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E-Book

Afrikanische Philologie

AutorRobert Stockhammer
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl310 Seiten
ISBN9783518743041
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR


<p>Robert Stockhammer ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU München.</p>

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Leseprobe

9Einleitung


»als ob allenthalben Afrika wäre«

Johann Gottfried Herder

»›Ah, you were like the ancient Library of Alexandria once on that shore, demanding the loan of every book from every traveler so it might be copied for the library.‹«[1] Dies sagt in Daoud Haris The Translator. A Memoir ein libyscher Student zu dem Ich-Erzähler, der sich von ihm ständig Bücher ausleiht. Genauso habe, an derselben nordafrikanischen Küste, die Bibliothek von Alexandria alle Reisenden dazu genötigt, jedes Buch, das sie mit sich führten, auszuleihen, um eine Kopie davon anzufertigen. Denn der Auftrag der größten Bibliothek des Altertums bestand darin, »soweit irgend möglich, alle Bücher der Welt zu sammeln«.[2] Daoud Hari braucht diese Bücher nicht zuletzt zur Ausbildung der Kompetenzen, die seiner Arbeit zugrunde liegen: Er wird als Dolmetscher unter anderem an einer Untersuchung der Gewaltereignisse in der westsudanesischen Provinz Darfur arbeiten und lernt das Englische, nach seinem eigenen Bericht, vor allem beim Lesen von Treasure Island und Oliver Twist.

Afrika ist kein schriftloser Kontinent. Die Zeichensysteme der Ägypter gehören zu den ältesten der Welt. Entlang der südlichen Mittelmeerküste verbreiteten sich schon vor Christi Geburt das phönizische sowie viele daraus abgeleitete Alphabete: diejenigen Buchstaben, die für die Notation des Hebräischen, des Griechischen und des Lateinischen verwendet wurden. Und in Alexandria bildete sich im dritten vorchristlichen Jahrhundert die Philologie heraus, als Gemeinschaftswerk von Bibliothekaren, Übersetzern, Editoren, Kommentatoren, Grammatikern, Dichtern und Geographen – wobei viele Mitglieder dieses Wissenschaftskollegs mehre10re dieser Funktionen in Personalunion besetzten. In der Folgezeit haben die drei großen monotheistischen Religionen, die sich alle auf Heilige Schriften stützen, um deren Auslegung nicht zuletzt an der nordafrikanischen Küste gerungen. Auch die umfassendste spätantike Enzyklopädie der Philologie, die Hochzeit von Mercurius und Philologia von Martianus Capella, wurde wahrscheinlich dort verfasst, vielleicht in Karthago, als Augustinus im nicht sehr weit entfernten Hippo Regius als Bischof tätig war.[3] Und noch Michel Foucaults Methodenschrift zur Archäologie des europäischen Wissens entstand am Felsen von Karthago.[4]

Dies alles zähle aber, mag man einwenden, zu Nordafrika, zum Maghreb und Ägypten, sei also durch die Sahara vom eigentlichen oder ›Schwarz-Afrika‹ getrennt – und dort habe sich die lateinische Schrift erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert halbwegs flächendeckend verbreitet. Dieser Einwand ist jedoch, zum einen, nur halb richtig. Zwar gibt es tatsächlich nur spärliche Indizien für Schriftsysteme südlich der Sahara, die in die Zeit vor der Ankunft von Arabern und Europäern zurückreichen. Doch drangen die Nachfahren des phönizischen Alphabets schon früh auch in südlichere Bereiche Afrikas vor. Seit dem 3. nachchristlichen Jahrhundert wurde in Äthiopien eine Silbenschrift zur Notation des Ge’ez entwickelt. Die arabische Schrift gelangte mit der Verbreitung des Islam schon während des 8. Jahrhunderts im Südosten bis Sansibar, etwas später im Westen nach Māli. In Timbuktu und Umgebung entstanden seit dem 13. Jahrhundert große Sammlungen von Manuskripten in arabischer Schrift, die auch zur Notation einiger Sprachen afrikanischer Herkunft verwendet wurde. Schon im frühen 16. Jahrhundert schrieb ein kongolesischer Herrscher Briefe an den Papst auf Portugiesisch.

Zum anderen gibt es gute Gründe, die Unterscheidung zwischen Nord- und Schwarzafrika nicht einfach vorauszusetzen, sondern zunächst einmal, scheinbar naiv, vom Afrika der Schulgeographie auszugehen, dem beispielsweise auch politische und Sport-Organisationen wie die Afrikanische Union (AU) und die Confédération Africaine de Football (CAF) entsprechen: Mu‘ammar al-Qaḏḏāfī 11war 2009/2010 Präsident der Afrikanischen Union; Ägypten gewann schon siebenmal die Afrika-Meisterschaften im Fußball. In bestimmten Zusammenhängen mag es funktional sein, kulturelle Unterschiede zwischen dem mittelmeerischen und dem subsaharischen Afrika hervorzuheben. Würde man diese Unterscheidung jedoch als selbstverständlich voraussetzen, ließe sich nicht mehr beobachten, wann sie mit welchen Absichten getroffen wird. So beruhen etwa Hegels berüchtigte und viel zitierte Aussagen über Afrika als geschichtslosem Kontinent darauf, dass er zuvor das »europäische« (Nord-)Afrika vom »eigentlichen« (Schwarz-)Afrika ausgenommen und damit die Außengrenze seiner Weltgeschichte in den afrikanischen Kontinent verlegt hat.[5] In mindestens zwei sehr gewaltsamen innerafrikanischen Auseinandersetzungen (in Ruanda und Darfur) wurde über eine Million Menschen unter Berufung auf die behauptete Möglichkeit ermordet, zwischen richtig-schwarzen und nicht-ganz-schwarzen Afrikanern zu unterscheiden.

Ebenso falsch wäre es jedoch auch, die schulgeographischen Usancen unbefragt beizubehalten und die Grenzen Afrikas als ein für alle Mal gegebene vorauszusetzen. »Afrika passim«, lautet ein Eintrag im Register zur deutschen Übersetzung von Fernand Braudels monumentalem Buch über das Mittelmeer, also: »Afrika allenthalben«, vielleicht auch: »Afrika weit und breit herum zerstreut«. Bereits Herodot bekannte, dass er eine Grenze zwischen Asíē und Libýē (dem griechischen Wort für einen größeren Teil des erst später Africa genannten Kontinents) »mit eindeutiger Bestimmtheit nicht angeben« könne.[6] Eine scharfe Grenze zu Europa wäre nicht leichter zu ziehen: Der EU-Mitgliedsstaat Malta etwa liegt auf der afrikanischen Kontinentalplatte. »Eigentlich müßte man«, mit Fernand Braudel, »von hundert Grenzen zugleich sprechen.«[7] Unter diesen Grenzen gibt es keine selbstverständlichen, allenfalls ältere und jüngere, durchlässigere und weniger durchlässige oder auch solche, die in verschiedenen Richtungen verschieden durchlässig sind. Permanent werden Grenzen in Frage gestellt, permanent neue gezogen. Spanien wurde, sei es aus klimatischen Gründen, sei es aufgrund seiner langen Zugehörigkeit zum Bereich des Islams, das 12»europäische Afrika« genannt, also mit dem gleichen Ausdruck bezeichnet, den Hegel für den Maghreb verwendete. Portugal und Spanien eroberten schon im 15. Jahrhundert zwei kleine Enklaven auf dem afrikanischen Festland, Ceuta und Melilla im heutigen Marokko, wo derzeit die wohl bestgesicherten Außengrenzen der EU liegen.

In Prozessen des Miteinander-Verkehrens (wie Herodot es nennt) begegnen einander vielleicht anfangs – in heuristischer Vereinfachung – distinkte Gruppen, von denen jeweils nur eine afrikanisch genannt werden kann: Griechen und Ägypter, Araber und Zaghawa, Portugiesen und Kongolesen … Sehr bald schon transformiert jedoch der Verkehr diese Gruppen in einem Maße, dass die Zurechnung von Einzelnen zu ihnen immer schwieriger wird. Sind Homer und einige der wichtigsten griechischen Götter nicht eigentlich Ägypter? Stammen nicht auch die Kolcher aus Ägypten? Ist Ägypten aber nicht seinerseits eine äthiopische Kolonie? Kommen gar die ruandischen Tutsi aus Äthiopien? Wieso bilden ausgerechnet in ›Schwarzland‹ (dem Sudan) ›Schwarze‹ nur eine Minderheit – und was heißt hier schwarz? Unterscheiden sich noch heute die Nachfahren der im 19. Jahrhundert nach Liberia remigrierten ehemaligen Sklaven, deren Vorfahren in früheren Jahrhunderten nach Amerika transportiert wurden, von den Nachfahren derjenigen, deren Vorfahren ununterbrochen auf dem Territorium des heutigen Liberia lebten?

Gerade auch unter den Autoren von Texten ist eine dichotomische Unterscheidung von Afrikanern und Nicht-Afrikanern nur für idealtypische Fälle passgenau. So waren etwa Amos Tutuola und Ahmadou Kourouma Schriftsteller, die überwiegend in Afrika schrieben und deshalb einigermaßen eindeutig als Afrikaner bezeichnet werden können; die Impressions d’Afrique von Raymond Roussel, der angeblich am liebsten in einem Auto mit zugezogenen Vorhängen reiste, wird man hingegen als Fremdbeschreibung rubrizieren. Migrationen von Menschen, Sprachen und Schriften haben jedoch schon seit langem die Opposition von Eigen- und Fremdbeschreibung unterlaufen. Wer ist das Subjekt der vielsprachigen und hochgradig selbstreflexiven Forschungen in Herodots Ägypten-Bericht: der griechische Forscher Herodot oder doch seine ägyptischen Gewährsleute selbst? Waren Kallimachos und Eratosthenes nicht doch Griechen, wenngleich auf nordafrikanischem 13Territorium? Hat der Punier Augustinus nicht schon mit seiner Unterweisung in die Disziplinen des ›europäischen‹ triviums das Recht verwirkt, als jener ›afrikanische Philosoph‹ zu gelten, als der er gelegentlich bezeichnet wird? Welche Rolle spielt seine algerische Herkunft für die Philologie Jacques Derridas? Muss J. M. Coetzee nicht doppelt aus Afrika ausgeklammert werden, weil er erstens Nachfahre holländischer Einwanderer – also bloß Afrikaner im Sinne dieses englischen Wortes (dem das deutsche Afrikaaner entspricht) – und zweitens inzwischen australischer Staatsbürger ist? Ja, sogar die Texte Amos Tutuolas oder Ahmadou Kouroumas beruhen auf dem Medium einst aus Europa importierter Sprachen und deren Fixierung in lateinischer Alphabetschrift; und ihre Wirkung wäre eine andere gewesen, wären diese Texte nicht in europäischen Verlagen erschienen. Das Adjektiv afrikanisch bezeichnet daher im Verlauf dieses Buches nur ausnahmsweise gesicherte...

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