1. Prolog
Hier stehen wir nun, mein Bruder und ich, am späten Nachmittag, tief im Schlamm, blau vor Kälte, und rufen die Kühe, »kommt, kommt, kommt«, während hinter uns plötzlich Kugeln auf das Stalldach prasseln. Instinktiv ducken wir uns und schauen uns um. Zwischen übervollen Wassergräben erstrecken sich vor uns die abgesoffenen Felder und Wiesen bis zum Horizont. Das einzig Ungewöhnliche, das wir hinter dem Zaun sehen, ist ein Bulldozer auf der anderen Seite der Weide.
Die älteren Kühe lassen sich willig zusammentreiben. Sie hören noch auf ihre Rufnamen wie Stampffuß, Spitzhorn oder Weißkopf, und sie kennen die Winterzeit im warmen Stall. Behäbig waten sie durch das Gatter in den Hof, vorbei an dem langen, frischen Mais-Silo, aus dem ein bittersüßer Geruch wie nasser Dampf in die Luft aufsteigt. Mit ihren dicken Hintern schwanken sie wackelnd und vor Zufriedenheit brummelnd in den Stall, geradewegs zum Trog, um Heu zu fressen.
Die sieben jungen Färsen mit den noch glänzenden orangefarbenen Chips in den Ohren lassen sich jedoch nicht einmal mit Stockhieben zu dem Gatter hinübertreiben, durch das sie im September zum ersten Mal, gemeinsam mit dem Zuchtbullen, auf die Weide gekommen waren. Mit den Armen fuchtelnd, scheuchen wir sie auf, rufen und zetern, rutschen aus und werden klatschnass. Im nächsten Moment drehen sie sich um und stürmen an uns vorbei. Laut muhend laufen sie in alle Richtungen davon. Und weil es schon seit unseren Kindertagen ausgemachte Sache ist, dass mein Bruder der Stärkere ist, aber ich der Schnellere bin, fällt es wie immer mir zu, hinter ihnen herzurennen.
Der Wind frischt auf, ich springe über die Grasbüschel am Rand einer Riesenpfütze, verliere mein Gleichgewicht und falle der Länge nach in den Schlamm. Erschöpft betrachte ich eine halbe Minute lang die großen Flächen, grau und schwarz, die sich über mir im Himmel ineinanderschieben. Wie oft wir das schon gemacht haben! Ich fand es immer großartig, gemeinsam mit meinem Bruder die Herde in den Stall zu treiben oder sie hinauszulassen. Dafür bekomme ich alle paar Jahre ein Rinderhinterviertel. Nicht von der besten Kuh, die viel Geld wert ist, sondern von der schlechtesten. Ich habe mir extra eine Kühltruhe gekauft und esse manchmal monatelang Rindfleisch, bis es mir zum Halse raushängt – was umso schneller geschieht, wenn ich die fragliche Kuh gut gekannt habe.
Indem wir den Weidezaun an einer anderen Stelle weit öffnen, gelingt es uns schließlich, die Färsen über einen Umweg zum Hof zu treiben – ein oft erprobtes Ablenkungsmanöver. Mein Bruder streut mit der Gabel Heu aus und lockt das Vieh so in den Stall. Als auch das letzte Tier hineingetrottet ist, schieben wir rasch den Riegel vor. Todmüde lehnen wir uns an die Stallwand, von der die untere Hälfte vom Mist ganz schwarz ist. Wir glänzen vor Schweiß und Dreck.
Auch wenn ich schon seit zwanzig Jahren nicht mehr rauche, drehe ich nun eine Zigarette, gemeinsam mit ihm. Eine dünne, denn er ist sparsam mit seinem Tabak und schaut mir auf die Finger. Wir rauchen und röcheln, ohne ein Wort zu sagen.
Das Vieh ist nun weg von der Weide, und nur der Bulldozer bleibt im Regen zurück, der allmählich in nassen Schnee übergeht. Drinnen zwischen den dampfenden Kuhleibern ist es behaglich. Aber dieses Mal plaudern wir nicht wie früher mit Befriedigung über die ganze Aktion, wärmen nicht endlos auf, wie heikel es gewesen ist und wie wild sie waren und wie viel Glück wir hatten, dass wir die Tiere wieder in den Stall bekommen haben, nein.
»Das mit der Landwirtschaft geht zu Ende«, sagt mein Bruder zum x-ten Mal mit einem Gesichtsausdruck zwischen Schrecken und Groll. »Sie wollen uns weghaben.«
»Noch lange nicht«, sage ich.
Wir schweigen wieder und blicken uns im Stall um, in dem sich an den verbogenen Rohren und rostigen Tränken der Verfall immer deutlicher zeigt. Die Kühe haben sich schon hingelegt, dicht beieinander, den schweren Kopf auf dem Bauch der nächsten Kuh. Sie sehen uns mit glänzenden Augen an. Ihr Atem steigt in Dampfwolken auf. Die jungen Färsen sind noch unruhig. Manchmal halten sie die Krätze nicht mehr aus und scheuern sich an den Wänden. Manchmal krümmen sie den Rücken und heben den Schwanz in die Höhe, um plätschernd zu pinkeln und zu scheißen. Es spritzt in unsere Gesichter.
»Brave Tiere«, sage ich verkrampft, um ihn einzuwickeln. »Ein schöner, in sich geschlossener und gesunder Betrieb für die Mutterkuhhaltung. Was will ein Bauer mehr?«
»Sie haben die Scheißerei«, sagt er, »und der Bauernhof läuft nicht mehr.«
Der Betrieb braucht eine neue Umweltgenehmigung, und mein Bruder fürchtet, dass der alte offene Misthaufen zum Problem wird, dass sie sagen werden, die Jauche sickere in den Boden, der Misthaufen sei nicht abgedeckt, die Nachbarn stören sich an dem Gestank. Und wie es mit der Ammoniakemission und der Stickstoffdeposition stehe?
Ich gehe hinaus zum Pinkeln. Nichts ist so entspannend, wie gegen einen Baum oder Strauch zu pinkeln, Eichel im Wind, eins mit der Natur, frei wie ein Vogel. »Die Blumen gehen davon kaputt, ihr Rotznasen«, rief Ma früher. Aber wir Rotznasen mit unseren pickligen Gesichtern taten es, um unser Territorium abzustecken, beim nächsten Mal wieder. Ich war vier, fünf Jahre alt, als mein Bruder mir grinsend vorschlug, auf den Weidedraht zu pinkeln. Ein klassisches, albernes Spiel unter Bauernkindern, das wusste ich wohl. Ein Stromstoß fuhr durch meinen Penis, als hätte der Blitz eingeschlagen.
Jetzt sitzt mein Bruder auf der niedrigen Mauer neben dem alten Schweinestall, seinem Lieblingsplatz, von dem man die Kühe sehen kann, sowohl im offenen Laufstall als auch auf der Weide hinter dem Obstgarten. So hat er im Auge, ob sie brünstig sind oder trächtig oder kurz vorm Kalben. Ich setze mich neben ihn. Zusammen betrachten wir die Tiere. Wie wir da so sitzen, übermannt mich wieder die Wehmut, die manchmal an mir klebt. Ein Gefühl, das viel mehr umfasst als nur Familie, es geht um den Hof und die Felder und die kleinen Wasserläufe, es geht um das Leben, das mit dem Land und der Luft zusammenhängt, es geht um all das Alte und Vertraute, das hier immer schon gewesen ist.
Ich überlege, wie schön es doch ist, mit so großen, gutmütigen Tieren zusammenzuleben, wie man es hier seit Menschengedenken macht, und ich frage mich, ob irgendwann, wenn alle Vegetarier sind, Fleisch im Labor gezüchtet wird oder der letzte Bauer ausgestorben ist, der Tag kommen wird, an dem wir uns nicht mehr vorstellen können, jemals tausend Kilo schwere Kühe als Haustiere gehabt zu haben. Und ob wir das bedauern würden.
Hinter uns im Gebüsch ertönt der heisere Ruf eines Fasans. Ein Vogelschwarm zieht über uns hinweg, sind es Kiebitze? Nein, Tauben.
Wieder fallen Schüsse. Ich springe auf und höre eine Ladung kleiner Schrotkugeln auf dem Wellblech aufschlagen. Ein scharfes, prasselndes Geräusch, als würde ein Eimer Murmeln über das Dach gekippt. Links und rechts fallen angeschossene Tauben vom Himmel, manche gurren noch, andere in Fetzen, durch einen kräftigen Kugelhagel am Flug gehindert.
Natürlich, es ist der Jäger, dieser komische Kauz. Vom Erlenhain aus schießt er auf Ringeltauben. Bekämpft er sie nicht, kann er für den Schaden, den sie anrichten, persönlich zur Rechenschaft gezogen werden. Ma hat ihn früher ein paarmal angerufen, wenn die Tauben im Gebälk des Kuhstalls ihre Nester gebaut und sich wie Ratten vermehrt haben. Sie scheißen alles voll, sogar die Kühe. Die zuvor braunen Gitter und Gatter sind dann weiß vor Taubendreck.
»Es ist eine Schande«, murre ich. »Ein Blutbad.«
Mit großen Schritten geht mein Bruder in das Haus, in dem er schon – bis auf das eine Jahr Militärdienst – sein ganzes Leben wohnt, das aber mit einem Mal anders aussieht und sich anders anfühlt. Jetzt herrscht hier ein Durcheinander. Krimskrams auf dem Tisch, schimmelige Teller im Spülbecken, Spinnweben vor den Fensterscheiben. Denn Ma, die immer für ihn gesorgt hat, liegt nun, festgeschnallt an ein Krankenhausbett, zwischen summenden und brummenden Apparaten. Ma war immer da, um zu reden, über das Wetter und das Vieh, über die Ernte und alle anderen Bauernfragen. Tatsache ist, dass er nun zum ersten Mal in seinem Leben allein ist. Und allein sein ist nichts für ihn, und noch weniger für Ma. Für mich schon, ich bin gut im Alleinsein. Aber er klagt nicht, er hat noch genug Tabak, und die Kühltruhe ist voll.
Regen und Wind peitschen um das alte Bauernhaus, die Dachrinnen klappern, die triefenden Sparren vor dem Fenster wanken und knarzen. Mein Bruder klopft mit dem Fingerknöchel gegen das Barometer, so wie Pa es früher getan hat. Die Nadel springt auf »schlechtes Wetter«. Auch der Wetterbericht im Radio sagt für die kommenden Tage viel Schnee und strengen Frost voraus. Dann könnten die Tränken der Kühe zufrieren, und er muss den Tieren tagelang Wasser mit dem Eimer geben. Es wird ein scheußlicher Winter.
»Eine normale Jahreszeit gibt es nicht mehr«, sagt er.
»Der Wettermann kann sich irren«, beschwichtige ich.
Wir sitzen am Ofen, wie eh und je, mein Bruder halb versunken in seinem schwarzen Ledersofa, eine Hand unterm Kinn, Rauch umhüllt den Kopf. Er tut mir leid.
»Ma ist kaputt«, sagt er. »Das wird nicht mehr. Die kommt nicht mehr wieder.«
»Das wissen wir doch nicht.«
Er drückt seine Zigarette aus und dreht sich sofort die nächste. Dann sagt er etwas, das sich eigentlich nicht bestreiten lässt. »Dies ist ein Familienbetrieb.«
Aber ich bestreite es doch. »Komm schon, das ist dein Hof. Schon seit Jahren.«
»Das ist unser Hof«, sagt er mit Nachdruck, als hätte er es vorher...