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E-Book

Anleitung für eine Revolution

AutorNadja Tolokonnikowa
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783446253230
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Mit zehn Jahren wird Nadja Tolokonnikowa Feministin, mit sechzehn Philosophiestudentin, mit einundzwanzig Mitbegründerin der Band Pussy Riot. Mit ihrem Punk-Gebet macht die Gruppe die Welt 2012 auf die Verquickung von Kirche und Staatsmacht in Russland aufmerksam. Als Putins Richter sie verurteilen, nutzt sie die Bühne des Gerichts für eine Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte. Und während ihr Land sich der autokratischen Herrschaft ergibt, beharren sie und ihre Mitstreiterinnen darauf, dass Widerstand möglich ist. 'Anleitung für eine Revolution' erzählt Nadja Tolokonnikowas Geschichte, und zugleich ist es ihr Manifest. Es handelt vom Kampf gegen ein System, in dem nur frei ist, wer sich anpasst.

Nadeschda Tolokonnikowa (geboren 1989) wuchs in Norilsk auf, einem der am schlimmsten umweltbelasteten Orte der Welt. Mit sechzehn Jahren begann sie ihr Philosophiestudium in Moskau, wo sie sich der künstlerischen Avantgardeszene anschloss und die Bewegung Pussy Riot mitbegründete. Nach dem 'Punk-Gebet', mit dem Pussy Riot die enge Verflechtung von Kirche und Staat in Russland kritisierten, wurde sie 2012 zu zwei Jahren Haft im Straflager verurteilt. Seit ihrer Freilassung engagiert sich die Politaktivistin für menschlichere Bedingungen im russischen Strafvollzug. Nadeschda lebt mit ihrem Mann und ihrer siebenjährigen Tochter in Moskau.

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Leseprobe

1
WIE MAN OHNE PHALLUS
IN EINER PHALLOZENTRISCHEN
WELT ÜBERLEBT


11.


Empowering people.

»Die Sorokina pisst, als hätte sie einen Schwanz«, raunen die Näherinnen der mordwinischen Strafkolonie einander bei der Arbeit zu.

Ich wusste von Sorokina nur, dass sie sich durch die halbe Kolonie gefickt hat. In mir ruft so etwas eine Flut übermenschlicher Zärtlichkeit hervor.

»Ja?«

»Ja.«

12.


Erleuchtung kommt nicht einfach so. Aber du kannst dein Bündel schnüren und dich auf den Weg machen in der Hoffnung auf Entdeckungen, Abenteuer und Schätze.

Und wenn die Erleuchtung über dich gekommen ist, gib dich ihr hin.

»Ninka kommt zu mir und sagt: ›Komm, wollen wir zusammen fallen?‹«, erzählt mir Natascha überschwänglich über Nina Sorokina, die Lesbe Nummer 1 in unserem Lager.

Ich nähe und sitze dabei gegenüber von Natascha – geschwätzig, aalglatt und eifrig ist sie. Die schnellste Näherin am Band. Alle gehen gerne mit Natascha in die Banja, denn sie ist dünn und hat dabei große Brüste. Wie auf den Bildchen. Alle schauen und staunen: Wie, gibt es das echt auch in Wirklichkeit, wie auf den Bildchen?

»›Fallen?‹«, frage ich nach.

»Fallen, fallen. Wie? Weißt du etwa nicht, was das heißt? Zum Ficken hat sie mich aufgefordert. Im Kabuff.«

»Haha, cool ist die, eure Ninka. Und du, hast du etwa abgelehnt?«

»Natürlich.«

»Scheiße noch mal, wieso denn?«

13.


You have questions. We have Pussy Riot.

»Die Sorokina darf sich nicht in die Finger nähen.«

»Warum nicht?«

»Weil die Hand ihr wichtigster Körperteil ist.«

»Ja?«

»Klar, die ist ihr Schwanz.«

Der hat’s euch wohl angetan, liebe Frauen, dieser Schwanz. Macht es euch echt so viel Spaß, ihn selbst dort zu sehen, wo keiner ist?

Ihr sagt: den Phallozentrismus dekonstruieren. Von wegen. Völlig überdekonstruiert.

14.


Lies keine Nachrichten, mach sie.

Zu dem Vortrag über feministischen Punk am 30. September 2011, mit dem die Geschichte der Gruppe Pussy Riot begann, druckten wir eine Zwei-Meter-Kopie von Lynda Benglis’ Artforum Advertisement1 aus.

Die Arbeit von Benglis ist ein bizarrer Mix prälogischer, irrationaler, totemischer Stereotypen: 1) Frau, weibliche Sexualität, Mutter-Frau, Brust, Amme und 2) Phallus, Phallozentrismus, männliches Prinzip, Härte, Druck, Aggressivität.

Das Thema der Verbindung von weiblicher und männlicher Identität in einem Menschen, dem Benglis in ihrer Arbeit nachgeht, ist genau das, was mich Jahr um Jahr dazu zwingt, Gender-Theorie zu betreiben, Traditionen des Feminismus zu erforschen, Platons Symposion zu lesen und ein androgynes Wesen zu sein.

15.


»Wenn du Schilderungen von Liebe als Krankheit liest, denkst du: ›Fuck, was für rosa Rotz mit Mayonnaise, was heißt hier Krankheit, das ist doch ganz normale Ergebenheit, die aus einer Mischung unterschiedlicher Wünsche resultiert.‹ Aber wenn du zwei Wochen ununterbrochen an dieser Krankheit leidest, dann wird dir klar, wie sehr einen dieser Scheiß in Beschlag nimmt.«

(Petja Wersilow, Politiker und Künstler)

Der Scheiß verwandelt dich. Hege ihn.

Sorokina nimmt zwei Zigaretten aus der Packung, steckt beide zwischen die Lippen und zündet sie an. Hält mir eine angesteckt hin, die zweite behält sie. Sie hat ein graues Daunentuch mit voluminösem Flaum um und ähnelt damit wegen ihrer großen Nase einem Adler, der noch nicht flügge ist. Das Tuch hat Nina von einer Frau, die in sie verliebt ist. Ich nenne sie nicht Nina: Die, die ich will, verlieren für mich ihren Namen.

Neun Uhr abends, in den Dörfern Mordwiniens wird es Nacht. Keine Kühe, die muhen. Keine Pferdewagen mit Sauerkrautfässern.

Gegenüber bei den Mechanikern brennt das Licht. Dorthin schickt man die inhaftierten Frauen, wenn es diese sehr stark nach körperlicher Nähe verlangt. »Es wird Zeit für die Mechaniker«, heißt es dann. Vier Kerle arbeiten da, alle vier Alkoholiker. Der Gang zum Mechaniker endet für so manche mit einer Entbindung im mordwinischen Lagerkrankenhaus Baraschewo.

Rund um die Nähhallen ist es leer. Keine Menschenseele. Zu dieser Uhrzeit darf man die Halle nicht verlassen. Wir haben sie verlassen. Spazieren, rauchen.

Sorokina lebt an meiner Seite auf. Frauen zu verführen und sich in sie zu verlieben – das ist das Lebenswerte, was sie in ihren neun Jahren hier in der Kolonie gefunden hat. Und ich lerne begeistert und dankbar ihre Methode, Tod und Langeweile zu überwinden.

Hinter dem schlappen Lagerzaun aus verfaultem Holz liegen schwarzer Wald und Sumpf. Neun Jahre. Neun Jahre hinter einem verfaulten Zaun.

Aber mir ist hinter diesem Zaun gerade nicht langweilig.

16.


»Seiner Kenntnis nach habe Tolokonnikowa seine Tochter in die sogenannte feministische Bewegung hineingezogen. Aus gegebenem Anlass habe er mehrmals ausdrücklich die Idee des Feminismus in Russland verurteilt, weil diese Bewegung seiner Meinung nach nicht der russischen Zivilisation entspreche, die sich von der westlichen unterscheide.«

(aus dem Urteil im Verfahren gegen Pussy Riot)

Think big.

»Warum hältst du mir eigentlich die Tür auf?«, stichele ich, als Sorokina und ich aus der Halle in das feuchte Märzschneetreiben treten. »Wann hast du zum ersten Mal beschlossen, dass du Frauen die Tür aufhalten wirst?«

»Weiß nicht mehr«, winkt sie ab.

Das Ergebnis meiner Gender-Diskussionen mit Sorokina ist so dürftig, wie wenn du einen Mann beim ersten Date fragst, warum verdammt noch mal er Blumen angeschleppt hat. Er hat sie angeschleppt und gut is. Hätte auch keine anschleppen können. Ist ihm doch scheißegal.

17.


»Jegliche Pionierarbeit ist theatralisch.«

(Alexandra Kollontai, die leidenschaftlichste Feministin der frühen Sowjetzeit)

Lebe so, dass dein Leben ein Filmplot werden könnte.

Ich werde in die operative Aufsichtsabteilung zitiert.

»Du hast Zeitschriften geschickt bekommen, aber ich gebe sie dir nicht.«

»Warum nicht?«

»Es handelt sich um Homosexuellenpropaganda«, antwortet die Aufsichtsfrau scharf, kritzelt auf das Regenbogen-Cover meiner Zeitschrift »S C H W U C H T E L N« und legt sie zur Seite. »Tolokonnikowa, ist dir eigentlich bewusst, dass im Lager nicht nur die Theorie von Homosexualität, sondern auch die Praxis verboten ist?«

Die Dialektik von Theorie und Praxis.

18.


Im Iran sind 27 Prozent der Parlamentsmitglieder Frauen, in Russland 11 Prozent. Wir liegen nur vor den ärmsten Ländern Afrikas und vor der arabischen Welt, in der gesetzliche und religiöse Verbote politischer oder gesellschaftlicher Tätigkeit von Frauen gelten. Zudem zeigen Umfragen, dass jeder vierte Bürger Russlands denkt, in der Politik sei kein Platz für Frauen oder dass man ihre Zahl senken sollte.

No fun, baby, no fun.

Der zweite Tag in der Werkhalle. Slata bringt mir Nähen bei.

Slata sitzt seit acht Jahren. Kam als Jugendliche. Im Lager wurde sie zum Jungen. Talent, Veranlagung, aufgewachsen auf der Straße – ein Wildfang, der durch Oberfenster in Wohnungen einstieg. Schwarze Haare, Raucherstimme, lange Wimpern. Beine, Grazie, Größe, Figur. Und – ohne jede weibliche Affektiertheit: ein jungenhafter, aggressiver Drang und die Fähigkeit, sich zu nehmen, was man will.

Slata ist so geworden, wie ich immer sein wollte, aber nicht konnte.

19.


Mit dem Aufstellen von Regeln, nach denen ihr heute einvernehmlich in einer Bar Mädchen aufreißt (und sie euch), hat sich George Sand ihr Leben lang beschäftigt. Und ist dabei erstickt unter einer Lawine von Vorwürfen wegen Unmoral. Das war ein verflucht gutes Leben, denn Leben beginnt da, wo es Kampf und Überwindung gibt.

Expanding possibilities.

Wir trinken löslichen Kaffee – den stärksten löslichen Kaffee, der mir je untergekommen ist. Kaffee so stark wie Absinth. Später lerne ich im Lager, selbst solchen Kaffee zu machen – jeden Morgen. Slata teilt mit mir ihre leckeren Schokoriegel, und ich ziehe aus den Socken Bounty und Snickers, die ich trotz Filzen durchs Tor des Industriegeländes geschmuggelt habe.

»Du lernst schnell.« Slata lacht. Sie schämt sich für ihre Zähne, wegen der Lücken, und möchte sich neue machen lassen, wenn sie rauskommt. Aber ich finde, dass die Lücken ihre Verwegenheit unterstreichen, und das ist gut.

Ich rede wenig, habe Angst vor meinen Worten. Die sind für ein Gespräch mit Slata irgendwie zu glatt, zu gebildet. Meine Sprache und ihre – das ist wie totes Latein im Vergleich zu lebendigem Italienisch. Slata wird, wenn sie mir zuhört, verlegen ob ihrer Sprache, die ihr schlicht und vulgär vorkommt. Aber ich finde, dass in Slatas Sprache viel mehr Leben steckt als in meiner. Mehr Nuancen und Schattierungen. Hier entscheidet die Betonung: Ein und dasselbe Wort kann, unterschiedlich betont, völlig Unterschiedliches...

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