz- und Rechtsansprüche. Nach der Einnahme des Exarchats zielte die langobardische Eroberungsstrategie im Gegenzug auf die Unterwerfung Roms.
Dieser Gefahr bewusst, hatte der Papst um fränkischen Beistand nachgesucht, den «Fürst» Pippin, der Vater Karls, mit Rücksicht auf die Stimmung seiner Großen nicht gewähren konnte oder wollte. An Hilfe aus Byzanz war nicht zu denken. Nicht allein, dass sich das Kaiserreich einer doppelten Zangenbewegung seiner Gegner auf dem Balkan und im Vorderen Orient, zu Wasser und zu Lande, erwehren musste, Rom und das Reich am Bosporus hatten sich unter den bilderfeindlichen «syrischen» Kaisern seit 717 theologisch und religionspolitisch stark auseinander bewegt. Der griechische Osten und der lateinische Westen lebten in angespannter Koexistenz, zumal die geistliche Zuständigkeit des römischen Pontifex für Kalabrien, Sizilien und das Illyricum (Dalmatien, insbesondere der Küstensaum an der östlichen Adria) zugunsten des Patriarchen von Konstantinopel beschnitten worden war.
Angesichts dieser latenten Spannung verblieben als Bündnispartner des in seiner politischen Existenz bedrohten Papsttums vor allem die Franken, zumal der König aus der Newcomer-Dynastie. Der demonstrative Zug Stephans II. über den Großen St. Bernhard besiegelte den Pakt. Mit dem Eintritt des jungen Karl in die Geschichte verbindet sich sogleich ein Aspekt, der auf Dauer das Reich nördlich der Alpen an die geistliche Vormacht des Westens südlich des Alpenkamms binden sollte: Der spannungsvolle Dualismus zwischen «regnum» und «sacerdotium», Kaiser und Papst, Staat und Kirche, wurde 754 auf fränkischem Boden begründet. In der Klosterkirche von Saint Denis nahe Paris salbte der Papst am 28. Juli 754 nach alttestamentarischem Vorbild Pippin, seine Söhne Karl und Karlmann zu Königen, Karls Mutter Bertrada wurde durch eine Segnung in die Zeremonie eingebunden. Überdies erhielten die Könige den Titel eines «patricius Romanorum» – Patrizius der Römer, ein der byzantinischen Nomenklatur entlehnter hoher Rang, jetzt mit Bezug auf die Bewohner der Ewigen Stadt, der freilich unklar war und blieb. Zugleich schwur der Heilige Vater die Franken auf Pippin, seine Söhne und deren Erben als alleinige Träger des fränkischen Königtums ein und verbot gar das Verlassen dieses Geschlechts! Als Gegenleistung sicherte der König in einem feierlichen Akt, später von seinem Sohn Karl und seinem Enkel Ludwig modifiziert und bekräftigt, in der sogenannten Pippin’schen Schenkung der römischen Kirche eine beachtliche Ländermasse auf der Apenninenhalbinsel zu: Dem Dukat von Rom sollte der Exarchat von Ravenna (mit Venetien und Istrien) hinzugefügt werden und der fiktiven Luna-Monselice-Linie folgend quer durch Oberitalien Teile des langobardischen Königreichs, vielleicht auch die nach Süden sich anschließenden langobardischen Herzogtümer. Möglicherweise war auch nur von den entfremdeten Patrimonien der römischen Kirche in diesen Regionen die Rede. Die Urkunde von 754 ist ebenso verloren wie die Neuausfertigungen von 774 und 817, sodass über Art und Umfang der Schenkungen Ungewissheit bleibt. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass Karl nach der militärischen Eroberung des Langobardenreiches 773/74, vertraut mit der politischen Geographie Italiens und seinen Herrschaftsstrukturen, beachtliche Abstriche am ursprünglichen Übergabekonzept gemacht haben dürfte, um die fränkische Vorherrschaft in Nord- und Mittelitalien nicht zu gefährden. Wie dem auch sei, 754, in Zeiten von Karls Vater, schlug jedenfalls die Geburtsstunde des nachmaligen Kirchenstaates, der im 12. Jahrhundert und nochmals im Zeitalter der Renaissance seine größte Ausdehnung erfahren hat. Zwar schrumpfte dieser als Folge der Einigung Italiens im 19. Jahrhundert und nach den Lateranverträgen von 1929 zu einem winzigen Staatsgebilde – dem Vatikanstaat – zusammen, sichert dem Pontifex maximus aber bis heute eine unangefochtene Stellung als Souverän und absoluter Monarch. Diese in ihrer historischen Auswirkung damals unabsehbare Überlassung von Besitzungen und Rechten wurde in Rom, wohl in den achtziger Jahren des 8. Jahrhunderts, durch ein weiteres Dokument untermauert, das als bedeutendste Fälschung der gesamten europäischen Geschichte gilt: die sogenannte Konstantinische Schenkung. In einem aus mehreren Teilen bestehenden Schriftstück überlässt danach Konstantin I., der Große (†337), der erste christliche Kaiser, Papst Silvester I. aus Dankbarkeit für die Heilung von einer tödlichen Krankheit die Herrschaft über den «Westen» (Hesperien) mitsamt den Inseln und überträgt ihm zugleich die kaiserlichen Insignien als Zeichen imperialer Gewalt. Ferner verzichtet der Kaiser aus Ehrfurcht vor Petrus und seinen Nachfolgern, den Päpsten, auf jedwede Herrschaftsausübung in Rom, übergibt ihm die kaiserliche Residenz, den Lateranpalast, zieht sich selbst in seine Neugründung am Bosporus, das Neue Rom, Konstantinopel, zurück. Dieser Text bot in seinen allgemein gehaltenen Gebietszuweisungen eine rechtliche Grundlage für sehr weitgehende päpstliche Ansprüche, auch wenn ihm offenkundig als Geburtsfehler die Ableitung weltlicher Rechte der römischen Kirche aus kaiserlicher Verleihung anhing. Mit ihr ließ sich indessen die Doppelfunktion des Papstes als oberster Priester und kaisergleicher Landesherr begründen.
Karl wuchs in jenen Jahren in einem Umfeld heran, das aus älterer fränkischer Enge jetzt «europäische» Horizonte aufzeigte und zudem seit der Spätzeit Pippins bereits über diplomatische Kontakte zum Osten – Byzanz und Damaskus/Bagdad – verfügte. Fundament der alpenübergreifenden fränkischen Politik blieb auf Dauer das unverbrüchliche Bündnis des Königs mit dem Nachfolger Petri. Fand das Papsttum in seinen vielfachen Bedrängnissen wirkungsvolle, auch militärische Hilfe gegen seine langobardischen Widersacher, so erhielt das Königtum der Karolinger, dies der spätere Name der Dynastie nach ihrem bedeutendsten Vertreter, eine religiös-geistliche Begründung durch päpstliche Salbung und Gevatternschaft mit den Nachfolgern des Apostelfürsten. Als Herrscher «von Gottes Gnaden» – der offizielle Titel seit 768 – wussten sich die neuen Könige über ihre merowingischen Vorgänger spirituell hinausgehoben: Zum gleichsam ererbten Charisma der Königsfamilie aus grauer Vorzeit, dem magischen «Königsheil» germanisch-fränkischer Herkunft, trat der religiös bestimmte Charakter des «christus domini», des Gesalbten des Herrn, der zugleich die sakrale Aura des Alten Testaments und seiner von Gott erwählten Könige, vor allem Davids und Salomons, hervorrief. Die Königsherrschaft erhielt damit eine zusätzliche, geistliche Dimension. Diese Sakralisierung von Herrschaft fand bereits unter Karl ihren sichtbaren Ausdruck in der...