2. Das Land, wo weder Milch noch Honig fließen
Als ich am Morgen des 1. April gegen neun Uhr erwache, fällt frühlingshaftes Licht durch die schmalen Schlitze der Rollläden. Während die Sonne weiße Streifen an die aprikosenfarbene Wand zeichnet, erscheint es mir wie ein ausgezeichneter Aprilscherz. Ausgerechnet ich bin jetzt Veganer? Einige Momente lache ich vergnügt vor mich hin, bis ich spüre, wie mich zwei vertraute rehbraune Augen unter feinen, geschwungenen Brauen sanft anschauen. Vor Glück wird mir warm und wohlig. Ich erkenne Victoria mit den grün gefärbten Haaren und den herzförmigen, halb geöffneten Lippen. Ihr Kopf ruht ganz nah auf dem Kissen neben mir. Ist das wirklich wahr? Mir dämmert, dass ich vor dem Lichtlöschen in der Nacht, als sich mein akut vollgestopfter Bauch ein wenig beruhigt hatte, noch die sechsseitige Foto- und Interviewstrecke mit Victoria im veganmagazin studiert habe. Ich las dort lauter berührende Dinge aus ihrem Mund wie «Ich mag Grün. Es ist eine schöne Farbe. Die Farbe der Hoffnung» oder «Derzeit schreibe ich an meiner Abschlussarbeit im Bereich Anglistik zum Thema Tierethik».
Von Victoria kann ich gewiss kein erlösendes «April, April!» erwarten – im Gegenteil. Meine Stirn wird unversehens heiß, während ich langsam begreife, dass die Sache mit dem Veganen offenbar nun doch vollkommen ernst ist.
«Wollen wir aufstehen und – frühstücken?», rufe ich, doch mein Körper tut sich schwer, seinen Dienst aufzunehmen. Nicht einmal Victorias Liebreiz scheint ihm Anlass genug, sich auch nur ein kleines Stück zu bewegen. Offenkundig betrachtet er die Aussicht auf unser neues Leben mit ausnehmendem Misstrauen und stellt sich lieber tot.
«Es sind vegane Damen anwesend», fauche ich ihn durch gepresste Lippen an. «Jetzt aber raus aus den Federn, Freundchen!»
In meinem Fall sind es Gott sei Dank keine richtigen Federn – also keine vom Geflügel, die für Hardcore-Veganer gleichfalls tabu sind. Bei mir hat es damit aber nichts zu tun. Schon früh im Leben habe ich eine brennende Leidenschaft für Allergien entwickelt, sodass ich mittlerweile eine recht erlesene Kollektion davon besitze. Deshalb benutze ich ausnahmslos Bettdecken, die mit einem Baumwoll-Polyester-Gemisch gefüllt sind und Produktnamen tragen, in die die Silbe «med» eingewoben ist wie in einen vertrauenerweckenden Arztnamen.
Da ich meinen Körper nicht immer so fürsorglich behandele, ist unser Verhältnis ein bisschen gestört. Jetzt zum Beispiel verkrallt, ja verkantet er sich regelrecht – und beeindruckend wirksam – in der Matratze, macht sich bleischwer, lässt zu diesem Zweck sogar ein wenig Luft ab.
«Mein lieber Kollege», sage ich empört, «dann muss ich dich wohl zum Dienstantritt zwingen!»
Nach einer kurzen Rangelei gelingt es mir, ihn mit schierer Willenskraft weit genug über die Bettkante zu hieven, bis er keuchend neben mir steht. Durch heftige Magenstiche signalisiert er mir seinen Unmut und vermutlich auch, dass ihm die tierische Kost des gestrigen Abends nicht bekommen ist. Fast ein halber Streichelzoo – das hätte Victoria ganz bestimmt nicht gefallen.
«Ab heute schleuse ich nur noch pflanzliches Material durch dich hindurch», kündige ich grimmig an, während wir gemeinsam in die Küche wanken. «Das wird dich mit einer ganz neuen Energie und Daseinsfreude versorgen.»
Er schweigt beleidigt und widmet sich einer tausendmal durchgespielten Bewegungsroutine: der Zubereitung von Kaffee, den er, wie ich manchmal glaube, noch entschieden nötiger braucht als ich. Als er die Milch zum Aufschäumen wie gewohnt aus dem Kühlschrank fingern will, greift er allerdings ins Leere. Während er mir mit der Hand theatralisch an die Stirn klapst, fühle ich mich gezwungen, ihm von einem erheblichen Versäumnis meinerseits zu beichten.
«Wegen des ganzen Stresses auf der Arbeit bin ich leider nicht dazu gekommen, mich ausreichend für diese Herausforderung zu wappnen», erkläre ich verdrossen und lasse ihn kühl mit den Schultern zucken. «Kurz: Ich habe vergessen, mich um Sojamilch zu kümmern. Und Brot gibt es auch keins.»
Mein Körper antwortet mit einer pompösen Kontraktion der Magenwände, die daraufhin ein unmissverständliches Knurren und Brummen von sich geben. Damit er gar nicht erst auf die Idee kommt, mich weiter mit seiner vorwurfsvollen Laune zu nerven, stelle ich ihn kurzerhand auf die Digitalwaage, die ich in einer Küchenecke aufbewahre. So kriege ich ihn eigentlich jederzeit verlässlich klein. Was wir dort erblicken, wirft uns jedoch beide aus der Bahn: 77,8 Kilogramm! Er zieht instinktiv den Bauch ein, vielleicht auch, um mir einen besseren Blick auf das Display zu ermöglichen. Mir wird für einen Moment schwarz vor Augen.
«Fast achtundsiebzig Kilo?», rufe ich verzweifelt. «So viel hast du ja noch nie gewogen!»
Mein Körper schlägt ohne Vorwarnung zurück, indem er Blut in meine Gesichtshaut pumpt. Beschämt muss ich an die mehrstündige Fressorgie der vergangenen Nacht denken.
«Na gut», gestehe ich zähneknirschend. «So viel haben wir noch nie gewogen.»
Ohne mein grandioses Scheitern in den Disziplinen Motivation, Zielsetzung, Planverwirklichung und Kontrolle wäre diese gewichtige Tatsache überhaupt nicht zu erklären. Das Einzige, was mich tröstet, ist der Gedanke, dass es nach einem üppigen englischen Frühstück mit Rührei, Speck, Würstchen und gebackenen Bohnen sogar zwei oder drei Kilo mehr gewesen wären.
Zögernd willigt mein Körper in den angebotenen Waffenstillstand ein. Schließlich haben wir in unseren Fettreserven einen gemeinsamen Feind, besitzen einen vagen Plan, um sie loszuwerden, und brauchen jetzt vor allem endlich Kaffee, um auf Touren zu kommen.
Ganz ohne Milch schmeckt die Tasse verlängerter Espresso allerdings erwartbar bitter und böse, mit einem Korpus von zähem Altöl sowie Noten von Flugrost und Braunkohle. Ich muss heute unbedingt daran denken, Sojamilch zu kaufen. Von ihr weiß ich, dass sie der preiswerte Standard unter den Milchersatzgetränken ist. Daneben trinken wir Veganer den Kühen zuliebe anscheinend auch viel Reismilch, Hafermilch und Mandelmilch.
Zunächst werde ich mir draußen aber schleunigst ein Brötchen besorgen, damit ich eine Unterlage für meinen ersten pflanzlichen Brotaufstrich habe. Am Montag habe ich nämlich mit Wohlgefallen entdeckt, dass Aldi im Kühlregal neuerdings Hummus in verschiedenen Sorten anbietet. Diese orientalische Creme aus Kichererbsen, Sesampaste, Olivenöl, Zitrone und verschiedenen Gewürzen stellt wegen ihres hohen Eiweißgehalts, ihres Vitamin- und Mineralstoffreichtums sowie ihrer cremigen Konsistenz eine der Säulen des veganen Lebens dar und ist selbst beim Discounter mit einem Vegan-Label gekennzeichnet.
Im Büro kann ich mich nicht richtig auf die Arbeit konzentrieren, weil mich das Mysterium der Ernährung so gefangen nimmt. Mein Motor wird mit dem heutigen Tag auf einen völlig anderen Treibstoff umgestellt, den Biosprit oder das E10 der Ernährung. Was aber bedeutet das für ihn? Muss er sich erst warmlaufen, oder kann ich innerorts gleich auf Tempo fünfzig beschleunigen? Wird er zwischendurch stottern oder irgendwann mit voll Karacho auf der Überholspur alle anderen hinter sich lassen? Was ist, wenn er gelegentlich überdreht, vielleicht gar unerfreulich verstopft? Und riskiere ich langfristig womöglich einen kapitalen Schaden, in dessen Folge ich mit geöffneter, rauchender Motorhaube irgendwo in der Walachei strande und nichts zu lesen dabeihabe?
Zum Glück bin ich in der Redaktion eines berüchtigten Satiremagazins beschäftigt. Da fällt es nicht auf, wenn man wie die anderen Kollegen einfach nur faul vor dem Computer sitzt und seine E-Mail-Bekanntschaften wie auch seine Neurosen pflegt. Oder eben, wie ich heute, das Internet nach grundsätzlichen Informationen über Ernährung durchkämmt.
Leider muss ich dabei naturgemäß die ganze Zeit ans Essen denken, was meinen Körper dazu bringt, sich erneut mit knurrendem Magen bemerkbar zu machen.
«Schluss mit der Quengelei», weise ich ihn zart zurecht. «Die Zeit des Verzichts hat begonnen, du gewöhnst dich besser daran.»
Statt einer Antwort lässt mein Magen ein mitleiderregendes Gurgeln und Quietschen vernehmen.
«Du kriegst dein Frühstück ja», sage ich hastig. «Aber eben erst etwas später, wenn wir uns schlaugemacht haben, verstanden?»
Er versteht und zeigt sich ausnahmsweise zur Kooperation bereit.
Ich verstehe in der Zwischenzeit beim Surfen im Netz Folgendes: Der größte Teil dessen, was wir essen, ist Nahrung. Der Rest besteht aus umstrittenen Zusatzstoffen, Spuren von Giften und Radioaktivität sowie den Rückständen von Umverpackungen, die versehentlich im Essen landen. Das passiert öfter, als man denkt; mir zum Beispiel erst letzte Woche, als ich in einem weichen Mundvoll Spinat erschrocken auf etwas Pappigem herumkaute.
Über diese Gefahr machen sich die meisten Menschen aber keine Gedanken. Das bisschen klebengebliebene Pappe am hartgefrorenen Block Tiefkühlspinat wird schon nicht so schlimm sein, wiegeln sie ab. Auch ein Schnipsel Zellophan im Hackfleisch habe schließlich noch keinem geschadet, und überhaupt: Der eigene Großvater wurde immerhin zweiundneunzig, obwohl er zeit seines Lebens die Liste mit den E-Nummern rauf- und runtergegessen und erst mit einundneunzig aufgehört hatte zu rauchen.
Um die eigentliche Ernährung allerdings scheinen sich die Menschen seit alters jede Menge Gedanken zu machen. Mehr noch: Sie scheinen davon regelrecht besessen, was man auch daran merkt, dass es...