Die Deutung von Handschriften beginnt mit der Gewinnung eines ersten Schrifteindrucks. Völlig unvoreingenommen wird die Schrift betrachtet, möglichst unter Ausschaltung jeglicher positiver oder negativer Empfindungen. Es wird empfohlen, eine Schrift mit „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ auf sich wirken zu lassen, wobei auch das Nachfahren der Schreibspur knapp über der Schreibfläche helfen soll, die Gebärden des Schreibers oder der Schreiberin aktiv nachzuerleben.
Die Eindrucksbeschreibung kann sich auf das gesamte Schriftbild beziehen, das spontan, echt, gekünstelt oder stilisiert sein kann. Es empfiehlt sich jedoch, die Eindruckscharaktere bereits bei der Sammlung zu gliedern, um damit auch die Dominanz bzw. die Vernachlässigung des einen oder anderen Bereichs sichtbar werden zu lassen.
Vom ersten Eindruck her lassen sich vier Bildtypen unterscheiden, wobei die folgende Auflistung nur Anregungen geben soll. Der eigenen Einfühlungsgabe sind keine Grenzen gesetzt.
Bewegungsbild: Lebhaft, flink, zögernd, fließend, ausfahrend, gewandt, stockend, strömend, rinnend, forsch, flott, kraftvoll, kraftlos, sprudelnd, gebremst, behände, glatt, sicher, schleichend, schwungvoll, lahm, wischend, reißend, unbekümmert usw.
Strichbild: Farbig, farblos, saftig, trocken, locker, fest, dicht, schwammig, rein, fleckig, granuliert, amorph, vibrierend, tot, elastisch, schlaff, verschmiert, zittrig usw.
Formbild: Bizarr, schlicht, feingliedrig, groß, rund, üppig, mager, aufgeblasen, gedrungen, gekünstelt, natürlich, originell, maniriert, gewachsen, gestaltet, geformt, persönlich, individuell, gekonnt, gepflegt, selbstständig usw.
Raumbild: Weitmaschig, engmaschig, gewebt, gegliedert, ebenmäßig, zerrissen, geordnet, verfilzt, dicht, licht, gespinstartig, durchlöchert, klar, übersichtlich usw.
Am Beispiel der Schrift von Franz Josef Strauß seien die in der Graphologie üblichen Eindruckscharaktere veranschaulicht. Für diese Schrift gilt:
■ Bewegung: Energisch, kraftvoll, eigenwillig, flink, unruhig;
■ Form: Gedrungen, gestaucht, fest, belastbar;
■ Raum: Geordnet, gegliedert, engmaschig, klar, übersichtlich.
Abb. 6: Die Handschrift des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß
Für die Beschreibung des Strichs muss eine Originalschriftprobe vorliegen. Bei der Beobachtung des Bewegungsablaufs in Abb. 6 drängt sich der Vergleich auf: Fahren mit angezogener Handbremse!
In der Graphologie kommen auch Persönlichkeitstypologien zum Einsatz, die als Vorstufen der Individualität betrachtet werden: z. B. die Einstellungs- und Funktionstypen von C. G. Jung, die Temperamentstypen nach Hippokrates, die Einordnung in die Bedürfnishierarchie nach Maslow oder die Zuordnung zu den Lebensformen von Spranger. Im Rahmen dieser Einführung kann nur auf die zuletzt genannte Typologie eingegangen werden, mit der nach Werten als Strebenszielen gefragt wird.
Idealtypisch stellt Spranger 8 sechs Lebensformen vor, die sich auch aus der Handschrift erkennen lassen:
Lebensform | Kulturgebiet | Wertrichtung |
Theoretischer Mensch | Wissenschaft | Erkenntnis, Wahrheit |
Ökonomischer Mensch | Wirtschaft | Nutzen |
Ästhetischer Mensch | Kunst | Wille zur Form, Ausdruck |
Sozialer Mensch | Gemeinschaftsleben | Liebe und Hilfe |
Machtmensch | Politik | Macht und Führung |
Religiöser Mensch | Religion | Sinnerfüllung des Daseins |
Eindruckscharaktere
Abb. 7: Lebensformen nach Spranger
Selbstverständlich werden für die Zuordnung zu dem jeweiligen Typus auch relevante Einzelmerkmale berücksichtigt.
Bei der eindrucksmäßigen Erfassung einer Schrift haben wir uns bereits auf das Form- und Bewegungsbild konzentriert. Es ist nun möglich, dass in einer Schrift entweder die Formgebung oder der Bewegungsfluss dominiert. Die folgenden Abbildungen sollen das Gesagte verdeutlichen:
Abb. 8: Bewegungsbetonung auf Kosten vernachlässigter Formen
Abb. 9: Formbetonung in einer stilisiert und gekünstelt wirkenden Schrift
In der Praxis sind die Übergänge vom einen zum anderen Extrem oft fließend. Entscheidend ist aber, dass es sich hier um übergreifende Sachverhalte handelt, die unabhängig von den Einzelmerkmalen in einer Schrift auftreten, diese aber beeinflussen. Deshalb sprechen die Graphologen Müller und Enskat9 auch von „übergreifenden Befunden“.
Bewegungsbetonung in einer Schrift lässt den Anteil bzw. die Dominanz unbewusster Regungen und Impulse erkennen, die Vorherrschaft spontaner, unmittelbarer Reaktionen. Formbetonung in einer Schrift zeigt den Grad der Bewusstheit eines Schreibers, lässt die Leitbilder und Forderungen des Über-Ich erkennen, seien diese dem Schreiber angemessen oder nicht.
Das Ideal stellt eine rhythmisch wirkende Schrift dar, in der die Schriftform gut von der Bewegung getragen wird, ohne dass eine Formauflösung eintritt.
Auch der von Ludwig Klages10 in die Graphologie eingeführte Begriff des Formniveaus betrifft keine Einzelmerkmale, sondern einen ganzheitlichen Sachverhalt. Es geht dabei um den Eigenartsgrad und die Ursprünglichkeit einer Handschrift. Obwohl der Begriff des Formniveaus in der Fachwelt zum Teil abgelehnt wurde, lässt sich auch heute noch sehr gut damit arbeiten. Erfahrene Graphologen einigen sich in der Regel ohne Probleme auf das jeweilige Formniveau einer Schrift.
Das Formniveau bestimmt sich durch folgende Elemente: Rhythmus (= Bewegungs-, Form-, Raumrhythmus) + Originalität
Unter Raum- oder Verteilungsrhythmus ist das optische Gleichgewicht auf der beschriebenen Seite gemeint. Der Bewegungsrhythmus beinhaltet die Gestörtheit oder Ungestörtheit des Bewegungsflusses, d. h., ausfahrende Bewegungen in zerrissenen Schriften mindern das Formniveau. Der Formrhythmus bezieht sich auf die Ausgewogenheit spontan erzeugter Buchstabenformen.
Jedes Übermaß – wie Verschnörkelungen und Bereicherungen – mindert das Formniveau!
Man kann also sagen, je ausgeprägter der Eigenartsgrad einer Handschrift ist, je mehr die Einzelbuchstaben eine persönliche Note verraten, indem die Formen natürlich, ursprünglich und gewachsen sind, desto positiver und höher ist die Gestaltungshöhe und damit das Formniveau anzusetzen. Das „Gewicht einer Seele“ (le poids de l’âme) drückt sich im Formniveau aus, um einen Ausdruck des französischen Pantomimen Marcel Marceau zu verwenden. Hohes Formniveau wird erkannt an der Stärke des Rhythmus und dem Eigenartsgrad, niederes an der Schwäche des Rhythmus und der Eigenartslosigkeit.
Schriften mit hohem Formniveau wirken lebendig, eigenartig und ursprünglich, Schriften mit niedrigem Formniveau wirken unlebendig, schablonenhaft und banal.
Es lassen sich fünf Stufen des Formniveaus bilden, d. h., man kann eine Bewertung ähnlich dem Schulnotensystem von 1 (hohes Formniveau) bis 5 (niedriges Formniveau) vornehmen.
Abb. 10: Formniveau 1 – die Schrift des Komponisten Werner Egk; etwas unruhiger Rhythmus
Abb. 11: Formniveau 2+ – guter Rhythmus und eigengeprägte Buchstaben
Abb. 12: Formniveau 3 – schulmäßige Formen
Abb. 13: Formniveau 4 – unruhiger Ablauf, gekünstelte Buchstabenformen
Abb. 14: Zwei Schriften mit Formniveau 5: Links: extrem unruhiger Ablauf und Formauflösung; rechts: gestörter Ablauf und Leere im Schriftbild
Weitere Beispiele für die Formniveaueinstufung von Schriften in diesem Buch: FN 1 = Abb. 63, 80; FN 2 = Abb. 78, 79, 87; FN 3 = Abb. 52, 55; FN 4 = Abb. 83, 87.
Über den periodischen Rhythmus einer Handschrift (im Gegensatz zum Takt eines Metronoms) wurden bereits unzählige Bücher geschrieben. Die Autorin Roda Wieser sieht darin sogar einen kosmisch bedingten Sachverhalt. Sie versteht und deutet den Menschen in seiner Eigenschaft als kosmisches Wesen. „Durch die Erscheinungsqualität des polaren Rhythmus sehen, erleben und deuten wir den Menschen menschengerecht und kosmisch wirklichkeitsgemäß.“11
Inwieweit sich die kosmische Potenz des menschlichen Bewusstseins verwirklicht hat, glauben die Graphologen der Durchgeistigung des Rhythmus einer Schrift entnehmen zu können (Abb....