Das Wiedersehen
Wer von Berlin die Bundesstraße 1 Richtung Osten reist, gelangt über Müncheberg nach Seelow, einst Verwaltungsstadt des ehemaligen Landkreises Lebus. Steht man auf der Dünenerhebung, die sich Seelower Höhen nennt, kann man den Wanderweg südwärts über Dolgeliner, Libbenicher und Mallnower Höhen fortsetzen. Das möglichst im April, wenn die berühmte Adonisblüte die Grashänge in einen grünen mit goldgelben Sternen besäten Königsmantel verwandelt hat. Oderwärts blickt man auf eine Erhebung gegenüber – den Reitweiner Sporn. Was sich zwischen ihm und dem erwanderten Höhenzug wie eine Wanne etwa zwölf Kilometer breit und 20 Kilometer lang ausdehnt, ist Ackerboden, gesegnet mit einer Güte, von der ein Landmann nur träumen kann.
Um sechs Dörfer ziehe ich eine Luftlinie. Sie ergibt ein flaches Trapez, dessen Längsseiten nach Süden und nach Norden je ein Dreieck aufgesetzt ist. Die Punkte Sachsendorf – Werder – Hathenow – Rathstock – Tucheband – Hackenow ergeben ein Sechseck. Von der Familie, die drei Generationen lang an diesen Orten auf gut 10 000 Morgen Kulturland maßgeblich wirksam war, soll in diesem Buch die Rede sein. Dabei geht es dem Verfasser nicht darum, dieser ein Denkmal zu setzen – ihr Name wird auch ohne die vorgesehene Berichterstattung mit der Geschichte dieses Landstrichs eng verwoben bleiben. Viel eher geht es darum, dem tapferen Menschenschlag dieser Region ein dankbares Zeugnis auszustellen, von seiner Tüchtigkeit, seiner Zähigkeit, seiner Friedsamkeit; von Opfermut und Leidensfähigkeit so vieler Heimgesuchter in Zeiten schicksalhafter Umstürze und Not. Wie viele Beispiele menschlichen Zusammenhalts, menschlicher Bewährung, der Hilfsbereitschaft, des biederen Anstands, so schwer dies dem Einzelnen auch oft gemacht wurde, lassen sich beschreiben!
Gelingt es dem Buch, davon etwas der Vergessenheit zu entreißen, den Bewohnern dieser stillen Region ein Quäntchen Stolz auf ihre Heimatgeschichte zu vermitteln, dürfte sich die Mühe des Zusammentragens und Darstellens schon gelohnt haben. Wir müssen uns unserer Vergangenheit nicht schämen, wir sollten sie vielmehr würdigen lernen; denn nur so können wir uns ihrer wert erweisen.
Ein sich schlängelnder Hohlweg
Blenden wir zunächst zurück in das Jahr 1989. Sommerferien. Ich reise mit meiner Bonner Familie bei Herleshausen über die innerdeutsche Grenze in Richtung meines Heimatorts Sachsendorf. Seit 44 Jahren, so lange war die Flucht her, hatte ich es nicht wieder gesehen. Man könnte mich mit Recht fragen: Warum nicht früher? Lag dir so wenig an der alten Heimat, dass du den Weg zu ihr so spät fandest? Ganz im Gegenteil. Ich war zwar gerade erst sechs geworden, als es galt, von Sachsendorf Abschied zu nehmen, aber ich hatte mir eine lebhafte Erinnerung bewahrt. Ja, hätte ich es völlig unversehrt wiedersehen dürfen, ich hätte mich in Haus, Hof, Park, ja auch im Dorf – ich war ja noch im Spätsommer 1944 in die Schule gekommen – jederzeit zurecht gefunden, hätte auch den Weg zum Vorwerk Werder einschlagen können.
Meine Eltern trugen schwer an dem Verlust der Heimat. Sie bauten sich im Rheinland eine neue Existenz auf, schlossen sich aber nirgends an. Kam Besuch, waren es ausnahmslos Verwandte, alte Freunde, ehemalige Nachbarn. Halbwüchsige fliehen gewöhnlich solche Kaffeerunden, um lieber draußen unter ihresgleichen zu sein. Anders in meinem Fall. Ich saß mit Vorliebe dabei, spitzte die Ohren, wenn die Alten in Sachsendorfer, Rathstocker, Tuchebander Erinnerungen schwelgten. Was hätte ich drum gegeben, das alles wiederzusehen! Mehr als einmal startete ich den Versuch, nach drüben zu reisen, aber der Briefverkehr mit Bewohnern der DDR, die einen ja einladen mussten, wenn man um einen Aufenthalt nachsuchen wollte, scheiterte regelmäßig: Entweder die Mitteilung der Angeschriebenen »Kommt, Ihr seid willkommen!« oder meine Antwort »Danke! Wir treffen dann und dann ein«, ging aus rätselhaften Gründen immer wieder auf dem Postweg verloren.
Erst viel später, nach der Wiedervereinigung, konnte ich mir erklären, was die Ursache gewesen sein mochte. Seit 1968 war ich Deutschlehrer am Gymnasium. Schon früh beunruhigte es mich, dass der Schulbetrieb in Westdeutschland immer mehr zur Spielwiese von Ideologen zu werden drohte. Erziehung und Bildungsstand, einst in der ganzen Welt bewundert, liefen Gefahr, großen Schaden zu nehmen. In diversen Zeitungsbeiträgen versuchte ich, gegen diese Entwicklung Sturm zu laufen. Sie erschienen überwiegend in der Welt, einer Zeitung des Hauses Springer also. Dieses war nicht nur den Machthabern in Ostberlin ein rotes Tuch, es wurde auch hierzulande von linksintellektuellen Kreisen angefeindet. Die Jahre, die ich im Bonner Raum unterrichtete, bekam ich das am eigenen Leib zu spüren. Ich fühlte mich in meiner Berufsausübung gemobbt, sah mich laut verunglimpft, gar als Neonazi verdächtigt. Nach der Wiedervereinigung hörte der Spuk schlagartig auf.
Erst zehn Jahre später erfuhr ich, warum. In Hubertus Knabes Untersuchung Die unterwanderte Republik konnte ich nachlesen, dass sich ein Vater aus der Elternschaft meiner Klasse im Jahr 1966 für die Staatssicherheit der DDR verpflichtet hatte.[1]
Zurück zu meinem ersten Heimatbesuch Ende Juni 1989. Wir fuhren mit unserem Diesel aus Richtung Berlin über Müncheberg und Seelow, nicht ohne Zwischenstopp, um einen Blick auf den Ort Jahnsfelde zu werfen. Hier waren Jahrhunderte lang die berühmten Pfuels zu Hause gewesen. Einer von ihnen, ein Freund des Dichters Heinrich von Kleist, hatte es zum preußischen Ministerpräsidenten gebracht.[2] Der 1945 enteignete letzte Besitzer Curt Christoph von Pfuel wohnte bis zu seinem Tod in unserem Bonner Haus zur Miete.
In Dolgelin bogen wir ab in die Straße nach Sachsendorf. Diese letzte Strecke fuhr ich im Schritttempo, würde sie auch für alle Zukunft im Schritttempo fahren, wann immer mich der Weg in mein Heimatdorf zurückführen sollte. Dieser sich schlängelnde Hohlweg durch die Dolgeliner Berge, über den alten Bahndamm, bis schließlich in der sich öffnenden Ebene links und rechts die Felder meines Vaters sichtbar werden, ist für mich der denkwürdigste, bedeutungsschwerste Weg der Welt. Manchem alten Sachsendorfer mag es ähnlich gehen; denn das war die Straße, auf der sich am 5. Februar 1945 der große Sachsendorfer Treck – 50 Gespanne, 395 Menschen – nach Westen gewälzt hatte, eine blühende Wirtschaft hinter sich lassend.
Was würden die damals Geflüchteten, sofern sie nicht unterwegs den Tod gefunden hatten oder in Gefangenschaft geraten waren, vorfinden, wenn sie hierhin zurückkehrten? Vor der kümmerlichen Kate, die man auf den Grundmauern unseres von den Kommunisten abgerissenen Wohnhauses, wohl zu Bürozwecken, errichtet hatte, sitze ich lange auf einer Bank, von der aus man die Dorfstraße hinunterblicken, aber auch rechter Hand in den Gutshof schauen kann. Aus den in den letzten Kriegstagen völlig niedergebrannten Scheunen und Stallungen sind teils aus den Ziegelresten ein paar niedrige, mausgraue Schuppen erstanden, vor denen ein Halbdutzend LPG-Landmaschinen auf Reparatur warteten. Weit und breit kein Stück Vieh. In den Türen lauernde Menschen. Keiner kommt, mich anzusprechen. Hatte der Pfarrer, bei dem wir übernachteten, also Recht? Gab es gar keine alten Sachsendorfer mehr? Und kannten die nach Kriegsende überwiegend aus Rumänien neu angesiedelten Deutschen die ehemaligen Besitzer nur noch vom Hörensagen?
Wir machen mit der Frau des Sachsendorfer Pfarrers einen Ausflug in die Umgebung. Wir besuchen Lebus, machen Halt am Oderufer. Wo immer wir uns hin begeben, verfolgt uns in gemessenem Abstand ein fremdes Motorrad. Stellen wir uns ans Oderufer, steigt, 50 Meter von uns entfernt, der Motorradfahrer gleichfalls ab, lehnt sich an die parkende Maschine und schaut wie wir nach Polen hinüber. Wir verbringen noch eine Nacht im Pfarrhaus, reisen weiter nach Eisenhüttenstadt, von dort nach Bonn zurück.
Zweiter Heimatbesuch
Ein gutes Jahr später. Deutschland ist wiedervereinigt. Ich erhalte Post von der Sachsendorfer Bürgermeisterin. Sie lädt mich ein, zum 625. Jahresjubiläum des Ortes über den letzten Besitzer von Gut Sachsendorf einen Vortrag zu halten. Erneute Anreise mit Frau und Sohn, Übernachtung wiederum im Pfarrhaus. Doch welcher Unterschied im Vergleich zu meinem ersten Besuch! Kaum trete ich auf die Straße, schon kommen die Leute aus den Häusern. Einige nennen mich beim Vornamen, kennen mich noch aus dem Kindergarten. Sie fragen nach den älteren Geschwistern, auf deren Ponywagen sie gesessen hatten, mit denen sie in die Schule gegangen waren, in der Strohscheune getobt hatten.
Sachsendorf im Oderbruch – Hofeinfahrt mit Gutshaus und Kirche.
Auf der Straße schleicht ein fabrikneuer PKW mit der Aufschrift Märkische Oderzeitung. Ihm entsteigen zwei junge Leute. Ich drücke mich mit meinem Jungen an den Häuserwänden entlang. Vergebens. Die Journalisten haben uns längst entdeckt. Was sie uns fragen, ist freundlich, mitfühlend, ohne Fallen, wie man es von westlichen Reportern gar nicht gewohnt ist.[3] Als sie mich mit meinem Sohn vor der alten Schule fotografieren wollen, kommt eine Frau in Jeans herausgeschossen: »Sie wollen hier fotografieren? Weisen Sie sich erst mal aus!« Eine Sachsendorferin zischelt mir...